https://rotary.de/gesellschaft/wider-das-vergessen-a-21999.html
Titelthema

Wider das Vergessen

Titelthema - Wider das Vergessen
Feuer auf den Fotografen: Der 17. Juni 1953 in Leipzig: Während vor der Staatsanwaltschaft in der Beethovenstraße die Freilassung politischer Gefangener erwartet wird, bemerkt ein Offizier der Volkspolizei den Fotografen und schießt auf ihn. Das war der Auslöser für die Erstürmung des Gebäudes. © picture-alliance/akg-images

Über die Auswirkungen des Umgangs mit dem SED-Unrecht auf das Rechtsbewusstsein der Menschen.

Johannes Weberling01.06.2023

Die politische Verfolgung in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR konnte nach dem Sturz der SED-Diktatur nicht wieder rückgängig gemacht werden. Die Bundesrepublik Deutschland stand jedoch in der Verantwortung, erlittene Nachteile auszugleichen und die Opfer zu entschädigen. Entsprechend seinen Verpflichtungen aus Artikel 17 Einigungsvertrag hat der Deutsche Bundestag dazu eine eigene Gesetzgebung mit drei, mittlerweile mehrfach novellierten, Rehabilitierungsgesetzen sowie weiteren Regelungen erlassen, die sich von den Entschädigungsregelungen für NS-Opfer in verschiedener Hinsicht unterscheiden.

Das Teilprojekt „Rechtsfolgen politischer Verfolgung im wiedervereinigten Deutschland“ an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) im Forschungsverbund „Landschaften der Verfolgung“ untersuchte von 2019 bis 2023 die Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer politischer Verfolgung in SBZ und DDR. Interessant war dabei nicht nur, auf welchen gesetzlichen Grundlagen die Opfer entschädigt und welche finanziellen Mittel hierfür bereitgestellt wurden, sondern auch wie diese Gesetze in der Praxis umgesetzt wurden, wo es Probleme und Defizite gab sowie ob und inwieweit die Wiedergutmachung zu einer Befriedung innerhalb der Gruppe der politisch Verfolgten beigetragen hat. Von besonderer Relevanz war schließlich, welche Auswirkungen der Umgang mit dem SED-Unrecht auf das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung und der Verfolgten insbesondere in den ostdeutschen Ländern hatte.

Ergebnisse einer aktuellen Studie

Nicht ganz einfach zu beantworten ist die Frage, was unter Rechtsbewusstsein zu verstehen ist. Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie Allensbach wies schon 2019 (vgl. NJ 2019, 244 ff.) darauf hin, dass das Thema Rechtsbewusstsein bei näherer Betrachtung mehr sozialwissenschaftlicher als juristischer Natur ist. Der Staatsrechtler Thomas Würtenberger bezeichnete es gar als psychologisches Phänomen: „Was Recht ist, was Recht sein oder was Recht leisten soll, beantwortet der Einzelne kraft seines Rechtsbewusstseins. Dies orientiert sich am geltenden Recht, es ist andererseits auch eine kritische Instanz. Geleitet von seinem Rechtsbewusstsein entwickelt der Einzelne Vorstellungen für eine ‚richtige‘ und gerechte Lösung rechtlicher Probleme.“ Und weiter: „Weder das individuelle noch das kollektive Rechtsbewusstsein gehen allzu sehr in die Tiefe. Eine konkrete Kenntnis des Rechts ist daher in der Regel nicht zu erwarten (…). Auf konkrete Rechtsfragen wird vom Einzelnen intuitiv reagiert. Das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung äußert sich in vielen Bereichen in einem intuitiven Gleichklang des Wertens und Bewertens.“

Nicht selten wird übersehen, dass in Westdeutschland eine erhebliche Zahl von Opfern der SED-Diktatur leben. Beispiele sind dafür die geflüchteten und aus der Haft freigekauften Menschen. Vor diesem Hintergrund hat das Teilprojekt versucht, in Zusammenarbeit mit dem Institut für Demoskopie Allensbach mittels einer zu diesem Thema erstmals bundesweit, also in West- und Ostdeutschland erhobenen repräsentativen Umfrage in der Bevölkerung ab 16 Jahren möglichst valide Antworten auf die Frage zu bekommen, welche Auswirkungen der bundesdeutsche Umgang mit dem SED-Unrecht auf das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung und der Verfolgten in ganz Deutschland hat. Das Stichprobenverfahren war eine Quotenstichprobe. Befragt wurden 1006 Menschen im Zeitraum vom 23. November bis zum 6. Dezember 2022. Um eine bessere Aussagekraft gegenüber den „üblichen“ regulären Omnibusumfragen zu bekommen, wurden zusätzlich 298 SED-Opfer und enge Angehörige wiederum auf der Basis einer Gruppenstichprobe auf Grundlage der in der Bevölkerungsumfrage gewonnenen Strukturdaten im Zeitraum vom 29. November 2022 bis zum 25. Januar 2023 befragt. Beide Umfragen wurden zu einem gemeinsamen Datensatz mit 1310 Befragten zusammengeführt, darunter 297 SED-Opfer und 243 nahe Angehörige von SED-Opfern. Die Strukturdaten der zusätzlichen Befragung von SED-Opfern und Angehörigen wurden durch faktorielle Gewichtung an die Bevölkerungsumfrage angeglichen.

Die Umfrage hatte folgende signifikante Resultate:

1. Fast 40 Prozent der Betroffenen wissen nach nunmehr über 30 Jahren der Aufarbeitung nicht so ausreichend über die Unrechtsbereinigung Bescheid, dass sie sich ein Urteil darüber zutrauen. Das mag zum einen Teil damit zu tun haben, dass diese Menschen für sich mit diesem Kapitel abgeschlossen haben. Immerhin rund die Hälfte dieser Betroffenen (20,8 Prozent) erwarteten von einem Rehabilitierungsverfahren eine zu hohe Belastung. Das ist selbstverständlich zu respektieren. 41 Prozent der Betroffenen sahen keine Erfolgschancen. Aber immerhin ein Fünftel der Betroffenen (20,5 Prozent) wusste überhaupt nichts von der Möglichkeit einer Rehabilitierung bezüglich des ihnen widerfahrenen SED-Unrechts. In Westdeutschland waren das mit 25,2 Prozent der Betroffenen deutlich mehr als in Ostdeutschland mit 17,7 Prozent.

Ganz offensichtlich sind Bund und Länder insbesondere in Westdeutschland, aber auch in Ostdeutschland ihrer Verpflichtung zur ausreichenden Information nicht ausreichend nachgekommen. Der Bürger hat einen Anspruch darauf, über neue Vorschriften informiert zu werden, und zwar durch aktives Handeln der staatlichen Organe. Dass dabei nicht zuletzt dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine besondere Vermittlungsrolle zukommt und er diese wohl nur suboptimal erfüllt hat, sei nur am Rande erwähnt.

2. Nur 36 Prozent der Betroffenen von SED-Unrecht haben einen Antrag auf Rehabilitierung, Entschädigung und/oder Restitution gestellt. 45,3 Prozent der Anträge wurden zurückgewiesen beziehungsweise ihnen nur teilweise stattgegeben. Von diesen nicht erfolgreichen Antragstellern verzichteten fast drei Viertel (74 Prozent) darauf, die negative Verwaltungsentscheidung gerichtlich überprüfen zu lassen. Unabhängig davon scheinen die Betroffenen mit dem Ausgang ihres persönlichen Verfahrens nicht vollkommen unzufrieden zu sein. Denn immerhin waren 44,9 Prozent aller Antragsteller zufrieden.

Wenn man allerdings nach den Rehabilitierungsverfahren an sich und der Frage der möglicherweise damit erhofften Gerechtigkeit fragt, meinen nur 20,4 Prozent, dass die Rehabilitierung gut gelaufen sei. Dabei ist die Zufriedenheit mit dem Verfahrensausgang in Westdeutschland mit 36,6 Prozent deutlich höher als in Ostdeutschland mit nur 10,6 Prozent.

3. Kritisch vermerkt wird von den Befragten die mangelnde Kompetenz der Entscheider in den unterschiedlichen Rehabilitierungsverfahren (32,5 Prozent). Diese wüssten zu wenig über die Materie Bescheid. 38,1 Prozent der ostdeutschen Betroffenen stellen diese Defizite bei sogenannten „Westimporten“ fest.

Evident ist, dass das Verfahren deutlich negativer bewertet wird als das allgemeine Regelwerk zur Unrechtsbereinigung, nämlich als zu langwierig und zu bürokratisch. Beispielhaft steht dafür die Zweistufigkeit des Rehabilitierungsverfahrens mit der Rehabilitierungsgrundentscheidung als erste Stufe und der langwierigen Entscheidung über die daraus folgenden Ansprüche als zweite Stufe regelmäßig durch eine andere Behörde. Bis heute gibt es für die Auslegung und Anwendung der Rehabilitierungsgesetze keine bundeseinheitlichen Verfahrensregelungen. Es gibt noch nicht einmal einheitliche Antragsformulare. Das aktuellste Merkblatt stammt aus dem Jahr 2015, ist also längst überholt, da die sechste und jüngste Novelle der SED-Unrechtsbereinigungsgesetze Ende 2019 erfolgte. Angesichts dieser Verfahrensdefizite gerade bei den gehäuft gestellten Rehabilitierungsanträgen in den ersten beiden Dekaden seit der Wiedervereinigung ist es dringend geboten, den Betroffenen, deren Anliegen offensichtlich nur unzureichend bearbeitet worden sind, das Recht auf einen Wiederholungsantrag einzuräumen.

Schlechte Noten für den Rechtsstaat

4. Erfreulich ist, dass die Opfer gleichwohl die Bundesrepublik Deutschland eher als Rechtsstaat ansehen als die ostdeutsche Bevölkerung im Durchschnitt (65 zu 57 Prozent). Erschreckend ist allerdings, dass es bei den jüngeren nahen Angehörigen von Betroffenen nur 38,5 Prozent sind, die in der Bundesrepublik Deutschland einen Rechtsstaat sehen. Das ist ein alarmierender Befund, der nicht nur weiterer Aufklärung bedarf, aber in Anbetracht der von Würtenberger beschriebenen Entstehung des Rechtsbewusstseins als Resultat eines intuitiven Gleichklangs des Wertens und Bewertens auch nicht völlig überraschend ist. Es ist deshalb dringend erforderlich, dass der Staat über die bestehenden Rehabilitierungsmöglichkeiten umfassend informiert sowie die erkannten vorhandenen Defizite der Rehabilitierungsgesetze und vor allem deren dilatorische Umsetzung durch die zügige Entwicklung und Implementierung einheitlicher Verfahrensregelungen beendet.

Wenn man den Prozess der Unrechtsbereinigung, ähnlich wie es das Teilprojekt „Rechtsfolgen politischer Verfolgung im wiedervereinigten Deutschland“ im Forschungsverbund „Landschaften der Verfolgung“ jetzt tun konnte, früher evaluiert hätte und nicht nur der Gesetzgeber die Gesetze, sondern vor allem die Gesetzesanwender deren Umsetzung kontinuierlich verbessert hätten, wäre insbesondere die Einstellung der Angehörigen von Opfern zum Rechtsstaat deutlich positiver. 32,5 Jahre nach der Wiedervereinigung heißt es aber auch, dass wir keine Zeit mehr haben und die notwendigen Verbesserungen nicht auf die lange Bank schieben können.

Johannes Weberling

Prof. Dr. Johannes Weberling ist Rechtsanwalt in Berlin und Honorarprofessor für Medienrecht an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Er leitet dort seit über 20 Jahren die Arbeitsgruppe Aufarbeitung und Recht.