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Wohin driftet Georgien?

Forum - Wohin driftet Georgien?
Panoramablick auf Tiflis, Georgien © Adobe Stock Monticellllo

Die EU hat die Tür für die Kaukasus-Republik weit aufgestoßen. Doch auch an China und Russland hat Georgien weiterhin starkes Interesse.

Dietmar Schumann01.02.2024

Der Jubel war groß, und er war echt. Zehntausende Georgier feierten am 15. Dezember 2023, dass die Europäische Union ihre Tür für die kleine Republik im Kaukasus geöffnet hat. Georgien hat den Kandidatenstatus erhalten. Regierungschef Garibaschwili sprach von einem „historischen Moment“. Auf dem Freiheitsplatz von Tiflis spielte ein Orchester die Europa-Hymne und in vielen Kneipen wurde kostenloser Schnaps ausgeschenkt.


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Ich bin unlängst durch ganz Georgien gereist, habe mit Dutzenden Menschen gesprochen, mit jungen und alten Leuten, mit Regierungsnahen und Oppositionellen. Fast alle, nach meiner Schätzung etwa 90 Prozent, befürworten eine EU-Mitgliedschaft Georgiens. Mögliche finanzielle Hilfen für ihr Land spielen dabei kaum eine Rolle. Die Georgier wollen einfach dazugehören zur großen Familie der Europäer. Nur vereinzelt sind Gegenstimmen und Zweifel zu hören: Was haben wir der EU schon zu bieten außer Wein, Haselnüssen und Mangan-Erz? Was wird aus unseren Käseproduzenten, die nicht nach EUNorm arbeiten? Sollten wir nicht eher eine „Schweiz des Kaukasus“ werden, als uns politisch und ökonomisch Brüssel zu unterwerfen? Werden wir die Russen verärgern mit unserer Anbindung an die EU?

Ruhepol in konfliktreicher Region

In der Tat befindet sich Georgien in einem schwierigen geopolitischen Umfeld. Seine Nachbarn Aserbaidschan und Armenien sind seit Jahrzehnten in einer militärischen Fehde um Bergkarabach. Der Nachbarstaat Türkei ist auf Expansionskurs im Kaukasus. Und Russland, der große Nachbar im Norden? Er hält ein Fünftel des georgischen Territoriums besetzt, Abchasien und Südossetien, und führt Krieg in der Ukraine. Wie soll sich die Regierung in Tiflis in dieser Lage positionieren? Etliche EU-Politiker unterstellen ihr eine zu starke Nähe zu Moskau. Sie kritisieren, dass sich Georgien den Sanktionen gegen Russland nach dessen Überfall auf die Ukraine nicht angeschlossen habe. Sie bemängeln, dass Russen visafrei nach Georgien einreisen dürfen und der Flugverkehr mit Russland im letzten Jahr wieder aufgenommen wurde. Was von diesen Kritikern gern unerwähnt bleibt: Die georgische Regierung hat den russischen Überfall auf die Ukraine scharf verurteilt. Sollte sie sich aber den Sanktionen anschließen, würde fast der gesamte Außenhandel Georgiens zusammenbrechen. Hauptabnehmer georgischer Exportprodukte ist Russland. Zum Beispiel werden über 80 Prozent des Weines dorthin geliefert.

Würde das Transitland Georgien den Lkw-Verkehr zwischen der Türkei, dem Iran und Russland unterbinden, würde sich das Land einer sprudelnden Geldquelle berauben. Westliche Kritiker unterschlagen auch gern, dass geschätzte 600.000 Georgier in Russland leben und arbeiten. Seit der Zarenzeit sind viele Georgier dort ansässig und aktiv in Politik, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft. Man denke nur an Stalin, Berija und Schewardnadse. Viele Georgier sind auf die Geldüberweisungen ihrer Familienmitglieder aus Russland angewiesen. All dies sollte man bedenken, bevor man vorschnelle Urteile fällt. Auch über den Milliardär Bidsina Iwanischwili, den starken Mann hinter der Regierungspartei „Georgischer Traum“. Der habe seine Milliarden in Russland gemacht und sei ein Mann des Kreml, ist in westlichen Medien zu lesen. Das Erste stimmt, das Zweite ist unbewiesen. „Deutsche Befürchtungen über eine zu starke Bindung von Iwa nischwi li und der georgischen Regierung an Russland sind unbegründet“, urteilt Otar Kachiaschwili, ein Tourismus-Fachmann, der mich auf meinen Reisen durch Georgien begleitet. „Die Georgier haben ein ambivalentes Verhältnis zu Russland. Eine Mischung aus Angst vor einer russischen Aggression und Respekt vor dem Nachbarn. Eine Art Hassliebe. Man fürchtet die Russen, will sich aber alle Türen zu ihnen offen halten.“ Vielleicht ist das sogar eine Chance für die EU, ein Kanal über Tiflis nach Moskau. Eine Option für die Zeit nach Putin.

2024, Wohin driftet Georgien?
Georgien hat auch ein großes Interesse an Russland und China. Das kleine Land im Kaukasus ist von beiden wirtschaftlich abhängig, ist aber auch an einer Annährung an die USA interessiert. © Adobe Stock

Wer mit offenen Augen durch Georgien fährt, der trifft überall auf Russen. Vor allem in der Hauptstadt Tiflis und in Batumi am Schwarzen Meer. Touristen, Geschäftsleute und Flüchtlinge, die sich vor Putins Tyrannei in Sicherheit gebracht haben. Allerorten aber stößt man auch auf große Gruppen von Chinesen. Seitdem im Sommer 2023 die Visapflicht für Chinesen abgeschafft wurde, strömen massenhaft Touristen ins Land. Ministerpräsident Irakli Garibaschwili hatte im letzten Jahr bei einem Besuch in Peking die Beziehungen seines Landes zu China intensiviert. Georgien ist für die Chinesen ein bevorzugter Partner bei der Initiative „Neue Seidenstraße“. Da der nördliche Korridor von China nach Europa durch Russlands Krieg in der Ukraine verriegelt ist, wird der mittlere Korridor über Zentralasien und den Kaukasus immer interessanter, und der führt über Georgien.

In Tiflis wittert man eine Chance auf Geldeinnahmen und in Peking auf ökonomischen und politischen Einfluss. Wie weit die Chinesen in Georgien schon etabliert sind, bleibt dem Reisenden nicht verborgen. Sie bauen gigantische Autotunnel an der Georgischen Heerstraße zwischen Tiflis und Stepanzminda sowie eine Eisenbahnstrecke Richtung Türkei. Sie errichten große Strecken einer Autobahn zwischen Tiflis und Batumi und Straßen im Kleinen Kaukasus. Sie holzen Buchenwälder ab, unterhalten Sägewerke in Kutaissi. Am Schwarzen Meer planen chinesische Unternehmen den Bau eines Überseehafens. Was auf den Märkten an Textilien, Spielzeug und Haushaltswaren angeboten wird, stammt vornehmlich aus China. Überall in Georgien sehen wir chinesische Camps. Unterkünfte für Bauarbeiter und Ingenieure. Die Chinesen stehen nicht vor der Tür Georgiens. Sie sind längst mittendrin. „Wenn die anderen schlafen, müssen sie sich nicht wundern, wenn die Chinesen inzwischen mit beiden Beinen in unserem Land stehen“, meint Otar Kachiaschwili. Georgien sei für alle Global Player von Interesse. „Die EU diskutiert, die USA schläft, Russland droht und China baut.“ Immerhin hat Brüssel nun reagiert und eine Tür geöffnet, wiewohl der Weg Georgiens bis zur EU-Mitgliedschaft noch ein weiter ist. Im Rechtssystem, bei der Pressefreiheit und der Gleichberechtigung religiöser und sexueller Minderheiten existiert Nachholbedarf. Dafür gibt es in Georgien kaum Korruption, wesentlich weniger als in der Ukraine, die von der EU bevorzugt behandelt wird. Ein Oligarch (Iwanischwili) hat politischen Einfluss. Das muss sich ändern, fordert die EU. In der Ukraine agieren Dutzende Oligarchen, was die Brüsseler Bürokraten offenbar nicht ganz so schlimm finden.

Driften ohne anzudocken

Wohin also geht die politische Reise Georgiens? „Es ist eine Drift zwischen vier politischen Polen: EU, USA, China und Russland. Eine Drift, ohne irgendwo anzudocken“, meint Rainer Kaufmann, Kolumnist der Kaukasischen Post, der deutschsprachigen Zeitung in Tiflis. „Die Georgier wollen es sich mit niemandem verderben. Sie nehmen alles gern mit: die EU-Förderung, gute Geschäfte mit Russland und China. Nach dem Motto: Die Welt verändert sich rasant. Wer weiß, was morgen kommt?“ Immerhin hat die EU gute Karten in Georgien: Eine europafreundliche Bevölkerung, einen demokratisch orientierten Partner vor der Haustür Russlands und ein Drehkreuz für Politik, Handel und Verkehr im Osten Europas. Es sollte im Interesse von Brüssel und Tiflis sein, die Tür nach Europa immer weiter zu öffnen.


Putin-Gegner in Georgien 

Ein Besuch im Café Auditoria in Tiflis, in dem sich russische Oppositionelle und internationale Moskau-Kritiker treffen „Ich konnte nicht länger in Russland bleiben, weil ich von der Polizei verfolgt wurde. Ich hatte auf mehreren Meetings gegen den Krieg protestiert, den Russland in der Ukraine führt. Ich wurde von der Polizei verprügelt, saß mehrere Tage in Haft. Deshalb beschloss ich, mein Land zu verlassen.“ Raissa Koslowa hat Tee serviert im Café Auditoria in der Altstadt von Tiflis. Die 36 Jahre junge Russin ist ein wahres Energiebündel. Während sie mit mir plaudert, empfängt sie nebenbei Gäste, serviert Getränke. Sie telefoniert, sendet E-Mails und organisiert ein Konzert für den Abend. Alles zur gleichen Zeit. Zu Hause, in Moskau, hatte Raissa als Event-Managerin gearbeitet. In Tiflis managt sie seit Juni 2023 das Café, welches Restaurant, Buchladen, Internet-Café und Konzertsaal ist und einer der Treffpunkte der russischen Oppositionellen in Tiflis.

Igor N. aus St. Petersburg, der den Buchladen betreut, hatte einen Einberufungsbefehl zur russischen Armee bekommen. Auch Sergej L., der am Tresen steht und aus Rostow am Don kommt, war vor dem Wehrdienst geflohen. Sie alle hier verabscheuen den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Sie sammeln in ihrem Café Geld für ukrainische Waisenkinder. Das Auditoria, finanziert vom russischen Unternehmer und Putin-Gegner Nikolai Alexejew, ist einer von rund 30 Treffpunkten der russischen Opposition in Georgien. Es gibt sie in Tiflis, Batumi, Kutaissi und Rustawi. Seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine sind mehr als 100.000 Russen nach Georgien geflohen. Kriegsdienstverweigerer vor allem und Menschen, die wegen ihrer Proteste gegen den Krieg von Haft bedroht sind. Aber auch IT-Spezialisten, die für ausländische Firmen arbeiten, verließen Russland und Unternehmer, die für ihre Bankgeschäfte den Swift-Code benötigen, was durch das westliche Embargo in Russland nicht mehr möglich ist, in Georgien aber schon. Nicht wenige, erfahre ich, seien weitergereist nach Westeuropa, in die baltischen Staaten und nach Argentinien. „Wenn man in Russland wieder frei seine Meinung äußern darf, werde ich zurückkehren und mit aller Kraft am Aufbau einer demokratischen Ordnung mitwirken. Ich fürchte nur, dass dies in naher Zukunft nicht sein wird“, sagt Raissa Koslowa.

Dietmar Schumann

Dietmar Schumann war unter anderem mehrjähriger Moskau-Korrespondent des Deutschen Fernsehfunks DFF und nach dem Mauerfall des ZDF. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet.

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