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Morbide, mahnende Schönheit

Titelthema - Morbide, mahnende Schönheit
Messina: Blick auf die kalabrische Küste. © Sergey Didenko / shutterstock

Sizilien ist bekannt für seine Zitrusfrüchte und berüchtigt für die Mafia. Doch die Insel hat weit mehr zu bieten: Messina zum Beispiel ist unbedingt einen Besucht wert.

John Dickie01.08.2019

Armes Messina! Eine Stadt älter als Rom und das Eingangstor einer von schillernden Stränden umgebenen Insel voller von Menschenhand geschaffener Wunder. Doch Messina hat keine griechischen Tempel, die mit jenen von Agrigent oder Selinunt konkurrieren könnten. Keine üppigen römischen Mosaiken, die mit jenen von Piazza Armerina vergleichbar wären. Tatsächlich bietet Messina kaum herkömmliche Sehenswürdigkeiten. Wenn Besucher die Stadt betreten, tun sie dies nur, um ein Kreuzfahrtschiff zu verlassen und in einen Bus zu steigen, der nach Taormina fährt.

Warum komme ich also immer wieder hierher zurück? Alte Freunde sind Teil der Geschichte. Auch das Essen ist gut. Es gibt keine Restaurants, die als Touristenfallen dienen, da es keine Touristen gibt. Probieren Sie das legendäre Gebäck in der Pasticceria Irrera an der Piazza Cairoli. Wenn es Ihnen gelingt, das Al Padrino in der Via Santa Cecilia zu finden, wird Sie der Inhaber behandeln, wie er auch alle anderen behandelt: Er wird die Speisekarte ignorieren, Sie von oben bis unten mustern und entscheiden, was Sie essen müssen. An solchen Orten weiß man, dass man sich die Zuneigung der wenigen durchreisenden Ausländer verdienen muss.

Von der Landkarte gelöscht
Aber unabhängig von der Gesellschaft und dem Essen übt Messina eine seltsame Anziehung aus. Es ist eine Stadt, die aufgrund einer Katastrophe vollkommen neu gestaltet wurde. Kurz nach 5.20 Uhr am Morgen des 28. Dezember 1908 wurden die meisten Gebäude durch heftige Erschütterungen, die vierzig Sekunden dauerten, zerstört. Die großartige Palazzata, eine ununterbrochene Zeile neoklassischer Paläste – das Gesicht der Stadt, das sich zum Meer hin präsentierte – stürzte zusammen. Zehn Minuten später brach ein drei Meter hoher Tsunami über den Hafen herein. Feuer brachen aus und brannten tagelang unkontrolliert. Es war das tödlichste Erdbeben in der Geschichte des Westens. Vielleicht starben 80.000 Menschen, aber niemand wird es jemals sicher wissen, da die Aufzeichnungen der Stadt vernichtet wurden. Messina wurde von der Landkarte gelöscht.

Nach dem Erdbeben sagten viele, dass es wie ein neuzeitliches Pompeji aufgegeben werden solle. Doch langsam und schmerzhaft wurde es wieder aufgebaut – dieses Mal nur mit zwei- oder dreistöckigen Gebäuden, um zu zeigen, dass man die Grundsätze des erdbebensicheren Bauens gelernt hatte, wenn auch zu spät. Kirchen waren die ersten Gebäude, die neu entstanden: Viele waren blockartig, hässlich und viel zu groß.

Neptuns wachsamer Blick aufs Meer
Mit etwas Geduld sind die Zeichen der Katastrophe in Messina auch heute noch zu finden. Im Museo Regionale mit seiner trauervollen Sammlung von beschädigten Kunstwerken und Stücken einst opulenter Gebäude. Vor ihm steht eine erhabene Neptun-Statue aus dem 16. Jahrhundert, die die Katastrophe wie durch ein Wunder überlebte, dann aber versetzt und um 180 Grad in Richtung Meer gedreht wurde – als ob sie einen neuen Angriff abwehren soll. Im Stadtzentrum steht die winzige Chiesa dei Catalani mit ihrer Mischung aus mittelalterlichen Stilen: Sie liegt zwei Meter unter dem Straßenniveau, da sich der Untergrund an jenem verhängnisvollen Morgen im Jahr 1908 so dramatisch verformte. Dann ist da der monumentale Friedhof von Messina mit seinem atemberaubenden Blick auf die Straße von Messina und die kalabrische Küste. Er ist die letzte Ruhestätte patriotischer Helden: Sie liegen jetzt inmitten eingestürzter Kolonnaden und aufgerissener Mausoleen – als ob das Erdbeben alle Unterschiede zwischen den Städten der Lebenden und der Toten auslöschte.

Vielleicht ist meine Faszination für Messina auch ein wenig makaber. Aber ich möchte lieber glauben, dass diese merkwürdige Stadt die gleiche eindringliche Botschaft vermittelt, wie dies an anderen Orten nur vereinzelte Ruinen tun, wenn sie aus dem Boden ragen, um zu ihrer Nachwelt zu sprechen. Messina sagt uns, dass unsere Zivilisationen sterblich sind und dass wir sie hegen müssen.

John Dickie
John Dickie ist Historiker und Publizist. Er lehrt Romanistik am University College in London und hat zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte und Kultur Italiens verfasst. 2010 erschien „Delizia! Die Italiener und ihre Küche. Geschichte einer Leidenschaft“ (Fischer Taschenbuch). www.johndickie.net