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"Von Ulrich, Pieck und Grotewohl haben wir die Nase voll"

Titelthema - "Von Ulrich, Pieck und Grotewohl haben wir die Nase voll"
Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 wurde blutig niedergeschlagen. © sz photo/röhnert ursula/bridgeman images

Zeitzeugen erzählen, wie sie den 17. Juni 1953 in der ehemaligen DDR erlebten. Hier die Erinnerungen von Wolfgang Jähnichen aus Dresden

01.06.2023

Nachdem am 14. Mai 1953 das Zentralkomitee der SED beschlossen hatte, zum 30. Juni bei gleichem Lohn die Arbeitsnormen um 25 Prozent zu erhöhen, brodelte es in der Bevölkerung.

3.000 Arbeiter in der Stalinallee stellten dem FDGB zum 16. Juni ein Ultimatum, sich für die Rücknahme der Normerhöhungen einzusetzen.  Als das nicht geschah, formierten sich die Bauarbeiter der Stalinallee und des KKH Friedrichshain zu einem Protestzug, der auf 10.000 anwuchs. Ihm hatten sich aus Solidarität andere Großbetriebe angeschlossen.

Die Protestierenden zogen zuerst zum FDGB-Haus, der heutigen Deutschen Bank, Unter den Linden. Dann ging es weiter zum "Haus der Ministerien" in der Leipziger Straße, dem heutigen Finanzministerium. Nun kamen zu den Lohnforderungen auch politische Forderungen hinzu ("Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille", "Von Ulbricht, Pieck und Grotewohl haben wir die Nase voll"), Forderungen nach freien und geheimen Wahlen, nach der Einheit Deutschlands und dem Rücktritt der DDR-Regierung.

Sowjetische Panzer lösten die Demonstration auf. Die sowjetische Besatzungsmacht verhängte den Ausnahmezustand. Die von den Protestierenden aufs Korn genommenen Genossen Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl verkrochen sich in Karlshorst im Hauptquartier der sowjetischen Streitkräfte.

Die Berliner Ereignisse verbreiteten sich wie ein Lauffeuer in der gesamten DDR.

Generalstreik angekündigt

Der 17. Juni war ein Mittwoch. Nach der Schule ging ich als knapp 14-Jähriger nicht nach Hause, sondern in die Dresdner Innenstadt; denn ich hatte ja am 16. Juni im RIAS gehört, am 17. Juni gäbe es in der DDR einen Generalstreik.

Gegen 10 Uhr war es im Sachsenwerk Niedersedlitz zu ersten Arbeitsniederlegungen infolge unregelmäßiger Materiallieferungen, deren Folge Feierschichten und dann angeordnete Überstunden waren, gekommen. Diesem Streik schlossen sich benachbarte Betriebe an. Der Demonstrationszug bewegte sich in Richtung Stadtmitte, wo auch Arbeiter weiterer Betriebe dazukamen.  

Die Demonstranten hatten sich am Postplatz, dem zentralen Verkehrsknotenpunkt Dresdens, des Megaphons der Straßenbahn bemächtigt und skandierten damit ihre Parolen und rissen ein Stalinbild aus der Verankerung. Da die Volkspolizei die Demonstration nicht unter Kontrolle bringen konnte, griffen Panzer der "Roten Armee" ein. Sie schossen Salven über die Köpfe der demonstrierenden Arbeiter hinweg, nicht aber in die Menschenmenge.

Der Demonstrationszug bewegte sich nunmehr auf den Pirnaischen Platz zu, zum Polizeipräsidium in der Schiessgasse, wo man die Freilassung politischer U-Häftlinge forderte. Man warf mit Trümmergestein auf die sich dort verschanzenden Volkspolizisten. 

Da hier aber sowjetsche Panzer das Gebäude umstellt hatten, riefen die demonstrierenden Arbeiter den Russen zu: "Nicht Schießen". Wir Jüngeren versuchten, mit den Russen ins Gespräch zu kommen und skandierten: "pomogajete nam" (helft uns) und "nje streljatch" (nicht schießen). Wir hatten ja in der Schule schon vier Jahre Russisch gelernt.

Über die Grunaer Straße, die Dresdner "Stalinallee", wo sich weitere Bauarbeiter dem Zug anschlossen, ging es über den damaligen Fucikplatz, vorbei am Amtsgericht, über die "Brücke der Einheit" in die Neustadt zum damaligen "Platz der Einheit". Hier drängte russisches Militär die Demonstranten in Richtung Neustädter Bahnhof.

Dort wurde der Demonstrationszug von der Volkspolizei empfangen, die mit aufgepflanzten Bajonetten die Demonstranten auf Lkw prügelte. Sie fuhren mit ihnen – wie wir später erfuhren – in die Bautzner Straße zum so genannten "Russengefängnis", das von der Stasi übernommen worden war.

Gegen 14 Uhr wurde vom russischen Generalmajor Smyrnow im Bezirk Dresden der Ausnahmezustand verhängt, wonach nicht mehr als drei Personen zusammenstehen und nach 21 Uhr sich niemand mehr auf der Straße aufhalten durfte. Straßenbahnen und Busse fuhren nicht. Ich schlich mich über Nebenstraßen nach Hause.

Als ich am nächsten Tag zur Schule ging, sah ich auf den Straßen, wo gestern demonstriert worden war, SED-Parteiabzeichen – so genannte"Bonbons" – liegen.

Demonstrationen fanden in 700 Städten und Gemeinden der DDR statt. In dann folgenden Prozessen wurden die Anführer der Dresdner Demonstration zu zehn- und 15-jährigen Zuchthausstrafen verurteilt. 55 Demonstranten verloren in Berlin und der DDR ihr Leben.

Zwei in der DDR lebende Literaten äußerten sich ganz unterschiedlich zu den Ereignissen des 17. Juni.

Der Stalinist Kurt Barthel (Kuba), Sekretär des Schriftstellerverbandes der DDR, ließ am 18. Juni das Flugblatt "Wie ich mich schäme" auf der Stalinallee verteilen:
"Schämt Ihr Euch so, wie ich mich schäme? Da werdet Ihr viel und sehr gut mauern und künftig sehr klug handeln müssen, ehe Euch die Schmach vergessen wird. Zerstörte Häuser reparieren, das ist leicht. Zerstörtes Vertrauen wieder aufrichten, ist sehr, sehr schwer".
Bertold Brecht erwiderte dazu in seinen Buckower Elegien:
"Nach dem Aufstand des 17. Juni ließ der Sekretär des Schriftstellerverbandes Flugblätter verteilen, dass das Volk das Vertrauen der Regierung verscherzt habe, und es nur durch doppelte Arbeit zurückerobern könne. Wäre es da nicht einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?"

Gründe für das Scheitern

Die Demos waren nicht zentral organisiert, die Forderungen nicht einheitlich formuliert. Vergeblich war die Hoffnung auf Hilfe aus dem Westen, auf Unterstützung durch die Amis. Man hatte deren Hilfe während der Berlin-Blockade fünf Jahre zuvor noch in guter Erinnerung. Der Westen verhielt sich – wie drei Jahre später in Ungarn, 1961 beim Bau der Mauer und 1968 beim "Prager Frühling" – restriktiv. Er unterstützte die Demonstranten zwar verbal, wollte aber an der Gesamtkonstellation nichts ohne die Zustimmung der Russen ändern. Ein weiteres Indiz, dass der Volksaufstand nicht – wie vom Osten behauptet – fremdgesteuert war.

Vor nunmehr 15 Jahren, am 17. Juni 2008, wurde auf dem Postplatz aus einer Panzerkette eines T 34 ein würdiges Mahnmal errichtet. Davor steht eine Tafel mit der Aufschrift: "Zur Erinnerung an den Volksaufstand in der DDR. Hier auf dem Postplatz demonstrierten am 17. Juni 1953 Tausende Dresdnerinnen und Dresdner für Demokratie, freie Wahlen und gegen die Willkür der kommunistischen Diktatur. Nach der gewaltsamen Niederschlagung des Aufstandes wurden viele von ihnen inhaftiert und verurteilt."

Derer sollten wir gedenken, wenn auch heute der 3. Oktober – der Tag der Wiedervereinigung – und nicht mehr der 17. Juni unser Nationalfeiertag ist.



Wolfgang Jähnichen
(83, RC Berlin-Spree),

ehem. Geschäftsführer der Leipziger Verkehrsbetriebe, Falkensee