Titelthema
Von Weisheit und List
Die 36 Strategeme bilden eine unbekannte geistige Ressource von Chinesen. Will sich der Westen mit China messen, muss er sich mit ihnen beschäftigen.
Dass die 36 Strategeme im 21. Jahrhundert auf höchster chinesischer Führungsebene studiert und natürlich auch angewandt werden, bezeugt eine Fotografie, die die älteste und größte in China erscheinende englischsprachige Tageszeitung China Daily unter dem Titel „Xi Jinpings Bücherregal“ am 5. Januar 2018 veröffentlichte. Umrahmt von der „Militärgeschichte der chinesischen Volksbefreiungsarmee“ und „Vom Kriege“ von Carl von Clausewitz steht in der Mitte eine Luxusausgabe antiken Stils des circa 500 Jahre alten Traktats „Die 36 Strategeme – Das geheime Buch der Kriegskunst“. Wenn man hierzulande davon redet, man müsste mit Chinesen auf Augenhöhe agieren, dann sollte man nicht die Augen vor dem in China hoch geschätzten Strategemwissen verschließen.
Mal täuschend, mal nicht
Das Wort „Strategem“ lässt an das Wort „Strategie“ denken und mag dazu verleiten, beide Wörter als austauschbar zu betrachten. Unter „Strategie“ sollte man in Anlehnung an Carl von Clausewitz aber eine langfristige Planung verstehen, im Gegensatz zu „Taktik“, einer kurzfristigen Planung, bisweilen im Dienste einer Strategie. Aus chinesischer Sicht können Strategeme, ob im Krieg, in der Politik, in der Wirtschaft oder im Alltag, sowohl strategisch als auch taktisch eingesetzt werden.
Ich benutze „Strategem“ als neutral klingendes Alternativwort für den hierzulande oft abschätzig benutzten Ausdruck „List“. Denn in China wird List grundsätzlich positiv, als Ausweis von Klugheit, gesehen. Was aber ist eine „List“? Deren Definition im Duden bildet eine Brücke zum chinesischen Listverständnis: „List, die:[...] Mittel, mit dessen Hilfe man (andere täuschend) etwas zu erreichen sucht, was man auf normalem Wege nicht erreichen könnte [...].“
Ich erkundigte mich bei der Dudenredaktion nach der Bewandtnis der runden Klammern um „andere täuschend“ und erhielt die Antwort, so solle zum Ausdruck gebracht werden, dass die Täuschung kein Wesensmerkmal jeglicher List sei und dass es auch täuschungsfreie List gebe. Vereinfacht gesagt ist „List“ laut Duden eine schlaue, unorthodoxe, außergewöhnliche, manchmal, aber nicht immer Täuschung einsetzende Maßnahme, über die man verblüfft ausruft: „Auf so etwas wäre ich nie gekommen“! Dies entspricht dem chinesischen Listverständnis: „Chu qi zhi sheng“ = „Etwas Außergewöhnliches erzeugen [und so den] Sieg erringen.“
Vor etwa 500 Jahren, also gut 2000 Jahre nach dem im Westen bekannten Klassiker „Meister Suns Kriegskanon“, entstand in China eine Broschüre mit dem Titel „Sanshiliu Ji Miben Bingfa“ (36 Strategeme. Das geheime Buch der Kriegs- kunst). Sie besteht aus 38 Teilen, einem Vorwort, 36 Kapiteln und einem Nachwort.
Jedes Kapitel besteht aus einer Kapitelnummer (1 bis 36), einer Strategemformel, also einer Kurzumschreibung eines Strategems, einer theoretischen Erörterung des jeweiligen Strategems und einer Wiedergabe von Beispielen der Anwendung des betreffenden Strategems in der chinesischen Geschichte. Wenn man nur die Kapitelnummern und die Strategemformeln übersetzt, ergibt sich eine Liste von 36 Listtechniken, aus der ich das erste und letzte Strategem herausgreife:
1. Den Himmel täuschend das Meer überqueren / den Kaiser täuschen [indem man ihn in ein Haus am Meeresstrand einlädt, das in Wirklichkeit ein verkleidetes Schiff ist] und [ihn so dazu veranlasst,] das Meer [zu] überqueren
36. [Rechtzeitiges] Wegrennen ist [bei sich abzeichnender völliger Aussichtslosigkeit] das Beste.
Das chinesische Konzept „Moulüe“
Die 36 Strategeme sind nicht ein isoliertes Arsenal von Methoden der Wirklichkeitsgestaltung, sondern einzuordnen in das chinesische Konzept der Wirklichkeitsge- staltung „Moulüe“. In der erwähnten Fotografie von Büchern, die sich in Xi Jinpings Bibliothek befinden, ist neben dem Traktat „Die 36 Strategeme“ das Werk „Vom Kriege“ von Carl von Clausewitz zu sehen. Die 36 Strategeme enthalten lauter Anleitungen zu listigem Verhalten, wogegen sich „Vom Kriege“ mit einem winzigen Abschnitt über die List begnügt. Kombiniert man das in beiden Büchern präsentierte Wissen, dann ergibt sich Moulüe-Kompetenz.
In „Vom Kriege“ heißt es: „Die Strategie ist die Lehre vom Gebrauch der Gefechte zum Zweck des Krieges, die Taktik [ist] die Lehre vom Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht.“ Demgegenüber möchte ich Moulüe wie folgt definieren: „Moulüe ist die Lehre vom Gebrauch unlistiger und listiger Strategien und Taktiken zum Zwecke des Sieges, optimalerweise unter Vermeidung eines Krieges und daher ohne den Gebrauch der Streitkräfte.“
Man sollte nicht glauben, dass Chinesen immer nur in den Kategorien von Strategemen denken und vorgehen. Denn ein Charakteristikum von Moulüe ist die grundsätzlich stets simultan mögliche bewusste Berücksichtigung nicht nur unkonventioneller, unüblicher, insbesondere listiger, sondern auch konventioneller, allgemein üblicher Problemlösungsoptionen. Moulüe steht also über – lateinisch „supra“– routinegemäßen, transparenten, beispielsweise juristischen und außerroutinemäßigen, strategemischen Problemlösungsoptionen. Moulüe überwölbt beides. Daher übersetze ich dieses Wort mit „Supraplanung“. Moulüe eröffnet Chinesen dank der bewussten Berücksichtigung der Ressource List bei gleichzeitiger Kompetenz hinsichtlich nichtlistiger Vorgehensweisen einen viel weiteren Wahrnehmungs-, Aktions-, Reaktions- und Verhandlungsspielraum, als er westlichen Menschen zur Verfügung steht. Denn diese wollen im Allgemeinen von Listkompetenz nichts wissen. Der in China geschätzte Rat aus der wichtigsten abendländischen Schrift „Seid sanft wie die Tauben und klug wie die Schlangen“ wird hierzulande weitgehend ignoriert. Allzu schwer wiegt das schlechte Image der Schlange, die Eva überlistet hat. Offenbar wirkt auch Platon nach. Die Welt der ewigen Ideen und das Wahre befinden sich im Licht. Da gibt es keine Unklarheit. Seit Platon haben wir eine Art Lichtdenken. Die List aber hat etwas Abgründiges, Dunkles an sich. In China kann man die Tag- und Nachtseite nicht getrennt voneinander denken. Im Symbol für Yin und Yang greifen die weiße und die schwarze Hemisphäre ineinander. Beides gehört zusammen. Die helle Seite der List kommt in einem chinesischen Schriftzeichen zum Ausdruck, das abhängig von der Situation „Weisheit“, aber auch „List“ bedeutet.
Der Katalog der 36 Strategeme ist hilfreich, weil er umfassend ist. Unser Problem besteht darin, dass wir in den meisten Fällen keine Bezeichnungen für Listen haben. Uns fehlen die Worte. Ohne Worte aber kein Denken, kein Erkennen, kein durchdachter Einsatz eigener List. Und vor allem keine effiziente Gegenwehr. Feindliche Listen nehmen wir meist gar nicht wahr. Und wenn, ist es meist zu spät. Dank der Strategeme überwinden wir unsere Sprach- und Hilflosigkeit angesichts von List.
Prof. Dr. Harro von Senger
36 Strategeme für Juristen, Stämpfli Verlag, 299 S., 89 Euro,
und Moulüe – Supraplanung, Carl Hanser, 426 Seiten, 26 Euro
Dr. Harro von Senger ist Schweizer Rechtsanwalt und Professor em. für Sinologie an der Universität Freiburg. Er studierte in Taipeh (1971–73), Tokio (1973– 75) und Peking (1975–77). Er gilt als führender Strategemforscher der westlichen Welt, seine Bücher wurden in 15 Sprachen übersetzt.