Die militärische Intervention der russischen Luftstreitkräfte in Syrien im September 2015 bedeutete eine neue Etappe in der Entwicklung des Bürgerkrieges und eine neue Rolle der Russischen Föderation im Nahen Osten. Die Gründe, die die russische Führung zu einem für viele so unerwarteten Handeln veranlasst haben, können wie folgt dargestellt werden:
Zunächst ging es in Syrien, wo sich ein heftiger Bürgerkrieg unter großer Beteiligung von regionalen und überregionalen Kräften entfaltet hatte, darum, gegen den internationalen Terrorismus, insbesondere gegen den sogenannten Islamischen Staat und gegen die Al-Nusra-Front zu kämpfen. Letztere hat zwar vor kurzem ihren Namen geändert, nicht jedoch ihre Natur. Zugleich könnte für Russland die Bildung einer breiten internationalen Koalition unter russischer Beteiligung im Kampf gegen den gemeinsamen Feind zu einem wichtigen Schritt auf dem Weg des Abbaus der Spannungen in den Beziehungen mit den Vereinigten Staaten und den anderen westlichen Ländern werden, die aufgrund von Meinungsverschiedenheiten bei anderen internationalen Problemen entstanden sind.
Russische Interessen
Außerdem bietet sich für das russische Militär die Gelegenheit, durch die Annahme der Einladung Assads das wachsende militärische Potenzial des Landes demonstrieren, neue Waffenarten anwenden und deren Effektivität testen zu können. Entsprechend dieser Logik, die in den internationalen Beziehungen als traditionell bezeichnet werden kann, sollte in der Zukunft mit einem starken militärischen Russland gerechnet werden.
Die Bekämpfung der terroristischen dschihadistischen Organisationen hat für die Russische Föderation letztendlich auch eine innenpolitische Bedeutung. 14 Prozent der russischen Staatsbürger sind autochthone Moslems. Es ist kein Geheimnis, dass der Islamische Staat diese Bevölkerungsgruppe für die Aufstockung seiner Reihen sowie auch für die Destabilisierung der Situation in Russland aktiv zu rekrutieren versucht. Russland hat bereits tragische Erfahrungen im Kampf gegen den Terrorismus auf seinem Territorium gemacht, und daher entspricht die militärische Schwächung des Islamischen Staates und seiner Helfer in Syrien den russischen Interessen.
Hinzu kommt noch ein weiterer, für Moskau grundsätzlich wichtiger Aspekt. Russland will in Syrien auch der von den westlichen Ländern in der Vergangenheit häufiger praktizierten Politik des „Regimewechsels“ bei aktiver äußerer Einmischung entschieden entgegentreten. Dabei geht es nicht nur um eine breit angelegte Definition der Souveränität und die Einmischung in innere Angelegenheiten anderer Länder, sondern auch um die Unfähigkeit einiger westlicher Länder, die Folgen ihrer Handlungen unter den Bedingungen einer brüchigen Staatlichkeit, der Schwäche der institutionellen Einrichtungen und der Überlegenheit der ethnisch-konfessionellen Identität im Nahen Osten zu bedenken. Unter diesen Bedingungen kann die gewaltsame Befreiung eines Landes von einem ungeliebten Führer bei völliger Abwesenheit weiterer Verpflichtungen hinsichtlich des Wiederaufbaus des Landes nur dazu geeignet sein, Chaos zu hinterlassen.
Moskaus „rote Linien“
Vom Standpunkt der russischen Führung aus betrachtet wurde die Operation der NATO in Libyen, die zur Vernichtung von Gaddafi führte, zur „roten Linie“. Diese drohte, den „Regimewechsel“ in ein universelles Instrument zu verwandeln, das nicht nur auf den Nahen Osten beschränkt war. In diesem Zusammenhang war Russland kategorisch gegen den Sturz von Assad. Er war für Russland kein Verbündeter, sondern er bot vielmehr die Möglichkeit, die Staatlichkeit und das weltliche Regime in Syrien aufrecht zu erhalten, wo ansonsten nur ganz „unfähige“ Islamisten hätten tätig sein können.
Die Koordinierung der Kräfte mit den USA, die das erstrangige Ziel war, wurde davon geleitet, dass diese Möglichkeit bei dem ganzen Ausmaß der Entwicklung der Ereignisse in Syrien weder für Washington noch für Russland außenpolitische Priorität besaß. Weder die eine noch die andere Seite war bei dieser Kräftebündelung an Verpflichtungen gebunden, die zur Bildung von polaren und einseitigen Positionen beigetragen hätte. Sogar bei der Unterstützung verschiedener Parteien im Konflikt wäre den Supermächten Freiraum für ihre Manöver geblieben. Diese Umstände machten gemeinsame Resolutionesentwürfe des UN-Sicherheitsrates möglich (zum Beispiel 2254), den Beginn des Genfer Prozesses und die Schaffung gemeinsamer Kontrollstrukturen und Waffenstillstandsvereinbarungen.
Brüchige Waffenruhen
Allerdings erwiesen sich die erzielten Vereinbarungen zwischen den Außenministern Lawrow und Kerry im September 2016, die den Weg zu einer Belebung der politischen Verhandlungen öffnen sollten, als zu brüchig. Die Analyse der Geschehnisse, besonders der aktuellen, führt zu dem logischen Schluss, dass der Konflikt trotz der heftigen Kämpfe in Aleppo keine militärische Lösung haben wird. Selbst die etwaige Einnahme der Stadt durch die Regierungstruppen, die zur Änderung des Gleichgewichts der Kräfte zum Vorteil der siegreichen Seite führen würde, würde den Krieg nicht beenden. Sie würde auch nicht die Forderung „Assad forever“ gewährleisten. Regionale Mächte, für die der Kampf gegen Assad – und auch der Kampf gegen den schiitischen Iran – Priorität besitzt, würden damit fortfahren, die Opposition mit Waffen zu beliefern. Ihre Reihen würden gefüllt durch Unfreiwillige oder durch Menschen, die einfach keine anderen Möglichkeiten haben. Die Motivation der Kämpfer kann unter den Bedingungen einer großen Hoffnungslosigkeit durchaus wachsen.
Formell war der Bruch des Waffenstillstandes das Ergebnis der Bombardierung der syrischen Truppen, den die USA als „Fehler“ bezeichnet hat, sowie der Überfall auf den Hilfskonvoi in Aleppo, wobei die USA die russische Seite beschuldigt hat, den syrischen Truppen Hilfestellung geleistet zu haben. Tatsächlich aber war der Hauptgrund, der zur Beendigung der gegenseitigen Unterstützung auf politischer Linie führte, das steigende Misstrauen. Das Misstrauen stieg unter dem Einfluss der harten Linie der Partner und bei der Ausweitung der militärischen Einsätze weiter an. Dabei halten das Pentagon und auch das russische Verteidigungsministerium nach wie vor engen Kontakt zueianander. Das „Memorandum zum gegenseitigen Verständnis“ wirkt trotz der Meinungsverschiedenheiten sehr effektiv, wodurch das Risiko für die Besatzungsmitglieder der eigenen Flugzeuge minimiert wird.
Neben den beiderseitigen Meinungsverschiedenheiten spielte auch die wachsende Unabhängigkeit der USA und der Russischen Föderation von den lokalen Partnern eine entscheidende Rolle. Das, was im Nahen Osten oft als „Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt“ bezeichnet wird, ist gut bekannt. Aber in der Situation um Aleppo wedeln die Schwänze besonders heftig. Sowohl für die Opposition als auch für die syrische Führung hat der Kampf um Aleppo existenziellen Charakter. Und dabei spielt der Preis weder für die einen noch für die anderen eine größere Rolle. Während des Bürgerkrieges in Syrien starben nach Schätzungen etwa 300.000 bis 400.000 Menschen, Millionen wurden zu Flüchtlingen und die Toleranzgrenze zu Grausamkeit und Gewalt verschwindet immer mehr. Im Kampf für ihre Interessen machen die Gegner weder vor dem Tod ihrer Landsleute halt, noch davor, dass die Supermächte aneinander geraten.
Die Russische Föderation und die USA verwandeln sich immer mehr von Schiedsrichtern zu Geiseln dieses Konfliktes. Die Einsätze steigen. Die Gefahr, das auf die syrischen Truppen und auf die Flugplätze Anschläge durch die Koalition verübt werden, hat die Russische Föderation veranlasst, auf ihrer Basis C-300 Raketen zu stationieren. Die Parteien bewegen sich nach den alarmierenden Mitteilungen der Medien und nach den Aussagen einzelner politischer Führer in Richtung direkter Konfrontation. Eine besondere Rolle spielt hier der Wahlkampf in den USA, der die amerikanischen Vertreter zu eindeutigen Drohungen an die Adresse Russlands veranlasst, wobei die russische Führung immer intoleranter wird, dies hinzunehmen. Auch bei der UN wird der Grad der diplomatischen Hysterie immer größer. Die europäischen Staaten versuchen nicht nur, die Situation nicht auszugleichen, sondern Russland auch noch mit neuen Sanktionen zu belegen.
Balancieren am Abgrund
Die Rechnung Russlands auf eine beständige Koordination der Bemühungen mit den USA in Syrien ist nicht aufgegangen. Beide Mächte haben die Möglichkeit verstreichen lassen, die Intensität der gegenseitigen Beleidigungen und des Missverständnisses zumindest teilweise herabzusetzen. Und dies hat im syrischen Konflikt zu dieser besonderen Situation geführt, die sich unter dem Einfluss lokaler Realitäten verstärkt hat.
Das Balancieren am Abgrund kann eine Methode sein, bestimmte einseitige Vorteile zu erhalten. Es kann aber auch zu unvorhersehbaren Folgen führen. Weder Russland noch die USA haben aber ein Interesse daran, dass es zwischen ihnen zur Konfrontation um Syrien kommt. Der Bürgerkrieg kann sehr lange fortgesetzt werden – zu viele regionale Interessen sind an Syrien geknüpft. Weder ein Regimewechsel in Damaskus noch die Aufrechterhaltung des Regimes sind der Preis, um den man kämpft. Der Preis des Bruchs der gesamten Friedensordnung wäre zu hoch. Es ist aber davon auszugehen, dass es bei aller Schärfe der gegenseitigen Rhetorik nicht dazu kommen wird.