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Was zeichnet die italienische Küche aus?

Titelthema - Was zeichnet die italienische Küche aus?
Jede landestypische Küche stiftet Identität, die italienische jedoch eine falsche. Sie ist nicht ländlich geprägt, sondern das Erbe von Jahrhunderten städtischer Perfektion. © Fotoillustration: Svenja Kruse; Fotos: Andrewshots / Shutterstock, Hercules Milas / Alamy Stock Photo, Atlantide Phototravel / Gettyimages

Für eine historische Antwort müssen wir zwei Männer fragen, die 20 Kilometer voneinander entfernt in der zentralitalienischen Region Romagna geboren wurden.

John Dickie01.07.2020

Am 24. Mai 1938 stattete der faschistische Diktator Benito Mussolini der Trattoria La Romagnola, in der die Küche seiner Heimatstadt serviert wurde, einen Besuch ab (er wurde in dem kleinen Städtchen Predappio in der Romagna geboren). Anscheinend bekam der Duce dabei die Gelegenheit, sich seiner ländlichen Herkunft zu besinnen. Der Koch unterbrach seine Arbeit, wahrscheinlich bereitete er gerade ein typisches Gericht wie „passatelli in brodo“ (eine Pasta mit Brotkrümeln und Ei) oder „piadine“ (Fladenbrot) zu. „Woher kommst du?“, fragte Mussolini. „Castel Bolognese“, lautete die Antwort. „Dann sind wir fast Nachbarn!“, freute sich der Duce.
Daraufhin überreichten ihm die einheimischen Hausfrauen ein großes rundes Fladenbrot. Nichts konnte mehr nach Heimat schmecken.

Idealbild der italienischen Küche

Diese kleine Begegnung scheint die Liebe zur ländlichen Küche hervorzuheben, die die Italiener über die tiefsten politischen Gräben hinweg vereint. Die Szene passt zu der lieb gewonnenen Vorstellung von traditionellem und rustikalem italienischem Essen. Milliarden Menschen auf der ganzen Welt lieben die italienische Küche. Pasta, Pizza, Pesto, Parmesan und Hunderte andere Gerichte sind zentrale Botschafter der italienischen Identität. Eine der unbestrittenen kommerziellen Stärken italienischen Essens ist die Aussage über seine Wurzeln: Italienisches Essen ist gutes, ehrliches, bäuerliches Essen. Demzufolge müssen die Italiener so gut essen, weil sie den Kontakt zu ihren bäuerlichen Ursprüngen nicht verloren haben.

Das denken wir zumindest – und „wir“ ist dabei der Großteil der Italiener.

Doch wenn wir unsere historische Kamera von jener Begegnung im Mai 1938 wegrichten und unser Sichtfeld erweitern, können wir allmählich sehen, dass die Vorstellung von italienischem Essen als bäuerlichem Essen nicht einmal im Entferntesten überzeugend ist.

Nichts als Propaganda

Die vom Duce aufgesuchte Trattoria war nur wenige Tage zuvor fertiggestellt worden. Sie gehörte zu einer Reihe von Restaurants, die vorübergehend in einem „bäuerlichen Dorf“ im Circus Maximus in Rom errichtet worden waren. Die ganze Show war Teil einer riesigen Ausstellung, mit der die Dopolavoro des faschistischen Regimes gefeiert werden sollte – eine staatliche Agentur, die die Freizeit der Italiener reglementieren und sie in Richtung ihres „imperialen Schicksals“ lenken sollte. Das Ganze war eine Inszenierung für Propagandazwecke.

Dem Faschismus gefiel die Vorstellung eines ländlichen Italiens. Seit 1925 hatte das Regime versucht, das Land landwirtschaftlich unabhängig zu machen und den Trend der Landflucht in die Städte umzukehren. Mussolini träumte von der Glanzzeit des Römischen Reichs und einer italienischen Bevölkerung, in der mannhafte Bauernlegionäre mit vollbusigen Brutmaschinen verheiratet waren. Diese Vision wurde von einer spartanischen Ernährung begleitet: Die Bauernlegionäre sollten den Mittelmeerraum mit ein paar Oliven und einer Hand voll Reis erobern, ihre gebärfreudigen Frauen nichts Ausgefalleneres als ein Omelette zubereiten. Die „trattorie“ in dem bäuerlichen Dorf im Circus Maximus waren also eigentlich ein sehr seltenes Zugeständnis an die Freuden des guten Essens in den Annalen der faschistischen Propaganda. Gute Faschisten sollten das Essen nicht genießen. Mussolini wurde als enthaltsamer Athlet porträtiert, der kaum einmal lange genug saß, um fotografiert zu werden, geschweige denn beim Essen. Es wäre ausgeschlossen gewesen, ihn dabei zu zeigen, wie er sich einen Teller Spaghetti schmecken lässt.

Natürlich lag die Propaganda völlig falsch. Die Flucht vom Land in die Städte war nicht mehr aufzuhalten. Italienische Mütter produzierten durchweg nicht genügend Babys. Das faschistische Reich war ein blutiges Desaster. Und was für alle Pizza- und Pastaliebhaber wohl am bezeichnendsten sein dürfte: Der Duce verkannte die Ursprünge der italienischen Küche völlig.

Die Ursprünge italienischen Essens

Noch heute glauben wir an den Mythos, dass italienisches Essen bäuerliches Essen sei – obwohl das aus banalen kommerziellen Gründen propagiert wird und nicht als Teil einer bösen autoritären Ideologie. Die Werbung spielt mit unserer Annahme, die beste Nahrung komme aus der Erde, unberührt von industrieller Verarbeitung. Italienisches Essen kann diese Vorstellung mit einer ganzen Reihe von Bildern bedienen: die von der Sonne beleuchteten 

Hügel der Toskana, die Mamma, die ihrer Brut Pasta serviert, der Tisch unter der Pergola, der rüstige alte Bauer, dem der Schalk aus den Augen blitzt.

Diese verlockenden Bilder sind nicht weniger gekünstelt als Mussolinis Trattoria La Romagnola. Die Geschichte, die sie erzählen, steht im Gegensatz zu Jahrhunderten voller Belege zur bäuerlichen Ernährung. Der Großteil der italienischen Bauern ernährte sich sehr schlecht. Sie lebten von der Hand in den Mund und wurden von Hunger bedroht. Zumindest bis zum 19. Jahrhundert wurden sie regelmäßig von Hungersnöten geplagt. Ernährungsbedingte Krankheiten wie Pellagra gehörten sogar noch länger zur Normalität. Die Bauern ernährten sich eintönig von zahllosen Gemüsesuppen, Bohnen und Brot aus minderwertigem Getreide. Selbst zu Zeiten des Faschismus fürchteten die Inspektoren der Regierung, dass die Bauern aus Unwissenheit und Aberglaube nicht einmal in der Lage sein würden, die wenigen Nahrungsmittel, die sie hatten, zuzubereiten. Erst als in den 1950ern der Wohlstand Einzug hielt und Millionen vom Land in die Städte zogen, fingen viele Italiener an, sich gut zu ernähren. Der durchschnittliche Italiener war 1972 vier Zentimeter größer als 1951. Die junge Generation war verglichen mit ihren Eltern riesig. Erst als die Landflucht in den 1970ern abgeebbt war, begannen Werbetreibende, Lebensmittel als „rustikal“ zu bezeichnen – die Keksmarke il Mulino Bianco ist ein bekanntes Beispiel. Erst in den 1980ern wurde das Konzept der einfachen, rustikalen und gesunden mediterranen Ernährung von dem großen amerikanischen Epidemiologen Ancel Keys verbreitet. Er machte sich eine in Italien durchgeführte Studie zunutze, die den Zusammenhang zwischen tierischen Fetten und Herzerkrankungen untersucht hatte.

Wenn italienisches Essen also kein bäuerliches Essen ist, wo müssen wir nach seinen Ursprüngen suchen?

Um diese Frage zu beantworten, sollten wir einem Mann zuhören, der 1820 ganz in der Nähe von Mussolini geboren wurde. Pellegrino Artusi war Eigentümer eines Gemischtwarenladens im ländlich geprägten Städtchen Forlimpopoli in der Romagna. Im Jahr 1851 wurde er von Räubern überfallen und seine Schwester vergewaltigt, woraufhin er das Land verließ. Er ging mit seiner Familie nach Florenz, wo sein Geschäft florierte. Im Ruhestand machte er sich daran, das einflussreichste Kochbuch Italiens zu schreiben: „Von der Wissenschaft des Kochens und der Kunst des Genießens“, erstmals veröffentlicht 1891. Das Buch gilt als das erste, das Italiener stolz auf ihre Küche machte und überhaupt der Vorstellung Form verlieh, dass allen regionalen Unterschieden zum Trotz so etwas wie eine nationale Küche existierte, auf die man stolz sein konnte. „Von der Wissenschaft des Kochens und der Kunst des Genießens“ war ein voller Erfolg. Zur Zeit Mussolinis waren Artusi und die Bibel in vielen italienischen Haushalten die einzigen Bücher überhaupt. Und das sagt Artusi:

„Ein guter Koch in einer großen Stadt ist mehr oder weniger wie ein General in einem großen Kriegstheater, dem Legionen von kampferprobten Truppen in tiefen Gräben zur Verfügung stehen – in anderen Worten alles, was er braucht, um zu zeigen, was er kann. Nicht nur sind in großen Städten alle möglichen feinen Zutaten reichlicher vorhanden. Dort gibt es Menschen, deren Aufgabe es ist, andere mit den kleinen Dingen zu versorgen, die für sich genommen kaum wichtig sind, die einem aber ein abwechslungsreiches, elegantes und präzises Handwerk ermöglichen.“

Der Geschmack der Städte

Artusi wusste, was alle italienischen Köche seit dem Mittelalter gewusst hatten: Italienisches Essen ist städtisches Essen. Italiens großes Städtenetzwerk bot alles, was man für eine gute Küche brauchte. Produkte vom Land überfluteten die städtischen Märkte. Vermögende Städter wetteiferten um soziales Prestige, indem sie ihren kultivierten Geschmack zu Tische demonstrierten. Fachkundige Köche und Kaufleute bekamen innerhalb der Stadtmauern den besten Lohn für ihre Fertigkeiten. Weil sie Seite an Seite mit ihren Herrschern lebten, mussten selbst die armen Stadtbewohner mit Nahrung beschwichtigt werden: In Hungersnöten wurden Truppen zum Plündern aufs Land geschickt, um mit der Beute die Massen in der Stadt zu ernähren und den Frieden zu sichern. Bereits im Mittelalter wussten Nahrungsmittelhersteller den Ruhm und Reichtum italienischer Städte, der von ihren wunderschönen Bauten und Kunstwerken noch verstärkt wurde, bei der Markenbildung zu ihrem Vorteil zu nutzen. Man bedenke beispielsweise, wie viele Speisen nach Städten benannt sind: „parmigiano“ (Parma), „risotto alla milanese“, „bisteca alla fiorentina“, „pizza napoletana“, „pesto alla genovese“. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Die kulturelle Kraft des Essens

Essen ist eine enorm wichtige Einkommensquelle für Italien. Es bietet außerdem ein immenses kulturelles Kapital: Hartkäse und Pasta, al dente gekocht, wohnt eine sanfte Macht inne, die wichtig sein wird, wenn Italien nach einem der schlimmsten Coronavirusausbrüche in Europa sein Image wieder aufbauen will. Ich glaube, die Ironie der ganzen Sache ist, dass der weltweite Ruhm der italienischen Küche allzu oft auf einem Kehrbild ihrer Ursprünge beruht. Vielleicht ist es an der Zeit, dass italienische Hersteller und Küchenchefs mehr zu sich und ihrer Geschichte stehen. Wäre es nicht sinnvoller, italienisches Essen als das zu verkaufen, was es ist? Das dynamische Erbe von Jahrhunderten städtischer Perfektion.


Buchtipp



John Dickie

Delizia! Die Italiener und
ihre Küche. Geschichte einer Leidenschaft

S. Fischer Verlag 2010, 448 Seiten, 12,95 Euro.

fischerverlage.de

John Dickie
John Dickie ist Historiker und Publizist. Er lehrt Romanistik am University College in London und hat zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte und Kultur Italiens verfasst. 2010 erschien „Delizia! Die Italiener und ihre Küche. Geschichte einer Leidenschaft“ (Fischer Taschenbuch). www.johndickie.net

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