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Italien

Verborgene Kleinode

Über Genzano und Nemi, die trotz ihrer Nähe zu Rom fest entschlossen scheinen, vom Massentourismus nicht gefunden zu werden.

John Dickie01.07.2016

Vor beinahe 30 Jahren, als ich noch studierte und meinen Lebensunterhalt mit einem mageren Forschungsstipendium bestritt, versuchte ich, eine erschwingliche Wohnung in Rom zu finden. Ein Freund erwähnte den Freund eines Freundes, der wiederum jemanden kannte, der einen Mitbewohner für ein Haus südlich der Stadt suchte. „Warum schaust du es dir nicht an, nur für den Fall?”

Die Fahrt dauerte eine kleine Ewigkeit: Mit der metropolitana ging es bis zur Endstation der Linie A und dann weiter mit dem Bus, der die lange Steigung in die Hügel hinaufkeuchte. Als ich an der alltäglich aussehenden piazza ausstieg, stellte ich fest, dass ein Kaugummi an meinem Rücken haftete. Ohne es zu ahnen hatte ich die Seele meines Italiens gefunden: Genzano.Dem schier endlosen Pendeln zum Stadtarchiv zum Trotz entschied ich mich für die Wohngemeinschaft. Zwei Dinge hatten mich überzeugt: der Ausblick auf den Nemisee und das hiesige Brot. Ich habe meinen Entschluss nie bereut.

Der kleine See, ein erloschener Vulkankrater, nimmt seinen Pedigree auf die leichte Schulter. Italien wäre nicht Italien, wenn es mehr Aufhebens um seine Schönheit machte. Bei all dem schäbigen Plastik der kommerziellen Gewächshäuser und dem gelegentlichen, illegal entsorgten Müll am Straßenrand würde man nicht meinen, dass dies einer der stimmungsvollsten Orte des klassischen Altertums war. Der See war „Dianas Spiegel” und der Göttin geweiht. An seinem bewaldeten Ufer stand ein Baum mit einem goldenen Ast, der unter dem Schutz des Priesterkönigs stand. Dieser herrschte, bis er von seinem Nachfolger getötet wurde. Heute spiegelt sich das bildhübsche Dorf Nemi im Wasser. Es hockt auf dem Kraterrand gegenüber von Genzano.
Einfache, aber köstliche Speisen

Und dann war da noch das Brot. Die Kruste, in Kastanienholzfeuer geschwärzt und mit Kleien bestäubt, ist gerade fest genug, um den Zähnen kurz Widerstand zu leisten. Darunter verbirgt sich der gesündeste Geschmack, den mein Gaumen je gekostet hat. Meine Vermieterin war Anna Maria, eine rotwangige, gutherzige Anarchistin – und ein Genie in der Küche. Dank ihr öffnete mir das Brot von Genzano die Tür zur italienischen Esskultur.
Das Brot ist aber nicht der einzige Schatz, den diese Gegend zu bieten hat. An Ständen entlang der Straße nach Genzano kann man Sandwiches kaufen, die mit porchetta d‘Ariccia gefüllt sind, einem Schweinerollbraten – das entbeinte Spanferkel wird am Stück gegart und mit Rosmarin und Knoblauch gewürzt. In der alten norcineria am Platz von Nemi bekommt man einen nussigen Räucherschinken und eine überraschend zarte, ovale Salami mit einem Hauch von Zimt und Nelken. (Mit dem typischen Mangel an Sinn für Romantik wird sie als coglioni di mulo, Maultierhoden, bezeichnet.)

Nemi ist zudem der einzige Ort auf der Welt, in dem es das ganze Jahr über fragoline (kleine, wilde Erdbeeren) gibt. Sie werden in den heruntergekommenen Treibhäusern am See gezogen. Dort herrscht ein einzigartiges Mikroklima. All diese Köstlichkeiten kann man mit dem guten, ehrlichen, lokalen Wein hinunterspülen. Wer schon einmal in einer echten, bodenständigen römischen Trattoria gespeist hat, kennt den vino dei Castelli, den Weißwein aus dem Gebiet der „römischen Burgen” (ital. Castelli Romani), in dem sich Genzano befindet. Gemeinden wie Lanuvio, Marino und natürlich Frascati dienen der Stadt schon seit der Kaiserzeit als Weinlieferanten.

Es erscheint mir nach wie vor wie ein Wunder, dass so viele gute, einfache Dinge so geballt auf einem derart bescheidenen Fleckchen Erde versammelt sein können. Und dass Genzano und Nemi dennoch keine „Touristenfallen” sind. Gewiss zieht es Tagesausflügler aus der Stadt zum sonntäglichen Mittagessen mit wilden Pilzen und cacciagione (Wild) aus den Wäldern hierher, doch sie bleiben nicht. Am Ufer des Nemisees befindet sich ein Museum. Es barg ursprünglich zwei Römerschiffe, die Caligula bauen ließ. Sie wurden auf Geheiß Mussolinis aus dem Schlamm geborgen. Da die Schiffe jedoch 1944 einem Brand zum Opfer fielen, verirrt sich nie ein Besucher dorthin. Genzano scheint fest entschlossen, nicht gefunden zu werden. Ich hoffe, dass dies auch so bleibt.

John Dickie
John Dickie ist Historiker und Publizist. Er lehrt Romanistik am University College in London und hat zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte und Kultur Italiens verfasst. 2010 erschien „Delizia! Die Italiener und ihre Küche. Geschichte einer Leidenschaft“ (Fischer Taschenbuch). www.johndickie.net