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Wehrtürme und hohe Berge

Forum - Wehrtürme und hohe Berge
Malerisch liegt das Bergdorf Uschguli im Hohen Kaukasus © Adobe Stock (3) Tawatchai1990, Aleksandar Todorovic, Sergejson

Swanetien im Großen Kaukasus zieht immer mehr Gäste an. Noch lässt sich die Region ganz ursprünglich erleben.

Dietmar Schumann01.02.2024

Wer Ruhe und Einsamkeit sucht, rustikale Bergdörfer weit weg von lärmenden Metropolen, wer durch abgelegene Bergtäler am Fuße von Fünftausendern wandern möchte, der ist in Swanetien genau richtig. Zugegeben: Die Anreise in die Hochgebirgsregion im Norden von Georgien ist beschwerlich. Man benötigt ein geländegängiges, möglichst allradgetriebenes Auto und eine gute körperliche Verfassung, um die Fahrt auf den unbefestigten Pisten hoch nach Uschguli, mit 2200 Metern über dem Meeresspiegel das höchstgelegene Dorf Georgiens, unbeschadet zu überstehen. Dort angekommen, wird man für diese Strapazen allerdings im Übermaß entschädigt: Traumhafte Landschaft, beschilderte Wanderrouten, gut eingerichtete Gästehäuser mit freundlichen Gastgebern, WLAN selbst in der entlegensten Hütte, köstliches Essen überall.

Uschguli – die Perle Swanetiens

2024, Wehrtürme und hohe Berge, georgien
Die Gergeti-Dreifaltigkeitskirche

In Uschguli trifft unsere kleine Reisegruppe Tariel Nicharadse (70). Im Haus des früheren Kolchos-Agronomen hatten die ersten Gäste aus Deutschland schon vor 30 Jahren übernachtet. „Das war für uns etwas völlig Neues“, sagt Nicharadse. „Wir lebten in einfachen Häusern aus Feldsteinen, viele Familien mit den Haustieren unter einem Dach. Die Sowjetmacht hatte in Swanetien nie richtig Einzug gehalten. Wir lebten nach unseren eigenen Gesetzen. Noch bis vor 50 Jahren wurden die Ehen arrangiert von den Familienoberhäuptern. Es gab Blutrache. Und dann bringt dieser Rainer Kaufmann uns plötzlich Deutsche hierher. Aber der Gast ist von Gott gesandt. Er ist uns Swanen heilig.“ Herr Nicharadse schenkt Tschatscha (georgischen Trester) ein, seine Enkelin bringt frisch gebackenen Chatschapuri (mit Käse gefülltes Fladenbrot). Wir stoßen an auf den Fremdenverkehr in Swanetien, der in seinem Haus begann. Im Jahr 2023 kamen etwa 5000 Ausländer nach Uschguli. Die meisten aus Deutschland und Israel. Viele Bauern haben in den letzten Jahren Pensionen und Gästehäuser eingerichtet. Das gilt in Georgien als bäuerlicher Nebenbetrieb und wird nicht besteuert. Eine Übernachtung mit Halbpension kostet in den Gästehäusern 90 GEL (Georgische Lari), etwa 30 Euro.

In Uschguli beginnen zahlreiche Wanderwege. Einer führt etwa drei Kilometer weit zum Schchara-Gletscher am Fuß des höchsten Berges Georgiens (5200 Meter). Auf einer Trekkingroute kommt man in mehreren Etappen über 45 Kilometer von Uschguli über das Bergdorf Iprali hinab in die Kreisstadt Mestia. Kurz vor Iprali kommen die Wanderer durch den Weiler Chalde. Eine kleine Ausstellung erinnert dort an ein brutales Verbrechen der zaristischen russischen Kolonialarmee an der swanischen Bevölkerung. Im Jahr 1875 hatten die Bauern von Chalde gegen eine massive Erhöhung von Steuern und Abgaben protestiert. Als russische Steuereintreiber anrückten, wurden sie von 40 bewaffneten Swanen vertrieben. Daraufhin entsandte die Garnison Kutaissi 1200 Soldaten mit schwerer Artillerie. Chalde wurde in Schutt und Asche gelegt, die Widerständler erschossen, die Überlebenden des Massakers nach Sibirien verbannt.

Kühe auf der Weide, Touristen im Haus

Den Weiler Adishi in über 2000 Meter Höhe hatte 1987 eine Lawine zerstört. Die Überlebenden wurden von der Regierung umgesiedelt, bekamen Wohnungen und Land im Osten Georgiens. Einige aber blieben, bauten ihre Steinhäu ser und Ställe wieder auf. Auch Tarsan Kaldani (69) und seine Frau Nino. Sie besitzen acht Kühe und ein Gästehaus, in dem sie in den Sommermonaten 15 Touristen beherbergen. Er bittet uns in die Küche seines Hauses und begrüßt uns mit köstlichem Telawi-Rotwein. „Die Öffnung der swanetischen Berge für Touristen hat zwei Seiten“, meint Kaldani. „Es kommt Geld in unsere Dörfer und in die Familien. Das ist gut so. Aber wenn zu viele Menschen zu uns kommen, befürchte ich, wird es die Natur verändern, und das ist schlecht.“ Die Familie Kaldani verdient gut. Ihr Gästehaus ist fünf Monate im Jahr geöffnet und bringt ihnen umgerechnet etwa 60.000 Euro Gewinn ein. Nicht schlecht für Georgien, wo das mittlere Monatseinkommen bei 300 Euro liegt. „Sanfter Tourismus: ja“, sagt Tarsan Kaldani, „Massentourismus: nein. Doch die Regierung will das offenbar, weil es viel Geld in die Kassen des Staates und einiger Oligarchen spülen könnte.“ Wichtig wären für Swanetien eine funktionierende Müllentsorgung und ein Abwasserklärsystem. Beides gibt es bisher nicht.

Dafür investiert der georgische Staat in den Straßenausbau. Von Mestia aus wird der westliche Anfahrtsweg asphaltiert, von Lentechi aus über den Zagar-Pass der südliche. In drei bis vier Jahren sollen die Straßen fertig sein. Dann wird man mit jedem Pkw bis hoch in die Berge kommen, was ein Anwachsen der Besucherzahlen garantiert. Auch der visafreie Reiseverkehr und Direktflugverbindungen mit China seit September 2023 könnten Massen an Touristen in die Hochgebirgsregionen Georgiens locken. Wer also Swanetien noch in seiner ursprünglichen, fast archaischen Form erleben möchte, der sollte sich alsbald auf den Weg machen.


Reiseinformationen 

Tipps für eine Reise nach Swanetien
Anreise über Tiflis: Lufthansa fliegt direkt, Turkish Airlines mit Zwischenstop in Istanbul. Von Tiflis nach Uschguli mit dem Auto in zwölf bis 14 Stunden, es empfielt sich eine Übernachtung in Kutaissi oder Sugdidi.

Allein oder organisiert reisen?
Beides geht. Problemlos, preiswert, individuell oder in kleinen Gruppen kommt man mit deutschen Reiseveranstaltern nach Swanetien.

Georgien-Reisespezialisten
• Erka Reisen GmbH (erkareisen.com, +49 7257/93 03 90)
• Alko Kulturreisen GmbH (alko-kulturreisen.de, +49 2431/70 135)
• Georgia Insight (georgia-insight.eu, +995 559/08 45 00)
• Kaukasus-Reisen (kaukasus-reisen.de, +995 599/57 05 54)

Beste Reisezeit
Mai/Juni, September/Oktober

Ausrüstung
Gute Trekkingschuhe, wetterfeste Kleidung und etwas georgisches Bargeld. Geld lässt sich tauschen in Tiflis, Kutaissi oder Sugdidi (1 Euro = 2,8 bis 3 GEL)

Geheimtipp
Den georgischen Spielfilm „Dede“ ansehen! Läuft mehrmals am Tag in einigen Kinos. Gedreht 2017 in Uschguli mit vielen Laien-Darstellern. Zeigt sehr anschaulich die patriarchale Ordnung der Swanen und die Unterdrückung der Frauen in den Gebirgsdörfern, die noch vor wenigen Jahrzehnten das Leben im Hohen Kaukasus prägten.

Dietmar Schumann

Dietmar Schumann war unter anderem mehrjähriger Moskau-Korrespondent des Deutschen Fernsehfunks DFF und nach dem Mauerfall des ZDF. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet.

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