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Raus aus dem Keller
Die kleinen elektrischen Züge drehen noch immer ihre Runden in den Hobbyräumen zahlreicher Haushalte. Nach Jahren der Krise hat sich die Branche wieder erholt. Die Modellbahn ist jedoch nicht mehr das, was sie einmal war.
Märklin oder Carrera? Bis in die frühen 80er Jahre war dies die entscheidende Frage vieler kleiner Jungs beim Aufschreiben des weihnachtlichen Wunschzettels. Doch die Zeiten, als sich strahlende Kinderaugen in der Vorweihnachtszeit an den Schaufenstern der Spielzeugläden, wo kleine Züge unermüdlich kreisten, die Nasen platt drückten, sind vorbei. Die Modelleisenbahn ist aus den Kinderzimmern und den Innenstädten verschwunden.
Das Freizeitverhalten veränderte sich in den letzten drei Jahrzehnten grundlegend. Der schnelle Genuss ist angesagt: auspacken, einstecken, spielen. Die Modellbahn als Hobby ist das Gegenteil, ein Geduldsspiel, nicht geeignet für raschen Konsum. Manches Anlagenprojekt erstreckt sich über Jahrzehnte. Nicht selten geben Anlagenbauer ihr Vorhaben vor der Fertigstellung auf, weil das Augenlicht nicht mehr ausreicht und die Feinmotorik nicht mehr genügt.
Krise seit der Jahrtausendwende
Viele der früher meist familiengeführten Modellbahnunternehmen ignorierten in den 90er Jahren die Zeichen der Zeit, verschliefen den Beginn der Digitalisierung. Eine gesteigerte Nachfrage in den neuen Bundesländern in den ersten Jahren nach der Wende gaukelte Sicherheit vor. Die kleine Eisenbahn rutschte so kurz nach der Jahrtausendwende in eine existenzielle Krise.
Aber die Modellbahn lebt noch. Gerade traf man in Nürnberg wieder die Jungs, die vor Jahrzehnten vor den Schaufenstern standen; sie sind in die Jahre gekommen, haben graue Schläfen, tragen Brillen und Jacketts. Auf der Spielwarenmesse, der noch immer wichtigsten Branchen-Veranstaltung, bewunderten sie wie einst in den Vitrinen von Märklin, Roco und Co. die kommenden Modellbahn-Neuheiten. In den abgelaufenen zwei Dekaden wurde die kleine Eisenbahn ordentlich durchgewirbelt. Drei der wichtigsten Hersteller standen kurz vor dem Aus, und die Spätfolgen sind noch immer erlebbar: Während auf dem Messegelände Optimismus vorherrschte, fand im nahe gelegenen Heilsbronn gleichzeitig eine Versteigerung des Nachlasses der Firma Fleischmann statt. Märklin oder Fleischmann, das war früher eine Gewissensentscheidung unter Modellbahnern. Heute existiert Fleischmann nur mehr als Marke unter dem Dach der Modelleisenbahn GmbH, zu der auch der ebenso leidgeprüfte österreichische Traditionshersteller Roco gehört. Eigentümerin der GmbH ist die Salzburger Raiffeisenbank.
Tausende Märklinisten kommen
Auch das Flaggschiff Märklin, mit einem Ruf, der weit über die Modellbahnszene hinausreicht, durchlebte schwere Jahre und fand glücklicherweise rechtzeitig einen Investor, der nicht nur am Namen interessiert war. Die Talsohle sei durchschritten, ist Märklin-Geschäftsführer Wolfrad Bächle überzeugt, aber er mahnt im gleichen Atemzug zur Vorsicht, der Druck sei immer noch groß. Fehler von einst dürften nicht noch einmal passieren. Immerhin konnte Bächle mit seinen Angestellten vor Kurzem eine Verlängerung der Beschäftigungsgarantie für den Stammsitz in Göppingen aushandeln, und nach Jahren des Sparens erhielten die Mitarbeiter vergangenes Jahr wieder Weihnachtsgeld.
In Göppingen errichtet Märklin gerade ein spektakuläres neues Firmenmuseum, und wenn dort alle zwei Jahre ein Tag der offenen Tür stattfindet, strömen noch immer Tausende Märklinisten aus dem In- und Ausland ins Schwäbische und besichtigen die Produktion ihrer Schätze.
Im Gegensatz zu den meisten Mitbewerbern produziert Märklin noch einen nennenswerten Teil seines Sortiments am Stammsitz, auch wenn die Löhne im Speckgürtel Stuttgarts dies beinahe verbieten. Das ist Märklin seinen noch immer zahlreichen Sammlern schuldig, die Wert auf „Made in Göppingen“ legen.
Die Produktion der kleinen Loks und Wagen ist handarbeitsintensiv. Pro Modell können weit über 100 Teile zusammenkommen, die mühevoll, teils unter der Lupe montiert werden müssen. Die kleinen Dampf- und Dieselloks haben heute nicht mehr viel gemein mit den Modellen, an die sich mancher aus seiner Kindheit erinnert. Vorbildtreue und Maßstäblichkeit sind inzwischen maßgebliche Kriterien. Der Käufer verlangt die korrekte Speichenzahl in den Radsätzen einer Dampflok, und im Schlafwagen im Maßstab 1:87 erkennt man eingerichtete Abteile. Viele der winzigen aufgedruckten Beschriftungen sind erst unter der Lupe zu entziffern. Die Modellbahnindustrie geriet dadurch in ein Dilemma: Die zunehmende Detaillierung erhöhte die Produktionskosten und die Preise im Handel, die Kunden kauften weniger Produkte, die Auflagen wurden kleiner, die Preise stiegen weiter. Preistreibend war auch die Digitalisierung: Dafür klingen die kleinen Lokomotiven heute beinahe wie ihre Vorbilder, quietschen beim Bremsen und besitzen eine Fülle von Lichtfunktionen.
Die Miniaturwelt ist längst digital
Die meisten Hersteller verlagerten deshalb schon vor vielen Jahren ihre aufwendige Produktion nach Osteuropa und vor allem nach China, um die Kosten in den Griff zu bekommen. 300 bis 500 Euro für eine Lokomotive sind selbst bei den bekannte
Markenherstellern dennoch keine Seltenheit. Das Taschengeld eines Zehnjährigen reicht längst nicht mehr. In manch einem Keller einer Doppelhaushälfte kann man den Wert des Hauses nochmals in Form der raumfüllenden Modellbahnanlage oder einer Lokomotivsammlung bewundern.
Inzwischen haben die meisten Hersteller ihre Hausaufgaben gemacht, passten sich einem geschrumpften Markt an, und erstmals seit vielen Jahren wurde der stetige Ausstellerrückgang der letzten Jahre in Nürnberg nicht mehr als Krisensymptom gedeutet. Die Anwesenheit auf der Messe ist im Grunde nur mehr für die großen Marken wie Märklin obligatorisch, die dort ihre Kunden aus aller Welt treffen. Der Modellbahnhändler, der längst von der teuren Innenstadtlage ins Industriegebiet am Ortsrand zog, ordert seine Ware nicht mehr ausschließlich auf der Spielwarenmesse. Er bestellt dank Internet übers Jahr verteilt, falls die Kunden noch zu ihm kommen und nicht online shoppen. Händler, die sich dem Markt anpassten, haben inzwischen gute Chancen zu überleben, da zahlreiche Modellbahner Traditionalisten sind. Eine Lokomotive wird nicht entsorgt, sondern zur Reparatur gebracht, und viele, die ein Modell kaufen wollen, sehen es sich zuvor an und machen im Laden eine Probefahrt.
Das lange Zeit angestaubte Image der Modellbahn, als viele Modellbahner lieber verschwiegen, dass sie ihre Freizeit im Keller in einer 1:87-Welt verbringen, ändert sich. Die kleinen Lok-Kunstwerke werden in Design-Vitrinen prominent in den eigenen vier Wänden präsentiert, schließlich erreicht der Preis manch eines Kleinserienmodells spielend den Wert einer Rolex.
Das Miniaturwunderland trug ebenso zum Stimmungsumschwung bei. Der Hamburger Besuchermagnet, der übers Jahr mehr Touristen anlockt als das Schloss Neuschwanstein, zeigt Außenstehenden, welch vielseitiges und anspruchsvolles Hobby die Modellbahn sein kann: Das Arbeiten mit Holz, Kunststoff und vielen anderen Materialien gehört ebenso dazu wie die Beschäftigung mit elektrischen Schaltkreisen. Neuerdings, seitdem die Modellbahn immer digitaler wird, sind Computergrundkenntnisse hilfreich. Tablet und Handy zogen längst im Hobbykeller ein.
Es bleibt das Nachwuchsproblem. Jugendliche begegnen der Modellbahn nicht mehr. Einige Hersteller versuchen mit einfacheren Modellen, die weniger empfindlich und günstiger sind, die Jugend zu erreichen, aber es fehlt die öffentliche Präsenz. Fernseh- und Radiospots kann sich in diesem mittelständischen Milieu keiner leisten, aber einige erkannten inzwischen die Möglichkeiten der sozialen Medien und nutzen sie intensiv.
Hoffnung auf bessere Zeiten
Der seit Jahrzehnten anhaltend schlechte Ruf der großen Bahn bot der Modellbahn keinen Ort, in dem sie sich sonnen konnte. Lokführer ist schon lange kein Traumberuf mehr. Aber es besteht Grund zur Hoffnung. Derzeit gilt die Schiene als Klimaretter, als bedeutendes Verkehrsmittel zur Eindämmung der Treibhausgase. Wer den Zug nutzt, muss sich nicht mehr erklären. Schlafwagen statt Flieger, lautet die Devise. Sollte die Bahn in den kommenden Jahren wieder ein besseres Ansehen genießen, könnte das auch auf die kleine Modellbahn ausstrahlen. Darin waren sich in Nürnberg alle einig.
Stefan Alkofer ist Chefredakteur der Fachzeitschrift Modelleisenbahner. 2017 erschien im Transpress Verlag sein Buch Deutsche Dieselloks seit 1929, 128 Seiten, 12 Euro.