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Sehnsucht nach der jüdischen Heimat

Titelthema - Sehnsucht nach der jüdischen Heimat
Visionär: Blick über den Rhein: Theodor Herzl auf der Terrasse des Hotels Drei Könige im Jahr 1897 in Basel, in dem er während des ersten Zionistenkongresses wohnte © akg-images/keystone/str

Theodor Herzl war Gründervater des Zionismus und Vordenker des Judenstaats. Aber wer war er? Ein Liberaler, ein Demokrat oder ein religiöser Nationalist?

Derek J. Penslar01.05.2023

Während Israel sein 75-jähriges Bestehen feiert, befindet es sich in der schwersten politischen Krise seiner Geschichte. Die Regierung hat eine Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen, die die Zuständigkeit und Unabhängigkeit der Justiz beschneiden und es einer knappen Mehrheit des Parlaments ermöglichen würden, die grundlegendsten Gesetze des Landes abzuschaffen. Die Regierung will auch die Rolle des orthodoxen Judentums in den Schulen und im öffentlichen Leben des Landes stärken.

Seit über drei Monaten gehen Hunderttausende israelische Bürger auf die Straße, um gegen diese Maßnahmen zu protestieren. Die Demonstranten schwenken israelische Flaggen und tragen Schilder, auf denen sie sich für die Demokratie aussprechen. Sie zeigen auch Bilder des Gründervaters des Zionismus, Theodor Herzl, mit einer Träne im Auge. Aber auch Mitglieder und Anhänger der Regierung nehmen Herzl für sich in Anspruch. Der Minister für das Kulturerbe des Landes, Amihai Elijahu, berief sich kürzlich auf Herzl, um zu rechtfertigen, dass er „diejenigen, die fast völlig von unserem Volk getrennt sind, mit unserem Vorvater Abraham verbindet“. Eine in Jerusalem ansässige, rechtsorientierte und dem israelisch-jüdischen Nationalismus gewidmete Denkfabrik, nennt sich Herzl-Institut.

Phänotyp: Prophet

Schon zu seinen Lebzeiten und erst recht nach seinem Tod wurde Herzl zu einem verbindenden Symbol der zionistischen Bewegung. Herzl hat die Bewegung nicht erfunden, aber sein Pamphlet von 1896, Der Judenstaat, bot eine überzeugende Analyse des Antisemitismus und eine Rechtfertigung für die Schaffung einer jüdischen Heimstätte, die Hunderttausende Juden in aller Welt erreichte. 1897 gründete Herzl die Zionistische Organisation und berief den ersten internationalen Zionistenkongress. In den wenigen verbleibenden Jahren seines allzu kurzen Lebens (er starb 1904 im Alter von 44 Jahren) leitete Herzl fünf weitere Kongresse, gründete eine zionistische Bank und eine Zeitung und reiste durch die ganze Welt, um Unterstützung für ein jüdisches Heimatland zu finden.

Herzl war ein talentierter Organisator und ein geschickter Schriftsteller und Redner. Sein Charisma ging jedoch über diese Eigenschaften hinaus. Herzls Gesichtszüge – insbesondere seine dunklen, tiefliegen den Augen und sein üppiger Bart – und sein edles Auftreten veranlassten Juden und Christen gleichermaßen, in ihm einen biblischen König oder Propheten der Neuzeit zu sehen. Nach Herzls frühem Tod wurde sein hypnotisierendes Bild zusammen mit ausgewählten Zitaten aus seinen inspirierenden zionistischen Schriften zum wichtigsten Symbol des Zionismus, selbst als die tägliche Arbeit des jüdischen Staatsaufbaus von Leuten wie Chaim Weizmann in London und David Ben-Gurion in Palästina erledigt wurde.

Plötzlich war Herzl überall

Nach der Gründung Israels im Jahr 1948 hingen Fotos von Herzl in den Regierungsbüros und Schulen des Landes. Ein Hügel im Westen Jerusalems erhielt den Namen Berg Herzl und wurde zum Schauplatz der jährlichen Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag des Landes, zu einem Soldatenfriedhof und zur letzten Ruhestätte für viele führende Persönlichkeiten Israels und der zionistischen Bewegung, einschließlich Herzl selbst. Für Generationen von Israelis ist Herzl eine verehrte Figur, vergleichbar mit George Washington und Abraham Lincoln in den Vereinigten Staaten. Es überrascht nicht, dass sich die Israelis auf ihre Gründerfigur berufen, um ihre politischen Anliegen zu rechtfertigen.

Herzls eigene Lebensgeschichte erklärt auch die Leichtigkeit, mit der er in die verschiedenen Strömungen des israelischen kollektiven Gedächtnisses integriert wurde. Er wuchs in einem wohlhabenden jüdischen Elternhaus in Budapest und Wien auf, genoss eine jüdische Grundbildung und besuchte gelegentlich mit seinem Vater die Synagoge, war aber die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens nicht religiös und feierte Weihnachten. Im Jahr 1891 ließ Herzl seinen neugeborenen Sohn Hans nicht beschneiden. Obwohl ihn der Antisemitismus zutiefst beunruhigte, bestand sein erster Plan zur Lösung der sogenannten „Judenfrage“ darin, im Wiener Stephansdom eine Massenkonvertierung von Juden zum Katholizismus vorzunehmen.

Kein religiöser Nationalist

Herzls Distanz zum traditionellen jüdischen Leben machte seine Hinwendung zum Zionismus im Jahr 1895 in den Augen vieler osteuropäischer Juden umso bemerkenswerter. Sie sahen in ihm einen zweiten Moses, der als Prinz in Ägypten aufgewachsen, aber zu seinem Volk zurückgekehrt war. Im August 1897, am Schabbat vor Beginn des ersten Zionistenkongresses in Basel, hatte Herzl Schwierigkeiten, den hebräischen Segensspruch über die Thora in der Sy na go ge zu rezitieren, aber sowohl er als auch die Anwesenden waren von diesem Ereignis zutiefst bewegt. Seit diesem Moment wird Herzl von Juden aus dem gesamten Spektrum vom Säkularismus bis zur strengen Orthodoxie verehrt.

Tatsächlich war Herzl dem säkularen Ende der Skala weitaus näher. Er hatte spirituelle Gefühle, aber sie waren universalistisch. Herzl respektierte die Rolle, die Rabbiner auf der Suche nach Unterstützung für den Zionismus spielen konnten, aber er bestand darauf: Im jüdischen Staat „werden [wir] sie in ihren Tempeln festzuhalten wissen, wie wir unser Berufsheer in den Kasernen festhalten werden“. Darüber hinaus beschreibt Herzl in seinem Roman Altneuland (1902) eine harmonische „Neue Gesellschaft“ in Palästi na in 20 Jahren, in der absolute Gleichheit zwischen Juden und Nichtjuden herrscht. Eine der liebenswürdigsten Figuren des Romans ist ein Araber, Rashid Bey, während der Bösewicht des Romans, Rabbi Geyer, den Nichtjuden die Bürgerrechte verweigern will. Offensichtlich war Herzl kein religiöser Nationalist.

Sicher aufseiten der Protestler

Der andere aktuelle Streitpunkt über Herzl ist die Frage, ob er ein Liberaler und ein Demokrat war. Herzl war in der Tat ein Liberaler, was seinen Respekt vor den Menschenrechten, den Rechten von Minderheiten, seine Skepsis gegenüber der Politisierung der Religion und seinen Glauben an die Rechtsstaatlichkeit angeht. Aber Herzl war misstrauisch gegenüber einer unkontrollierten Demokratie, die er – wie eine lange Reihe politischer Philosophen im Laufe der Geschichte – als potenziell zur Pöbelherrschaft ausartend ansah. In Der Judenstaat stellte er sich eine „aristokratische Republik“ vor; in Altneuland wird die Neue Gesellschaft von einer meritokratischen Elite regiert. Die Zionistische Organisation selbst wurde demokratisch gewählt (mit dem Frauenwahlrecht bereits 1898, lange bevor die meisten Länder es einführten). Ihre Fraktionen vertraten die Interessen antagonistischer Gruppen wie orthodoxen, sozialistischen und säkular-kulturellen Zionisten. Doch Herzl leitete die Organisation im Alleingang, und seine vertrauenswürdigsten Berater waren diejenigen, die am wenigsten mit ihm übereinstimmten.

Herzls Skepsis gegenüber einer uneingeschränkten Demokratie würde ihn, so glaube ich, zutiefst beunruhigen, was die derzeitige israelische Regierung angeht, und er würde die aktuelle Protestwelle unterstützen. Für Herzl ist das Regierungswesen das ernsthafteste aller Geschäfte, das mit Bedacht und Weisheit ausgeführt werden muss. Eine von politischem Druck unabhängige Justiz und eine Legislative, die an die Wahrung der Menschenrechte gebunden ist, verkörpern den Geist von Herzls zionistischen Schriften und Reden. Wäre Herzl heute noch am Leben, würde er mit Stolz auf Israels Geschichte der gesetzgeberischen und juristischen Errungenschaften blicken. Die Bemühungen der derzeitigen Regierung, diese Errungenschaften zu untergraben, würden Herzl tatsächlich Tränen in die Augen treiben.

Derek J. Penslar
Prof. Derek J. Penslar lehrt jüdische Geschichte an der Universität Harvard. Er ist Autor zahlreicher Bücher zur jüdischen Geschichte, zuletzt erschien auf Deutsch bei Wallstein Theodor Herzl: Staatsmann ohne Staat (2022).

© Robin Levin Penslar