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Titelthema: Syriens Dilemma

Was lief falsch in Syrien?

Moskaus Werk und Washingtons Beitrag. Eine Analyse der jüngsten Etappen des Bürgerkrieges aus russischer Sicht.

Irina Zwjagelskaja28.10.2016

Die militärische Intervention der russischen Luftstreitkräfte in Syrien im September 2015 bedeutete eine neue Etappe in der Entwicklung des Bürgerkrieges und eine neue Rolle der Russischen Föderation im Nahen Osten. Die Gründe, die die russische Führung zu einem für viele so unerwarteten Handeln veranlasst haben, können wie folgt dargestellt werden:

Zunächst ging es in Syrien, wo sich ein heftiger Bürgerkrieg unter großer Beteiligung von regionalen und überregionalen Kräften entfaltet hatte, darum, gegen den internationalen Terrorismus, insbesonde­re gegen den sogenannten Islamischen Staat und gegen die Al-Nusra-Front zu kämpfen. Letztere hat zwar vor kurzem ihren Namen geändert, nicht jedoch ihre Natur. Zugleich könnte für Russland die Bildung einer breiten internationalen Koalition unter russischer Beteiligung im Kampf gegen den gemeinsamen Feind zu einem wichtigen Schritt auf dem Weg des Abbaus der Spannungen in den Beziehungen mit den Verei­nigten Staaten und den anderen westlichen Ländern werden, die aufgrund von Meinungsverschiedenheiten bei anderen internationalen Problemen entstanden sind.

Russische Interessen
Außerdem bietet sich für das russische Militär die Gelegenheit, durch die Annahme der Einladung Assads das wachsende militärische Potenzial des Landes demonstrieren, neue Waffenarten anwenden und deren Effektivität testen zu können. Entsprechend dieser Logik, die in den internationalen Beziehungen als traditionell bezeichnet werden kann, sollte in der Zukunft mit einem starken militärischen Russland gerechnet werden.

Die Bekämpfung der terroristischen dschihadistischen Organisationen hat für die Russische Föderation letztendlich auch eine innenpolitische Bedeutung. 14 Prozent der russischen Staatsbürger sind autochthone Moslems. Es ist kein Geheimnis, dass der Islamische Staat diese Bevölkerungsgruppe für die Aufstockung seiner Reihen sowie auch für die Destabilisierung der Situation in Russland aktiv zu rekrutieren versucht. Russland hat bereits tragische Erfahrungen im Kampf gegen den Terrorismus auf seinem Territorium gemacht, und daher entspricht die militärische Schwächung des Islamischen Staates und seiner Helfer in Syrien den russischen Interessen.

Hinzu kommt noch ein weiterer, für Moskau grundsätzlich wichtiger Aspekt. Russland will in Syrien auch der von den westlichen Ländern in der Vergangenheit häufiger praktizierten Politik des „Regime­wechsels“ bei aktiver äußerer Einmischung entschieden entgegentreten. Dabei geht es nicht nur um eine breit angelegte Definition der Souveränität und die Einmischung in innere Angelegenheiten anderer Länder, sondern auch um die Unfähigkeit einiger westlicher Länder, die Folgen ihrer Handlungen unter den Bedingungen einer brüchigen Staatlichkeit, der Schwäche der institutionellen Einrichtungen und der Überlegenheit der ethnisch-konfessionellen Identität im Nahen Osten zu bedenken. Unter diesen Bedingungen kann die gewaltsame Befreiung eines Landes von einem ungeliebten Führer bei völliger Abwesenheit weiterer Verpflichtungen  hinsichtlich des Wiederaufbaus des Landes nur dazu geeignet sein, Chaos zu hinterlassen.
    
Moskaus „rote Linien“
Vom Standpunkt der russischen Führung aus betrachtet wurde die Operation der NATO in Libyen, die zur Vernichtung von Gaddafi führte, zur „roten Linie“. Diese drohte, den „Regimewechsel“ in ein universelles Instrument zu verwandeln, das nicht nur auf den Nahen Osten beschränkt war. In diesem Zusammenhang war Russland kategorisch gegen den Sturz von Assad. Er war für Russland kein Verbündeter, sondern er bot vielmehr die Möglichkeit, die Staatlichkeit und das weltliche Regime in Syrien aufrecht zu erhalten, wo ansonsten nur ganz „unfähige“ Islamisten hätten tätig sein können.

Die Koordinierung der Kräfte mit den USA, die das erstrangige Ziel war, wurde davon geleitet, dass diese Möglichkeit bei dem ganzen Ausmaß der Entwicklung der Ereignisse in Syrien weder für Washington noch für Russland außenpolitische Priori­tät besaß. Weder die eine noch die andere Seite war bei dieser Kräftebündelung an Verpflichtungen gebunden, die zur Bildung von polaren und einseitigen Positionen beigetragen hätte. Sogar bei der Unterstützung verschiedener Parteien im Konflikt wäre den Supermächten Freiraum für ihre Manöver geblieben. Diese Umstände machten gemeinsame Resolutionesentwürfe des UN-Sicherheitsrates möglich (zum Beispiel 2254), den Beginn des Genfer Prozesses und die Schaffung gemeinsamer Kontroll­struktu­ren und Waffenstill­standsvereinbarungen.

Irina Zwjagelskaja
Prof. Dr. Irina Zwjagelskaja ist Leiterin des Instituts für Orientalische Studien an der Russischen Akademie der Wissenschaften, Professorin am  Institut für Internationale Beziehungen sowie am Institut für Afrikanische und Asiatische Studien der Lomonossow-Universität Moskau. mgimo.ru