Vorbild in der Pflicht
Die Bedeutung der deutsch-französischen Beziehungen für die Entwicklung Europas – vor allem auf dem Gebiet der Kultur
„Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
Das arglose Wort ist töricht.
Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.“
Seit Monaten muss ich oft an diese ersten Zeilen des Gedichts „An die Nachgeborenen“ denken. Brecht schrieb es in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre im dänischen Exil. Ja, finster ist heute unsere Gegenwart, bedrohend unsere unmittelbare Zukunft. In Frankreich haben die abscheulichen Terroranschläge von Januar und November das vergangene Jahr grausam geprägt. Es ist jetzt unvorstellbar geworden, wie dieser Bürger zu reden, der am Anfang von Goethes „Faust“ sagt:
„Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit in der Türkei,
Die Völker auf einander schlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus,
Und segnet Fried’ und Friedenszeiten.“
Ja, wie könnte man heute den Blick von den Massakern, die von dem blutrünstigen Tyrannen Assad und dem „Islamischen Staat“ begangen werden, abwenden, wenn die Lebensnot des syrischen Volkes an die Türen unseres alten Europas klopft?
Wachsende Fremdenfeindlichkeit
Aber statt Mitgefühl und Solidarität wächst in Teilen der europäischen Bevölkerung eine bedenkliche ausländerfeindliche Demagogie, die sich im Wahlgewinn der Front National in Frankreich und in einer ähnlichen Tendenz in vielen anderen Ländern, besonders im Osten Europas ausdrückt. Die uralte Suche nach einem Sündenbock. Deutschland schien glücklicherweise dieser Versuchung besser zu widerstehen. Die positive Aufnahme des Buches „Gehen, ging, gegangen“ von Jenny Erpenbeck mag ein Indiz dafür sein. Um den Migranten aus der Not zu helfen, haben erfinderische Initiativen zahlreicher hilfreicher Bürger und Bürgerinnen, sowie die begrüßenswerten Stellungnahmen der Bundeskanzlerin eine bedeutende Rolle gespielt. Da schätzte ich die Haltung von Frau Merkel, im Gegensatz zu ihrer Unnachgiebigkeit gegenüber den berechtigten Forderungen des griechischen Volkes. Auch bei der gescheiterten Migrantenpolitik muss gerade Griechenland wieder die größte Last innerhalb Europas tragen! Inzwischen lieferten der unaufhörliche Flüchtlingsstrom und die schockierenden Ereignisse der Silvesternacht in Köln ein willkommenes Argument für die Propaganda der Demagogen von Pegida und AfD.
Europa. Ein Name, der so große humanistische Ansprüche wecken kann. Ein Ideal der Völkerversöhnung, das Alfred Döblin ein paar Jahre vor seinem Tod, 1952 in einer Rede in Saarbrücken leidenschaftlich heraufbeschwor: „Europa! Die Konferenzen allein können es nicht schaffen. Der drängende, ungestüme Wille vieler muss hinzukommen, sehr vieler. Mut, Mut, tut euch zusammen.“ Leider muss man doch feststellen, dass weite Teile der europäischen Bevölkerung Europa nur als eine Maschine betrachten, die in der Anonymität von Brüsseler Büros Anordnungen diktiert, und zwar für eine Wirtschaft im Interesse der Finanzwirtschaft und nicht der sozialen Rechte und der Ökologie. Ganz zu schweigen von der totalen Undurchsichtigkeit der Verhandlungen zwischen den USA und Europa über das TTIP-Abkommen! Das trägt sicher wiederum dazu bei, aus „Europa“ einen Sündenbock zu machen!
In diesem europäischen Gefüge müsste freilich die deutsch-französische Partnerschaft eine wesentliche Rolle spielen. Sie dürfte sich aber nicht auf Wangenküsse und Umarmungen der Regierenden vor den Fernsehkameras beschränken. Die Freundschaft, die Zusammenarbeit muss ein gemeinsamer Wunsch der Bürger und Bürgerinnen der beiden Länder sein. So wie es manchmal der Fall in der jüngsten Vergangenheit war, zum Beispiel, als sich die deutsche und die französische Regierung, in Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung der beiden Länder, der fatalen Entscheidung von George Bush – leider ohne Erfolg – widersetzten, den Irak-Krieg zu entfachen. Heute ist klar, dass die schrecklichen Krisen und Kriege im Mittleren Osten zum großen Teil eine Folge dieses katastrophalen Abenteuers sind. Ich erinnere mich, dass der damalige Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten Donald Rumsfeld, von einem Journalisten befragt wurde, ob es problematisch für ihn sei, dass sich Deutschland und Frankreich seinen Kriegsplänen gegen den Irak widersetzten, antwortete, „einige Probleme mit dem alten Europa zu haben“. Darauf hatte mein Freund, der Dichter Volker Braun, dieses freche Epigramm verfasst:
„Alt sind wir ja, und erfahren,
wir Gallier und Sachsen
Ihr, Wichser in Washington,
werdet erwachsen!“
Die Barbarei, den religiösen Fanatismus, die Ablehnung der Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen kann man nicht mit Bomben besiegen, sondern in einem langen und harten Kampf, wo die deutsch-französische Zusammenarbeit eine wesentliche Rolle einnehmen sollte. Und dies vor allem in einem Bereich, der leider zu oft vernachlässigt wird, nämlich in der Kultur. Einige Monate vor den November-Attentaten hatte der Schriftsteller Boualem Sansal in einem Pariser Verlag seinen Roman „2084“ veröffentlicht, der sich als Fortführung von Orwells „1984“ versteht und die Auswüchse und Heuchelei des religiösen Radikalismus verspottet. Auch in Deutschland wurde die Bedeutung seiner Werke bereits anerkannt, indem er 2011 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde.
Es heißt, Jean Monnet, einer der Gründerväter der Europäischen Union, habe später erklärt: „Wenn ich es noch einmal zu tun hätte, würde ich mit der Kultur beginnen anstatt mit Kohle und Stahl“. Im Herbst 20I7 wird Frankreich Ehrengast der Frankfurter Buchmesse sein. Ich wünsche mir, dass dies Anlass zu zahlreichen Initiativen von Autoren und Verlegern in beiden Ländern sein wird, im Sinne eines anspruchsvollen und aufmerksamen Dialogs. In einer Welt, die der Faszination des aufdringlichen Augenblicks unterworfen ist, spielt immer noch die Literatur, die im Langzeit-Prozess entsteht und wirkt, eine wesentliche Rolle. Was bleibet aber, stiften die Dichter.
Alain Lance Deutschland, ein Leben lang, Matthes und Seitz 2012, 149 Seiten, 17,90 Euro
»Allemagne« – von Kindheit an begleitet Alain Lance dieses Wort, das er zum ersten Mal von seinem Vater hört, als dieser den kurzen Fronturlaub zu Hause verbringt. Zunächst unheilvoll, entwickelt dieses Wort bald einen eigenen Zauber und wird Lance fünf Jahrzehnte lang in den Bann schlagen: Der Lyriker, der u.a. 1968 für „Echo d’Allemagne“ tätig war und sich als Übersetzer vieler (ost-)deutscher Autoren verdient gemacht hat, beschreibt hier seinen Lebensweg als Vermittler zwischen den Kulturen.