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Von der Bedrohung zum Luxus

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Gefrorener Luxus: Eishotels wie das „Icehotel“ im nordschwedischen Jukkasjärvi laden zu einer ebenso stilvollen wie exklusiven Nacht in der Kälte ein. © haven, jonas johansson & jordi claramunt & lukas petko / asaf kliger; icehotel 29

Die kalte Jahreszeit hat ihren Schrecken verloren. Heute suchen wir den Winter und finden ihn immer seltener.

Bernd Brunner01.01.2020

Wir sind tropische Wesen. Neuesten genetischen Untersuchungen zufolge ist es knapp zweihunderttausend Jahre her, dass der Homo sapiens sich aus den afrikanischen Savannen auf den Weg gemacht hat. Er stellte eine enorme Anpassungsfähigkeit unter Beweis, die Inuit etwa lebten unter den lebensfeindlichen Bedingungen der Arktis und mussten dort ausschließlich auf fleischliche Nahrung zurückzugreifen.

Ein langer Weg war zurückzulegen, bis wir uns in den mittleren Breiten mit der kalten Jahreszeit anfreunden konnten. Denn so lebensbedrohend Hitzewellen sein können, ist die von sehr niedrigen Temperaturen ausgehende Gefahr für Leib und Leben eben doch viel größer. Und um sich vor ihnen zu schützen, musste der Mensch seine ganze Erfindungsgabe aufbieten. Unzählige Generationen waren damit beschäftigt, Antworten auf Fragen zu finden wie: Was kann man essen, wenn es nichts zu ernten gibt? Wie schafft man es, nicht zu erfrieren? Und wie bewegt man sich fort, wenn der Schnee meterhoch den Weg versperrt?

Oder: Wie Nahrung haltbar machen, wenn die Natur sonst nichts bietet? Sei es das Dörren von Birnen und Äpfeln, das Räuchern von Fisch und Fleisch, das Einlegen von Gurken, das Einmachen von Pflaumen, das Einsalzen von Schinken: Diese Techniken zur Konservierung von Lebensmitteln verdanken wir dem Winter.

Das Dilemma mit all dem Schnee
Kälte befeuerte auch die Entwicklung von Heizsystemen. Lange waren offene Feuerstellen in den Räumen die Regel; erst ab dem achten Jahrhundert gab es gemauerte Kamine. Um 1200 gehörten dann die effizienten Kachelöfen nicht nur in Klöstern und Burgen, sondern auch schon in vielen Bürgerwohnungen zur Ausstattung. Obwohl die Öfen immer weiter verbessert wurden, hatten sie ihre Grenzen. Selbst Lieselotte von der Pfalz, Herzogin von Orléans, schrieb am 10. Januar 1709 an die Kurfürstin Sophie: „Es ist eine solche grimmige Kälte, dass es nicht auszusprechen ist. Ich sitze bei einem großen Feuer, habe einen Schirm vor den Türen, habe einen Zobel auf dem Hals, einen Bärensack zu meinen Füssen, und alleben wohl zittere ich vor Kälte und kann kaum die Feder halten.“

Zentralheizungen, also mit Warmwasser beziehungsweise Dampf betriebene Rohrleitungssysteme, wurden zwar schon im 18. Jahrhundert erfunden, setzten sich aber nur langsam durch und blieben lange ein Privileg von Bürgertum und Adel. Allgemein fand diese Technik erst um 1900 Einzug, und auch da längst noch nicht überall. Aber die Heiztechnik war nicht die einzige Entwicklung, mit der die Menschen dem Winter trotzten. Sie verstanden es auch immer besser, die Kälte gar nicht erst hineinzulassen. Schon die ersten kleinen Fenster bespannte man mit Tierhaut und Leinen, um etwas Lichteinfall zu ermöglichen, ohne zu viel Wärme zu verlieren. Später boten hölzerne Läden Schutz, wenn draußen winterliche Stürme tobten. Fensterglas galt lange als Luxus. War es kalt, fanden die Menschen oft Zuflucht im Bett. Die schweren Vorhänge des „Himmelbetts“ dienten dazu, die Wärme im Innenraum zu halten, ebenso die Alkoven, in die Wand eingebaute Bettnischen, in denen schon mal der Sauerstoff knapp wurde.

Muskelkraft gegen die weiße Plage
Doch außer der Kälte war da ja noch der Schnee. Bis vor eineinhalb Jahrhunderten konnte man der plötzlich hereinbrechenden Schneelast gar nicht viel mehr entgegensetzen, als sie mit Muskelkraft unter Zuhilfenahme von Schaufeln und Schippen beiseitezuschaffen. Das stärkte natürlich auch den Zusammenhalt, und man konnte sich lange davon erzählen. Reisepläne legte man oft notgedrungen auf Eis. Weil die gewohnten Wege in der verschneiten Landschaft nicht mehr auszumachen waren, gab es früher typische Sommer- und Winterwege – im schneebedeckten Gelände schlug man nämlich stets die direkteste Richtung ein.

Pferde- oder Ochsenschlitten waren dabei oft die beste Wahl. Die Züge blieben in ihrer Anfangszeit regelmäßig stecken. Erst als man gegen Ende des 19. Jahrhunderts dazu überging, rotierende Schneepflüge an die Lokomotivenspitzen zu montieren, kamen die Züge auch bei hohem Schnee voran. In den Städten stellte sich das Problem, dass der Schnee zügig von den Straßen geräumt werden musste. Anfänglich behalf man sich mit schweren Trommeln, die die weiße Pracht einfach platt machten. 1887 schlug ein New Yorker Erfinder vor, mithilfe von Dampfmaschinen ein Netz von Heizungsrohren unter Straßen und Gehwegen zu betreiben und so den Schnee einfach wegzuschmelzen. Die Idee setzte sich damals noch nicht durch. Heute gibt es solche Straßenheizungen in der amerikanischen Stadt Holland in Michigan genauso wie im isländischen Reykjavik oder in Oslo in Norwegen.

Gemälde sind Fenster in die Vergangenheit: Sie liefern Anhaltspunkte dafür, wie Menschen früher mit dem Winter umgegangen sind. Als erstes Winterwerk gilt das Bild für den Februar im Stundenbuch des Herzogs von Berry, gemalt von den Brüdern Limburg: Holzfäller im Schnee, Schafe, die sich angesichts der Kälte zusammendrängen, nach Körnern suchende Vögel. Die Werke aus dem 16. Jahrhundert beweisen dann, dass die Menschen sich im Winter auch zu vergnügen wussten: Sie bewarfen sich mit Schneebällen, das Eislaufen war ebenfalls bereits beliebt. Sogar eine Vorform von Eishockey gab es schon – man nannte es „colf“. Zu den Winterfreuden damals wie heute zählt der Bau eines Schneemanns, ein Akt, der einen kleinen Triumph über die Natur beinhaltet: Man formt den Schnee nicht nur, man zwingt ihm auf, wie ein mehr oder weniger unförmiger Mensch auszusehen.

Die Geburt des Wintertourismus
Noch viel Zeit verstrich, bis die ersten Touristen in den Alpen überwinterten. Bis dahin packten die Gäste ihre Koffer spätestens, wenn die ersten Schneeflocken fielen. Dem geschäftstüchtigen St. Moritzer Hotelier Johannes Badrutt ist die Wende zu verdanken, so zumindest die Legende. An einem regnerischen Abend im September 1864 saß er mit einigen Gästen aus London am Kaminfeuer seines Hotels „Engadiner Kulm“ und erzählte, dass es hier an schönen Wintertagen möglich sei, ohne Jacke in der Sonne zu spazieren. Er bot den Engländern eine Wette an und versprach, für die Reisekosten aufzukommen, falls sich seine Prognose nicht bewahrheiten sollte. Die Gäste konnten nicht widerstehen und reisten Mitte Dezember wieder an – schweißüberströmt, weil die Sonne an diesem Tag bereits strahlte. Badrutt gewann seine Wette, die Engländer blieben bis zum März, und der Wintertourismus war geboren. Allerdings vergnügte man sich anfangs vor allem mit Eislaufen oder Schlittenfahren.

Das Skilaufen als Wintersport kam erst später in Mode. Auf der Pariser Weltausstellung 1878 wurden Ski noch als Neuheit gepriesen. Es waren die Norweger, die die Bretter in die Welt hinaustrugen, ein gewisser Odd Kjelsberg etwa soll die ersten ins Schweizer Glarus mitgebracht haben. Von Christoph Iselin, einem Schweizer Skifahrer, heißt es denn auch, er habe das Skifahren im Jahr 1891 erst nur im Dunkeln geübt – weil er befürchtete, ausgelacht zu werden. Auch Mathias Zdarsky mit seiner Einstocktechnik gilt als einer der alpinen Skipioniere. Ihm wird das erste Skiwettrennen zugeschrieben, 1905 auf dem niederösterreichischen Muckenkogel.

Schnee und Eis sind die prägnanten Merkmale, die den Winter von den anderen Jahreszeiten unterscheiden. Insofern ist es verständlich, dass sich das Interesse besonders auf sie konzentriert. Aber heute sind Eis und Schnee auf dem Rückzug. Wann waren eigentlich die letzten so richtig sattweißen Weihnachten? Es ist schon irgendwie verhext, paradox auch: Jetzt, wo der Winter seinen existenziellen Schrecken verloren hat, wo wir mit Heizungen und Dämmtechniken, mit Daunen und Thermojacken bestens für die Kälte gerüstet wären, zerrinnt uns der Schnee zwischen den Fingern. Oft scheint der Winter nur noch ein Schatten seiner selbst.

Wintersuche im hohen Norden
Unsere Sehnsucht nach dem „richtigen“ Winter wächst. Manche stillen sie mit einem Ausflug in die Ferne. Die Zahl der Touristen, die ins tief verschneite Lappland reisen, steigt Jahr für Jahr. Dort zelebriert man den Winter. Wem es tagsüber beim Winterzauber mit Schneeschuhlaufen, Hundeschlittenfahren und Segeln auf gefrorenen Seen noch nicht kalt genug war, der kann nachts in einem „Snow Village“ übernachten. Die kunstvollen Bauten ermöglichen Tuchfühlung mit echter Kälte bis in die Schlafkammern hinein. Erleben will man den eisigen Norden ja schließlich schon einmal, wenn auch nicht ständig dort wohnen.

Das Eisschwimmen hat es schon lange gegeben, aber kann es sein, dass es in den Nachrichten häufiger auftaucht als früher? Und was ist von der sogenannten Kryotherapie zu halten? Manche Wissenschaftler behaupten, die „chronische Wärme“, in die wir uns flüchten, sei für Herzkrankheiten und Übergewicht verantwortlich. Was wollen wir nun eigentlich: kuschelige Wärme oder klirrende Kälte, die dann so richtig unsere Lebensgeister weckt? Der Ausweg, vielleicht: hin und wieder mal kalt duschen, ohne Hemd joggen, den Thermos tat drosseln oder sich in eine Ganzkörper-Kältekammer zurückziehen. Im Ernst? Der Aufenthalt bei Temperaturen von unter minus 100 Grad soll angeblich Rheuma lindern, Entzündungen hemmen, die sportliche Leistung erhöhen, das Abnehmen fördern und sogar auch Depressionen mildern. Wird der Winter jetzt richtig gesund, wo er nicht mehr tödlich ist?

Die Winter werden wärmer, die Frühlinge kommen früher. Was waren das für Zeiten, als man sie noch an den Fenstern erkennen konnte: von unten her wachsende, filigrane Eiskristalle, die verblüffend pflanzlich anmutende Formen ausbilden. Seitdem es isolierte Doppelfenster und beheizbare Autoscheiben gibt, sieht man sie nur noch selten und möchte Hölderlin zitieren: „Weh mir, wo nehm ich, wenn es Winter ist, die Blumen.“ Immerhin gibt es ein Eisblumenspray, mit dem man authentisch wirkende Eisstrukturen auf Glasflächen zaubern kann. So ganz auf den Winter möchte eben kaum jemand verzichten, auch wenn es nur der Look oder eine Idee davon ist.

Bernd Brunner
Bernd Brunner, geboren 1964, studierte in Berlin und Seattle und ist Autor einer Reihe Sachbücher an der Schnittstelle von Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, unter anderem "Das Buch der Nacht" und "Die Erfindung des Nordens". "Von der Kunst, die Früchte zu zähmen – Eine Kulturgeschichte des Obstgartens" ist gerade beim Knesebeck Verlag erschienen. berndbrunner.com