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Schokolade, Butt und raue See

Titelthema - Schokolade, Butt und raue See
Diesen 240-Kilo-Heilbutt konnte Angel-Guide Kristian Keskitalo ein Jahr vor dem Besuch Rainer Korns vor Værøy ins Boot holen. © Kristian Keskitalo

Er ist der größte Plattfisch der Welt – und der begehrteste: der Weiße Heilbutt. Angler nehmen große Mühen auf sich, um sich mit dem Nordmeer-König zu messen.

Rainer Korn01.08.2020

Steil ragt die gewaltige Felswand der kleinen Fischerinsel Værøy in den wolkenverhangenen Himmel. Ich befinde mich mit meinem Angelfreund Michael auf einem sechs Meter langen offenen Boot mit Außenborder. Es ist Anfang Mai und noch kühl hier oben, nördlich des Polarkreises, an der äußersten Südspitze der berühmten Inselgruppe der Lofoten. Værøy liegt weit draußen im Nordmeer auf dem unterseeischen Felsrücken der Lofoten – ragt aus den Fluten empor wie ein Stecknadelkopf. Auch heute noch sind es in der Hauptsache Fischer, die dieses Eiland bewohnen. Die vielen Trockengestelle für Stockfisch, an der kalten, trocknen Luft getrockneter Dorsch, stehen zahlreich an der Küste und zeugen vom Fischreichtum dieser Region. Berühmt-berüchtigt gemacht hat die Insel allerdings eine Frau: Jeannette Johannson. Sie baute 2011 eine Schokoladen-Manufaktur im alten Flughafengebäude der Insel auf. Ihre Spezialitäten waren erotische Schoko-Artikel, die bald weltweit von Værøy aus vertrieben wurden. Später brannte die Manufaktur aus – und auch „Lofoten Sjokolade“ ist heute leider Geschichte.

Der Traum vom Butt

Wir sind allerdings nicht wegen Schokolade hier, sondern uns lockt der König des Nordmeeres, der Weiße Heilbutt. Der Mega-Flachmann kann über vier Meter lang werden und erreicht dabei Gewichte von mehr als 300 Kilo. Doch auch wenn Angler und Fischer bereits Butte von über 250 Kilo anlanden konnten – so sind es doch meist deutlich kleinere Exemplare, die den Petrijüngern an die Haken gehen. Ein Fisch von 50 Kilo gilt unter Anglern als Kapital – 100 Pfund ist eine magische Marke unter Meeresanglern. Oft werden Heilbutte zwischen fünf und 30 Kilo gefangen – im Übrigen auch die besten Fische für die Pfanne. Egal wie groß: Heilbutte sind brachiale Kämpfer an der Angel, die nie aufgeben. Im Drill zerbrochene Ruten, gerissene Schnüre und sogar schwere Verletzungen beim Versuch, einen kapitalen Heilbutt ins Boot zu bekommen, sind nicht selten. Angler erzählen ehrfürchtig von ihren Begegnungen mit großen Butten, und wirklich jeder, der im Nordmeer angelt, wünscht sich einmal den Kontakt mit dieser Urkraft des Meeres. Nebenbei bemerkt ist Weißer Heilbutt eine echte Delikatesse und wird kommerziell sehr teuer gehandelt. Das, was wir an der Fischtheke geräuchert bekommen, ist in der Regel Schwarzer Heilbutt. Er ist viel kleinwüchsiger und sein Fleisch fetter und nicht so fein wie das seines weißen Bruders. Die Unterseite des Weißen Heilbuttes ist strahlend weiß, daher der Name. Beim Schwarzen Heilbutt ist die sogenannte Blindseite eher schmutzig-grau.

In Norwegen geht es Anglern fast ausschließlich um den Weißen Heilbutt. Für ihn sind wir den langen Weg bis nach Værøy gekommen. Die Insel gilt unter Experten als besonders gut, um im flacheren Wasser bis 30 Meter einen wirklich kapitalen Fisch ans Band zu bekommen. Die Bedingungen, die wir vorfinden, sind allerdings alles andere als gut. Von Südwesten peitschen starke Böen die Wellenkämme auf, lassen ihr Weiß wie Zähne blecken. Kein Wunder, der Winter ist jetzt Anfang Mai noch nicht ganz aus den Felsen und Wassern getrieben – bis weit in den Juni hinein muss man hier mit Schneestürmen und Kälteeinbrüchen rechnen. Einen Tag aalst du dich bei 25 Grad im T-Shirt in der Sonne, am nächsten Tag kannst du deine Winterklamotten nicht fest genug um deinen Körper schließen.

Kampf mit einem Koloss

Wir sind jetzt mittendrin im echten nord-norwegischen Mistwetter. Morgens beim Frühstück in dem einfachen, kleinen Hotel hatte uns der Koch noch selbst gesammelte Möweneier serviert – 17 Minuten gekocht, um alle Keime abzutöten – Mahlzeit! Dann haben wir unsere Ausrüstung ins Boot gepackt und sind raus aufs Nordmeer. Ich bin noch nie vorher bei sieben bis acht Beaufort Wind aufs Meer gefahren – aber bei dieser Windrichtung aus Südwest lässt sich sogar bei diesem garstigen Wind im Windschatten des steilen Berges angeln. Und zwar in einem sehr buttverdächtigen Revier: ein riesiges Flachwassergebiet mit Tiefen um zehn Meter.

Warum kommen die großen Butte ausgerechnet hierher zum Fressen? Diese Frage hat mir einer der Fischer beantwortet: Dort im Flachen, wo besonders viele Seetangfelder sich mit sandigen Stellen abwechseln, laichen bevorzugt Seehasen. Seehasen sind eher plumpe Fische, die mit ihren Stummelflossen nicht wirklich in der Lage sind, einem schnellen und wendigen Raubfisch zu entkommen. Zudem verteidigen sie ihre Laich-Gelege – versuchen also meist gar nicht erst zu flüchten. Zusätzlich besitzen sie fetthaltiges Fleisch: Perfekt für den Heilbutt, sich nach der kargen Winterzeit und dem eigenen Laichgeschäft mal wieder richtig den Bauch vollzuschlagen. Deswegen: Wenn du große Heilbutte von April bis Juni fangen willst, musst du herausfinden, wo die Seehasen ihre Laichgebiete haben.

Die Böen peitschen übers Wasser, aber durch den Bergschutz entstehen keine großen Wellen. Dort, wo dieser Schutz im Westen endet, bilden sich im Minutentakt gewaltige Wasserhosen, die Meerwasser zig Meter in die Luft saugen. Vorher habe ich auf See ein solches Schauspiel noch nie erlebt: Hier bildet sich die reinste Wasserhosen-Autobahn. Zum Glück bleiben die nicht ungefährlichen Wirbelwinde weit entfernt auf einer Linie. Plötzlich hängt mein Köder, ein künstlicher Fisch aus Gummi, am Grund fest. Mist! Doch dann läuft die Schnur von der Rolle. Ich spüre gewaltige Kopfschläge. Adrenalin pumpt durch meine Adern. Ein Heilbutt. Ein kapitaler Fisch hat meinen Köder geschnappt! Michael sieht sofort, was los ist, holt schnell seine Angel ein, damit wir uns nicht verheddern, was unweigerlich zum Fischverlust führen kann. Der Fisch zieht wie eine Diesellok davon. Gar nicht mal besonders schnell, einfach nur stetig und mit unbändiger Kraft. Unser schwedischer Angel-Guide Kristian auf dem zweiten Boot hat gesehen, dass ich mich im Kampfmodus befinde. Er kommt näher, beobachtet das Treiben ein paar Minuten.

„That’s a big one! Over 100 Kilo!“ Kristian muss es wissen, er hat das Jahr zuvor am selben Platz eine Mega-Tischplatte von über 200 Kilo an Bord gebracht. Ich stemme mich gegen den Fisch, meine Arme beginnen nach einer Viertelstunde zu schmerzen. Der Fisch macht, was er will. Zieht einfach immer weiter. Ach du meine Güte, was für ein Riese, schwirrt es durch meinen Kopf. Der Butt zieht eine Dreiviertelstunde das sechs Meter lange Boot hinter sich her. „Over 200 Kilo!“, korrigiert sich Kristian. Na toll! Dann plötzlich hängt die Schnur fest. Nichts bewegt sich mehr. Es gibt einen Ruck und alles wird ganz plötzlich ganz leicht. Ich kurbele meinen Köder ein – ohne Fisch. Dafür hängt eine große Laminarie, ein Tangpflanze, an dem einen Haken. Der Fisch muss durch den Tangwald geschwommen sein. Dabei hatte sich einer der beiden Haken wohl im Tang verheddert. Wie ein Katapult hatte es den anderen Haken aus dem Fischmaul gehebelt. Vermutlich hat der Butt nicht einmal gemerkt, dass er an irgendwas gehangen hat und ist einfach immer weitergeschwommen. Ich merke das allerdings noch Tage später. Meine Arme schmerzen so stark, dass ich Probleme habe, weiter zu angeln. Ich fühle mich wie Hemingways Held in „Der alte Mann und das Meer“ – ich hatte den Traum eines jeden Anglers fast eine Stunde am

Band, dann blieb mir nichts mehr als ein verwackeltes Handybild, das Kristian von mir vom anderen Boot aus geschossen hat, das zeigt, wie ich mich mit gekrümmter Rute verzweifelt gegen den Zug stemmte. Vergessen werde ich dieses Erlebnis niemals. Manchmal bleiben die verlorenen Fische für immer in deinen Gedanken – vielleicht sogar mehr als die gefangenen. Diesen Abend sprechen wir noch oft darüber, ob wir irgendwas hätten anders machen können. Aber damit muss ich mich abfinden: Weg ist weg.


Buchtipp

 

 

Rainer Korn, Sebastian Rose

Meeresangeln in Norwegen: Der ultimative Ratgeber,

Müller Rüschlikon, 2017, 256 Seiten,

29,90 Euro

paul-pietsch-verlage.de

Rainer Korn

Rainer Korn gehört zu den besten Meeresanglern Deutschlands. 1996 entwickelte der Norwegenfan das erfolgreiche Meeresangel-Magazin KUTTER & KÜSTE, das er bis heute als Chefredakteur leitet.

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