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Weggucken geht nicht mehr

Rotary Aktuell - Weggucken geht nicht mehr
Christoph Heusgen © UN Photo/Loey Felipe

Die Zeiten des Windschattenfahrens sind endgültig vorbei. Deutschland hat eine weltpolitische Verantwortung, der es gerecht werden muss.

30.12.2021

Als ich 1975/76 mit der Unterstützung eines wunderbaren Stipendiums der Rotary Foundation für ein Jahr in den USA studieren konnte, war die Welt noch eine andere. Die USA waren trotz des Vietnam-Desasters unangefochten die Weltmacht Nummer eins. China war ein in sich gekehrtes Entwicklungsland, Russland zwar eine militärische Großmacht, befand sich jedoch auf dem wirtschaftlichen Abstieg. Der verlorene Afghanistankrieg schwächte das Land weiter. Als sich Glasnost und Perestroika durchsetzten, zerbrach das alte Sowjetreich.

Mit dem Ende des Kalten Krieges, der deutschen Wiedervereinigung und der Überwindung der Spaltung Europas erwuchs die Hoffnung, dass das 21. Jahrhundert ein friedlicheres würde als sein Vorgänger. Diese Hoffnung wurde enttäuscht. Die Balkankriege, der Völkermord in Ruanda, die Kriege in Afghanistan, Irak, Syrien, Jemen, Südsudan, Myanmar, Libyen und in zahlreichen weiteren Ländern und Regionen verursachten Flüchtlingsströme ungeahnten Ausmaßes und unvorstellbares menschliches Leid. 

Im Unterschied zum 20. Jahrhundert, als die USA als ordnende Macht intervenierten, wenn Entwicklungen aus dem Ruder zu laufen drohten, ist die Konstellation heute eine andere. Die USA, lange Zeit traumatisiert vom „11. September“, frustriert vom Ergebnis ihrer Militäroperationen in Afghanistan, Irak und Libyen, ziehen sich zurück. Darüber hinaus ist das Land zutiefst gespalten. Zwischen den Trump-Republikanern und den Demokraten verlaufen tiefe, fast unüberbrückbare Gräben. Die Einkommensunterschiede zwischen Armen und Reichen sind die ausgeprägtesten aller Demokratien und führen zu Polarisierungen – zusätzlich angefacht durch die sozialen Medien. Unerledigte Hausaufgaben türmen sich auf: die Miseren des öffentlichen Bildungswesens und des Gesundheitssystems, die dringend notwendige Reparatur der vielerorts maroden Infrastruktur, ihre Anpassung an die landesweit spürbaren Auswirkungen des Klimawandels.

Heimische Probleme stehen in den USA im Vordergrund

Präsident Biden ist sich dieser immensen Herausforderungen bewusst. Gleichzeitig macht ihm die Spaltung im Kongress, ja in seiner eigenen Partei das Leben schwer, zögert die Verabschiedung der erforderlichen tiefgreifenden Maßnahmen hinaus oder verhindern sie sogar. Kein Wunder also, dass der Präsident der Außenpolitik nicht die gleiche Aufmerksamkeit schenkt, wie wir uns das wünschten. Der Ausstieg Hals über Kopf aus Afghanistan, der vom größten Teil der US-Bevölkerung begrüßt wurde, verdeutlicht, wie sehr heute in den USA die heimischen Probleme im Vordergrund stehen. 

Gleichzeitig hat sich die Konstellation auf der Welt verändert. China ist nicht mehr das introvertierte Entwicklungsland. Es hat sich zum selbstbewussten Wirtschaftsgiganten entwickelt, der versucht, sein Einflussgebiet zu erweitern und der Weltgemeinschaft seine Prinzipien zu oktroyieren. Und Russland hat seinen Niedergang aufgehalten, will an die Größe und das Gewicht der Sowjetunion Stalins anknüpfen, wobei es nicht davor zurückschreckt, Waffengewalt einzusetzen.

Es ist diese Weltlage, in der die nächste Münchner Sicherheitskonferenz Mitte Februar wieder stattfindet. Und es ist in dieser Lage, in der die neue Bundesregierung Tritt fassen und Verantwortung übernehmen muss. „München“ wird der neuen Bundesregierung Gelegenheit geben, ihre Positionen gegenüber einem internationalen Publikum darzulegen, Kontakte zu knüpfen und zu pflegen, die Einschätzungen anderer Akteure zu erfahren. 

Bei ihren Gesprächen werden die Vertreter der neu gewählten Bundesregierung mit hohen Erwartungen an Deutschland konfrontiert. Weggucken geht nicht mehr. War das Windschattenfahren in den Zeiten des Kalten Krieges zweifellos das richtige Verhalten, so geht das heute nicht mehr! Die Wiedervereinigung liegt 30 Jahre zurück, Deutschland ist eine gefestigte Demokratie, die ihre furchtbare Geschichte aufgearbeitet hat. Deutschland ist die weltweit viertstärkste Wirtschaftskraft. Deutschland verfügt über hohes weltweites Ansehen als ein dem Allgemeingut verpflichteter Partner, von dem eine stärkere Rolle im Konzert der Nationen erwartet wird.

Aktives deutsches Handeln muss ausgebaut werden

In diese Rolle ist Deutschland schon in einem nicht unbeträchtlichen Ausmaß hineingewachsen. Deutschland ist zweitgrößter Geber des UN-Systems. Wir unterstützen massiv UN-Organisationen wie das World Food Programme, UNICEF, die Entwicklungsorganisation UNDP, das humanitäre Hilfsprogramm OCHA. Nach der russischen Invasion der Ukraine 2014/15 waren es Deutschland und Frankreich, die mit dem Minsk-Abkommen zumindest einen Stopp des russischen Vormarsches und eine Verhandlungsbasis für eine Entschärfung des Konfliktes auf die Beine gestellt haben. Deutschland hat gemeinsam mit den Vereinten Nationen mit der Libyenkonferenz in Berlin Anfang 2020 einen Waffenstillstand erreicht und den Weg zu einer politischen Lösung eröffnet. Mit dem Berliner Prozess hatte die alte Bundesregierung ein Forum geschaffen, in dem alle Staaten des Westbalkan zusammenkommen und die vielen ungelösten Probleme in diesem Teil Europas zur Sprache kommen. Es gibt viele weitere Ansätze für ein aktives deutsches Handeln, die es auszubauen gilt.

Deutschland trägt heute weltpolitische Verantwortung. Unser Land muss diese Rolle bei den globalen Herausforderungen wie Klimawandel und Pandemiebekämpfung spielen. Gleiches gilt für das Erreichen der langfristigen Entwicklungsziele, der „Sustainable Development Goals“ (SDGs). Ein weiterer Schwerpunkt unserer Arbeit muss in der Stabilisierung und Entwicklung der unmittelbaren Nachbarschaft der Europäischen Union liegen, das heißt Osteuropa, westlicher Balkan, die Mittelmeerregion und Nordafrika. Instabilitäten in diesen Räumen haben auch unmittelbare Auswirkungen auf unsere Sicherheit, unser Wohlergehen. Die sich auf den asiatisch-pazifischen Raum konzentrierenden USA können zu Recht hier eine Entlastung einfordern. 

Deutsches Engagement sollte – so lehrt es uns die Geschichte – immer eng abgestimmt mit Frankreich sein und möglichst im EU-Rahmen erfolgen. Der Ausdruck „Team Europe“ steht für diese europäische Zusammenarbeit. Bei vielen Fragen sollte der Rahmen weitergezogen werden und die G7-Staaten (also neben der EU, Frankreich, Großbritannien und Italien auch die USA, Kanada und Japan) einbeziehen. Wichtig ist es, die Partnerschaften weltweit auszudehnen. Das hat auch viel zu tun mit dem weltweiten Systemwettbewerb, in dem wir uns befinden. 

Die Volksrepublik China versucht derzeit, die internationale Rechtsordnung neu zu interpretieren. Dabei nehmen China (und Russland) gerne unsere eigene Argumentation auf. Wenn wir von „westlichen Werten“ sprechen und auf ihre Einhaltung pochen, hält uns China entgegen, dass es nicht seine Werte sind, dass sich im Übrigen der „Westen“ im Niedergang befinde und chinesische beziehungsweise asiatische Werte im Aufwind. In diese Falle dürfen wir nicht tappen. Das Denken in Kategorien von „Ost“ und „West“ steht in der Logik des Kalten Krieges. Und dieser ist seit 30 Jahren vorbei! Die Basis unseres Handelns sollte immer die Charta der Vereinten Nationen sowie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sein. Diese sind das Fundament einer universellen Rechtsordnung. Sie gilt für Europa, die USA, Russland und China. 

China und Russland wollen diese Ordnung verkürzen auf das Souveränitätsprinzip. Aufgrund dieser Verkürzung wollen sie die von ihnen so bezeichnete Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates unterbinden. Damit meinen sie einen Freibrief zu haben für die Unterdrückung der Uighuren, Tibeter und anderer Minderheiten in ihrem Land. Und Putin verteidigt das syrische Assad-Regime auf die gleiche Weise: Foltergefängnisse und die Bombardierung der eigenen Bevölkerung sind nichts, um das sich die internationale Staatengemeinschaft kümmern darf – das steht im Belieben Assads. Dieser darf seinerseits die Russen zur Unterstützung ins Land holen, die dann ihrerseits machen dürfen, was sie wollen, wie zum Beispiel Krankenhäuser bombardieren, wie es die New York Times recherchiert hat. 

Handeln auf Grundlage internationalen Rechts

Die Verkürzung auf das Souveränitätsprinzip ist völkerrechtlich unzulässig; die allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die die Individualrechte schützt, ist, wie erwähnt, neben der Charta das zweite Fundament der internationalen regelbasierten Ordnung, die es als Grundlage politischen Handelns zu beachten gilt. Der Schutz der Menschenrechte ist kein Ausdruck westlicher Werte, es ist eine universelle Verpflichtung. Wie die Chinesen mit den Uighuren umgehen, wie Assad mit seiner Bevölkerung, was mit den Tartaren auf der Krim, den Rohingya in Myanmar geschieht, geht die ganze Völkergemeinschaft an. Das Handeln auf der Grundlage internationalen Rechts sollte Dreh- und Angelpunkt der Politik einer neuen Bundesregierung sein, die sich im Systemwettbewerb mit Russland und China auf eine möglichst große Allianz gleichgesinnter Staaten aus allen Kontinenten stützen sollte. 

Der Schutz der Menschenrechte, die Verhinderung von Straflosigkeit für Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind auch Themen für die Münchner Sicherheitskonferenz. Es geht im Übrigen um einen erweiterten Sicherheitsbegriff – deswegen stehen die Auswirkungen des Klimawandels auf die Sicherheit und Gesundheitsthemen auf der Tagesordnung. Gleiches gilt für die hybride Kriegsführung und Cyberangriffe auf unsere Infrastruktur. 

Bleibt zu hoffen, dass die Pandemie die Durchführung der MSC überhaupt erlaubt. Die MSC ist mehr als eine Aneinanderreihung von Vorträgen und Diskussionen zu einem breiten Themenbereich, die zur Not auch virtuell stattfinden können. Es geht auch und vor allem um die Möglichkeit des persönlichen Austauschs, der vertraulichen Gespräche, ja von Verhandlungen auch zwischen Gegnern. Bei allen auch grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten ist eines ganz wichtig: im Gespräch zu bleiben. 

Christoph Heusgen


Zur Person:

Dr. Christoph Heusgen war ab 2005 außen- und sicherheitspolitischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Von 2017 bis 2021 war der Diplomat Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen. In diesem Februar übernimmt er den Vorsitz der Münchner Sicherheitskonferenz von Wolfgang Ischinger.