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Titelthema

Bewegte Geschichte einer Frucht

In Sizilien begann der Werdegang der Zitrusfrüchte in Europa: Muslime schufen einst ein Bewässerungssystem – später baute die Mafia ein großes Geschäft damit auf

John Dickie01.08.2017

Palermo ist eine Stadt mit vielen Geheimnissen, aber das wohl faszinierendste ist der Platz, an dem die Ursprünge der italienischen Liebesgeschichte zu den Zitronen verborgen liegen. Ungefähr acht bis zehn Meter unter der Erde befindet sich ein riesiges Tunnelnetzwerk in dem weichen Fels. Sie sind nicht mehr als einen Meter breit und kaum hoch genug, dass ein kleiner Mann aufrecht darin stehen kann, aber durch diese Tunnel fließt ein konstanter, sanfter Frischwasserstrom. Die Sizilianer nennen diese unterirdischen Aquädukte immer noch Arabisch qanat

Es waren die nordafrikanischen Muslime, die zwischen 827 und 1091 das Emirat Sizilien beherrschten, und diese Kanäle als erste mithilfe von Fachkenntnissen aus ihrer Heimat ausgruben. Die Genialität an den Qanaten ist, dass sie den Grundwasserspiegel anzapfen und sehr gering abfallen, wodurch ein sich selbst versorgendes Kapillarbewässerungssystem entsteht. Das Wasser aus dem Qanat von Palermo war der Grund, weshalb die Stadt zur Hauptstadt des muslimischen Siziliens wurde – eine Stadt mit Springbrunnen, Pools und schön bewässerten Gärten. In diesen Gärten wurden viele Pflanzen kultiviert, die damals neu auf der Insel waren: Mandeln, Pistazien, Rohrzucker, Datteln, Feigen, Johannisbrot und natürlich Zitronen. Durch das muslimische Sizilien bekam Italien und von dort aus Europa erst Zugang zu Zitrusfrüchten.

 

Spärliche Überlieferung

Leider hinterließen uns die sizilianischen Emire keine Kochbücher. Aus diesem Grund gibt es keine schriftlichen Quellen, die es Historikern ermöglichen würden, herauszufinden, wie die Araber ihre Zitrusfrüchte am liebsten gegessen haben. Gleichwohl spielen Zitronen und ihre engen Verwandten (die in Italien kollektiv als agrumi bekannt sind), immer noch eine zentrale Rolle in der Küche der Insel. Denken Sie nur an granita di limone, das eine Art Sorbet ist, welches oft zum Frühstück serviert wird – ja, zum Frühstück – mit einer großen, weichen Brioche. Muslime haben übrigens auch das Sorbet erfunden. Oder Sardellenfilets, die roh und in Zitronensaft geräuchert serviert werden. 

Die in Sizilien bekanntesten Nachspeisen, cassata und cannoli, wären ohne das Stück kandierte Zitrone und die Orangenschale unvorstellbar, die dem Ricotta-Käse im Inneren seinen Geschmack verleihen. Die einfachste Verwendung von Zitrusfrüchten in der sizilianischen Küche und mein persönlicher Favorit ist insalata di agrumi: Orangenscheiben, oft mit Fenchel und Oliven, mit einem Salz-, Pfeffer- und Olivenöl-Dressing. Zur Abwechslung können Sie den Salat auch mit Zitronatzitronen machen. Die Zitronatzitrone ist eine größere Verwandte der Zitrone, deren dicke Schale und Fruchtfleisch auch gegessen wird.

 

Italienisches Kulturgut

Grundlage für den
Anbau von
Zitronen: Qanat
unter den Straßen
Palermos

Im neunzehnten Jahrhundert wurden die Zitronen zu dem, was sie heute sind: einem wesentlichen Bestandteil der italienischen Küche. So viel ist aus den wichtigsten Kochbüchern der italienischen Geschichte ersichtlich: „La scienza in cucina e l‘arte di mangiar bene“ von 1891 (die Wissenschaft in der Küche und die Kunst des guten Essens). Der Autor dieses Buchs, Pellegrino Artusi, war ein patriotischer Geschäftsmann und ein Liebhaber des kulinarischen Genusses. Er war der Erste, der eine Vorlage der typischen Rezepte der italienischen Küche aus verschiedenen Städten erstelle. Er war außerdem der Erste, der erklärte, dass die Italiener genauso stolz auf ihre Speisen sein sollten, wie die Franzosen es auf ihre Speisen waren. 

In Artusis Rezeptsammlung, die immer noch ein wesentlicher Bestandteil in jedem italienischen Haushalt ist, tauchen Zitronen auf fast allen Seiten auf – und nicht bloß als die bekannte Beilage eines Tellers mit gegrilltem Fleisch oder Fisch oder als Zutat in verschiedenen Nachspeisen und Kuchen. Die Schale der Zitrone gibt dem Ricotta und der Kapaunfüllung der cappelletti all’uso di Romagna (hutförmige, gefüllte Pasta) ein kleines bisschen Aroma. Diese Speise stammt aus der Heimatregion von Artusi. Zitronensaft ist unerlässlich für die lang ansässigen Lieblinge in der Po-Ebene: Frösche. Artusis Lieblingsrezept beinhaltet, den Frosch teilweise anzubraten und ihn dann in geschlagenes Ei mit Zitronensaft zu tunken, bevor er in der Pfanne fertig gebraten wird. 

Doch gerade als Pellegrino Artusi dabei war, die Zitrone zu einem festen Bestandteil der italienischen Küche zu machen, nahm die sonnige Geschichte der Zitrusfrucht in Sizilien eine wesentlich dunklere Wende. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden etliche industrielle Anwendungen entwickelt, um Zitronensäure herzustellen. Dadurch wurde die bescheidene Zitrone eine sehr kostbare Exportfrucht. Plötzlich gab es einen Boom in den Zitronen- und Orangenhainen Italiens. Laut Schätzungen war der Conca d‘Oro, ein äußerst fruchtbares Gebiet zwischen Palermo und der umliegenden Bergwelt, im Jahr 1860 das gewinnbringendste Agrarland in Europa. 

Die kostbaren Zitronenbäume, die immer noch vom Qanat bewässert wurden, erregten die Aufmerksamkeit einer kriminellen Gruppe, die für ihren schlechten Ruf bekannt ist: die Mafia. Sie war es, die die Agrumeti (Zitronen- und Orangenhaine) von Palermo entwickelte. Außerdem perfektionierten die Mafiosi ihre Erpressungsschläger-Methoden. Fast alle der anfänglichen Mafiabosse, über die wir Bescheid wissen, waren in irgendeiner Form am Zitronengeschäft beteiligt: als Gemüsegärtner, Zitronenhändler und -Verkäufer oder einfach „Sicherheits“-Unternehmer.

 

Der Stolz der Mafia

Die Mafiosi waren stolz auf ihre Zitrusfrüchtetradition. Die Familie Greco beherrschte seit dem 19. Jahrhundert die Zitronenhaie von Ciaculli, knapp außerhalb von Palermo. In den 80er Jahren rühmte sich der Boss aller Bosse, Michele Greco (der aufgrund seiner religiösen Hingabe als „der Papst“ bekannt war), dass seine Familie die erste war, die eine bedeutende Vielfalt von Mandarinen, die als mandarino tardivo di Ciaculli bekannt sind, eingeführt hat. Durchaus wissenswert, wenn Sie das nächste Mal ein Mandarinen-Sorbet oder ein Zitronen-Risotto bestellen.

John Dickie
John Dickie ist Historiker und Publizist. Er lehrt Romanistik am University College in London und hat zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte und Kultur Italiens verfasst. 2010 erschien „Delizia! Die Italiener und ihre Küche. Geschichte einer Leidenschaft“ (Fischer Taschenbuch). www.johndickie.net