Titelthema
Wende zum einsamen Segler
Russland vertraut nicht mehr internationalen Institutionen, sondern seiner eigenen Stärke.
Es gab keinerlei Ankündigung einer Kurskorrektur, aber für die russische Außenpolitik ist das Jahr 2020 ein Wendejahr. Vier Punkte machen das deutlich:
1. Russland setzt bezüglich der Länder im Raum der ehemaligen UdSSR nicht mehr auf die Realisierung von universalen Integrationsinitiativen. Die Beziehungen zu den Ländern werden unterschiedlich gestaltet.
2. Die Perspektive für ein besonderes Verhältnis zum Westen ist verloren, in erster Linie zu Europa, das einmal als Partner für Integrationsbeziehungen galt.
3. Die Distanzierung vom Westen bedeutet nicht automatisch eine „Wendung nach Osten“, die höchstens als verhalten bezeichnet werden kann.
4. Das Machtpotenzial, vor allem das militärische, ist als zentrales außenpolitisches Instrument zurück. Die Arbeit der internationalen Institutionen tritt in den Hintergrund. So gesehen sind die Verschärfung der Lage um Idlib im vergangenen Februar und die überraschende Einigung über Bergkarabach im November äußerst wichtige Ereignisse, die drei besondere Umstände verbindet: In beiden Fällen sind Moskau und Ankara die zentralen Akteure, ist der Einsatz militärischer Gewalt ein entscheidender Faktor, sind die internationalen Institutionen aus dem Spiel.
Russland und die Türkei sind zwei Großmächte mit einer langen imperialen Tradition, die jahrhundertelang aktiv an der europäischen Politik beteiligt waren. Beide setzten nach Ende des Kalten Kriegs darauf, Eingang in die westlichen (europäischen) Institutionen zu finden. Als ihnen bewusst wurde, dass ihnen die vollständige Integration nicht gewährt würde, waren sie tief gekränkt. Die Politik der beiden Länder im Jahr 2020 ist das Ergebnis einer schweren Enttäuschung über die Institutionen, was die Rückkehr zu ihrer traditionellen Doktrin der Dominanz und der Stärke zur Folge hatte.
Internationale Institutionen umgehen
Für Russland ist das eine bedeutsame Umorientierung. Moskau war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer der Architekten der internationalen Institutionen (System UN), setzte sich im Weiteren für deren Erhaltung ein und suchte Anschluss an die westlichen Strukturen, zu denen die UdSSR nicht gehört hatte. Anders gesagt, obwohl Russland der liberalen Weltordnung kritisch gegenüberstand, verhielt es sich in Wirklichkeit wie ein überzeugter Anhänger des liberalen Grundprinzips – der Herrschaft der Institutionen.
Aber schon in der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre konnte Russland seine Interessen immer seltener über die internationalen Institutionen durchsetzen, machte aber die Erfahrung, dass es sehr effektiv war, sie einfach zu umgehen. Russland hätte ein sehr ernstes Problem, wenn die Konflikte mit dem Westen sich unter den Gegebenheiten einer stabilen liberalen Ordnung erweitern würden. Aber die liberale Ordnung funktioniert nicht mehr, und die Dysfunktion der Institutionen auf den unterschiedlichsten Ebenen lässt sich nicht mehr verbergen; denn es ist allerorts zur Norm geworden, die Entscheidung vieler Fragen nach situativen (case-by-case) statt nach universalen Rechtsprinzipien zu treffen. Die Pandemie hat diese Tendenz noch beschleunigt.
Die Beziehung zum Westen während der vergangenen 30 Jahre ist ebenfalls ein Derivat der liberalen Ordnung und Russlands Wunsch, darin integriert zu werden. Der Fall Nawalny wurde zur Wasserscheide. Danach sah Moskau die EU und insbesondere Deutschland als führende Kraft der EU nicht mehr als Partner an, mit dem eine gemeinsame Zukunft zu schaffen ist.
Wechselseitige Enttäuschung
Die seit wenigstens 15 Jahren wachsende wechselseitige Enttäuschung über die Unfähigkeit, eine Art gesamteuropäisches Haus zu bauen, hat zu einer Entfremdung geführt. Die russische Empörung über das Verhalten der EU und vor allem einzelner Länder der EU ist Folge der europäischen Ablehnung der russischen Handlungsweise. Und all das geschieht angesichts des Niedergangs der liberalen Weltordnung, in deren Rahmen das gemeinsame Haus doch gebaut werden sollte.
Ein weitverbreitetes Klischee besagt: Wenn Russland sich vom Westen abwendet, wendet es sich dem Osten zu, China und dem aufstrebenden Asien. Tatsächlich verläuft die russische Umorientierung in die asiatische Richtung sehr langsam. In Asien nutzt Russland sein größtes Plus nicht: sein großes militärisches Potenzial, auf das sich seine diplomatischen Ressourcen stützen. In Asien ist vielmehr das wirtschaftliche Potenzial von entscheidender Bedeutung, was nicht Russlands starke Seite ist. Die Aussage Wladimir Putins, er schließe eine Militärallianz mit China nicht prinzipiell aus, obwohl er gegenwärtig darin kein Erfordernis sehe, ist nur logisch im Zusammenhang mit Moskaus Suche nach einer Nische in Asien, wo es sein größtes Aktiv kapitalisieren kann, das bisher dort noch nicht gebraucht wird.
Gebraucht wird es dagegen im postsowjetischen Raum. Die Länder, die sich nach dem Zerfall der UdSSR gebildet haben, erleben gerade eine Entwicklungskrise, einen Härtetest. Lange Zeit hielt es Moskau für notwendig, eine Rahmenstruktur zu schaffen, mit der man einen großen Teil der ehemals sowjetischen Territorien vereinen könne. Politische Erschütterungen zwingen dazu, zu Prinzipien überzugehen, die den globalen Tendenzen mehr entsprechen. Mit unterschiedlichen Staaten muss verschieden umgegangen werden. Dabei stützt man sich wieder stärker auf das Militär.
Einsamkeit Russlands? Mitnichten
In diesem Sinne sind die Waffenstillstandsverhandlungen in Bergkarabach ein Modellfall, weil dieses Potenzial den Beteiligten nicht aufgezwungen, sondern von ihnen eingefordert wird. Die Allianzen, die jetzt unter der russischen Ägide existieren, sind analog zu den westlichen. Die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS, die postsowjetische Nato) und die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU, die eurasische EU) wurden ersonnen, als die euroatlantischen Institutionen als beispielhaft galten. Aber diese Zeit endete mit der liberalen Ordnung.
Ein Allgemeinplatz in den Diskussionen über die moderne russische Politik ist die These von der Einsamkeit Russlands. Aber die Praxis der Großmächte beweist, dass „Einsamkeit“ für sie die Norm ist, es bedeutet, ausschließlich die eigenen Interessen zu verfolgen und sich nur auf die eigenen Ressourcen zu stützen. Sie können Koalitionen bilden und in Allianzen eintreten, wenn die Situation dies erfordert und solang sie es erfordert. Die vergangenen Jahrzehnte haben uns an den Gedanken gewöhnt, institutionelle Zusammenarbeit sei eine natürliche Weise der weltpolitischen Entwicklung.
Doch in den internationalen Beziehungen ist dieser Zeitabschnitt sehr kurz und gilt eher als Ausnahme. Nach dem Zusammenbruch der liberalen Ordnung kehrt die Welt zur historischen Norm zurück.
Aus dem Russischen von Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann
Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der einflussreichen russischen Fachzeitschrift Russia in Global Affairs und gilt als einer der renommiertesten Kenner der russischen Außenpolitik. Er ist zudem Leiter der russischen NGO „Rat für Außen- und Verteidigungspolitik“.