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Ein Gespräch mit Berndt Seite, der sich zusammen mit seiner Familie die Erlebnisse in der DDR und mit der Stasi „von der Seele schreiben“ wollte

» Wie ein Mühlstein am Halse «

Ein Gespräch mit Berndt Seite, der sich zusammen mit seiner Familie die Erlebnisse in der DDR und mit der Stasi „von der Seele schreiben“ wollte

Jörg F. Maas01.10.2015

Herr Seite, warum haben Sie 25 Jahre nach der Deutschen Einheit mit Ihrer Frau und Ihrer Tochter ein Buch über die Stasi geschrieben, wo es doch schon eine ganze Menge Literatur zu diesem Thema gibt?
Mit dem Abstand der Zeit hat das weniger zu tun, da ich auch vorher schon andere Bücher geschrieben habe. Dieses Buch ist ein Versuch meiner Frau und mir, uns das Thema der Stasi-Akten, das wir jahrelang mit uns herumgetragen haben, persönlich von der Seele schreiben. Heute müssen wir feststellen, dass uns das nicht gelungen ist.

Warum nicht?
Es gibt im Leben Dinge – etwa verheerende Kriegserlebnisse bei Soldaten oder der Gefängnisaufenthalt bei politischen Häftlingen –, die der Mensch nicht vergessen kann. Dies waren bei uns die Erfahrungen mit der Staatssicherheit, die für uns wie ein Mühlstein am Halse sind. Unser Schicksal war zwar nicht so dramatisch wie die genannten Beispiele, aber es hat gereicht, das Erlebte nicht zu vergessen.


Was hat die Stasi Ihnen angetan?
Als meine Frau und ich zu Beginn der neunziger Jahre unsere Stasi-Akten einsahen, mussten wir feststellen, dass die Behörde rund 6000 Seiten in über 35 Aktenordnern über uns zusammengetragen hatte. Das ist das fast wie eine zweite Biografie unseres Lebens. Das Schlimme dabei ist, dass die Staatssicherheit die Tür vom öffentlichen in das private Leben zertreten hat und bis in das Innerste unseres Lebens eingedrungen ist mit der Absicht, uns zu zersetzen und zu zerstören.


Und wie?
Man hatte zunächst versucht, mich wegen meiner Tätigkeit in der Synode der evangelischen Landeskirche Mecklenburgs durch freundliche Gespräche zu einer Kooperation zu bewegen. Als ich die Zusammenarbeit mit dem MfS ablehnte, fingen sie an, meine Frau und mich in unserem Umkreis zu desavouieren, unsere Freunde und die Kirchengemeinde zu verunsichern. Das Ziel war, uns vollständig von unserem gewohnten Umfeld zu separieren. Es war eine subtile Form des Terrors gegen uns als Personen. Die konkreten Maßnahmen gegen uns und deren ganzes Ausmaß habe ich natürlich erst nach dem Mauerfall erfahren, mit der Einsicht in die Akten.


Wie stark spürten Sie den Druck während der DDR-Zeit?
Wir haben zwar gespürt, dass um uns herum etwas läuft, und wir sind auch diszipliniert worden. Aber das ganze Ausmaß des Vorgangs konnten wir während der DDR gar nicht begreifen, weil ja alles konspirativ gegen uns verwendet wurde. Wenn Sie 40 Jahre in einer Diktatur leben, dann müssen Sie sich in irgendeiner Form anpassen, wenn Sie nicht ins Gefängnis gehen wollen. Sie müssen ausloten, wie weit Sie in Ihrer Verweigerung dem Regime gegenüber gehen können. Es gibt den Ausdruck der „Nischengesellschaft“, so könnte man auch unser Leben in der DDR beschreiben. Wir haben versucht, uns mit Freunden Freiräume zu schaffen, in denen wir dem Bedrückungsapparat entrinnen konnten. Um so größer war das Entsetzen, als wir hinterher erfuhren, wer alles an die Stasi über uns berichtet hatte.


Einer der auf Sie angesetzten Stasi-Spitzel war Ihr Nachbar. Wie lebt man mit so jemandem zusammen, wenn man weiß, dass er einen verpfiffen hat?
Ja, wie lebt man? Das ist äußerst schwierig, wenn Sie über 50 Jahre mit jemandem in Nachbarschaft leben. Und es gab ja mehrere Spitzel in unserem Umfeld. Zu dem besagten Nachbarn hatten wir auch vorher schon eine gewisse Distanz, vielleicht aus einer gewissen Vorsicht heraus. Und doch hatten wir nicht für möglich gehalten, dass er uns an die Stasi verraten hat.


Aber wie lebt man mit einem solchen Menschen danach Tür an Tür?
Was wollen Sie machen? Als ich 1993 meine Akten eingesehen hatte, bin ich mit einem ganzen Konvolut an Dokumenten zu ihm, um mich mit ihm auszusprechen. Er hat alles abgestritten, doch seine Kinder haben gesagt: „Ja, das ist unser Vater“. Seitdem sind auch schon wieder über zwanzig Jahre ins Land gegangen. Da haben wir auch schon wieder ein Bier miteinander getrunken, ich habe meine Post drüben abgeholt usw.
Das Strafrecht sieht nach der Verurteilung eines Täters und dem Verbüßen einer Strafe die Resozialisierung des Täters vor.

 

Wäre jetzt – 25 Jahre nach dem Ende der DDR – nicht ein guter Zeitpunkt für eine „Resozialisierung“ der einstigen Stasi-Täter?
Nein!


Warum so entschieden?
Weil vor einem solchen Schritt die Sühne stehen müsste. Doch da ist nichts gesühnt. Wenn es vonseiten der einstigen Stasi-Leute und erst recht der SED oder einer ihrer Nachfolgeparteien wenigstens ein offenes Wort des aufrichtigen Bedauerns oder gar des Schuldeingeständnisses gegeben hätte, dann hätten wir darüber sprechen und vielleicht vergeben können. Doch stattdessen haben die alten MfS-Kader Veteranenverbände gegründet, mit denen sie sich als politisch Verfolgte aufspielen! Dabei sind diese Leute doch nie verurteilt worden! In den zahlreichen Verfahren, die es seit 1990 gab, wurden gerade einmal 63 Personen tatsächlich zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.


Warum wurden die einstigen Täter kaum belangt?
Wir wollten nach 1989 dem Landfrieden dienen und keine bürgerkriegsähnlichen Zustände haben. Deshalb haben wir keine große Abrechnungskeule geschwungen. Rückblickend muss ich sagen, dass man schon ein paar Verantwortungsträger mehr hätte anklagen können, nicht bloß die Mauerschützen, die da mit ihrer Kalaschnikow am Ende einer Befehlskette abgedrückt hatten. Bestimmte Gruppen hätten einfach keinen Einfluss mehr auf die Geschicke des Landes haben dürfen. Es kann doch nicht sein, dass frühere Polit-Offiziere der NVA, auch wenn sie jung waren, Kreisvorsitzende einer demokratischen Partei werden konnten.


Schlimm war es auch im Öffentlichen Dienst. Da wurden zum Beispiel die Beamten aus der Arbeitsverwaltung, die in der DDR der Abteilung „Inneres“ unterstanden, direkt in das Arbeitsamt überführt. Dann saßen also die gleichen Leute, die vorher den Menschen die Pässe verweigert hatten, plötzlich als Beamte im Arbeitsamt und haben wieder über das Schicksal anderer entschieden. Und diejenigen Funktionäre, die in der DDR das Handwerk schikaniert hatten, saßen nun in den Handwerkskammern und gaben dort den Ton an. So etwas hätten wir nicht zulassen dürfen.


Und die SED und ihre Nachfolger?
Die sind natürlich von zentraler Bedeutung. Im Grunde genommen geht es in meinem Buch auch gar nicht um die Stasi, sondern vielmehr um die Sozialistische Einheitspartei. Sie war der Stichwortgeber, sie und ihre 2,8 Millionen Mitglieder waren die Inhaber der Macht. Die Staatsicherheit war lediglich ein Instrument, um die Macht zu festigen und die Ideologie durchzusetzen. Der SED ist es jedoch nach dem Mauerfall gelungen, die Schuld für die Vergehen in der DDR auf die Stasi abzuwälzen.


Sind Sie jenseits der Stasi-Thematik zufrieden mit dem Verlauf des Einigungsprozesses in den letzten 25 Jahren?
Grundsätzlich ja. Wir dürfen nur nicht vergessen, von wo die Menschen in der DDR gekommen sind. Sie wussten in den neunziger Jahren doch gar nicht, wo es langgeht, wie sie hier ihre neue Lebenswelt gestalten sollten. Die Kommunisten hatten seit 1945 ganze Arbeit geleistet bei der Zerschlagung bürgerlicher Strukturen, nicht nur des Unternehmertums, sondern auch der unabhängigen Vereine, Verbände, Studentenverbindungen und so weiter. Die Kirchen standen unter Dauerdruck. Und so musste nicht nur das freie Denken, sondern auch das eigenverantwortliche Handeln erst langsam wieder gelernt werden. Und doch sind die versprochenen „blühenden Landschaften“ heute da.


Ganz gewiss. Nicht nur die Städte und Dörfer, sondern auch die Infrastruktur und erst recht die gesamte Natur, die nach 40 Jahren Kommunismus vollkommen ruiniert war. Und trotz aller Fördermittel haben die größte Last dabei die Menschen privat getragen. Sie selbst haben für ihre Häuser Kredite aufgenommen und diese abgetragen. Sie haben neue Dächer, neue Fenster, neue Bäder in ihre Häuser eingebaut. Das sollten wir ruhig öfter betonen, denn darauf darf man auch stolz sein.


Dennoch haben die östlichen Bundesländer seit der Wiedervereinigung dramatisch an Einwohnern verloren.
Diese „Landflucht“ hängt einerseits stark mit dem demographischen Faktor zusammen. Andererseits wollten viele Menschen nicht darauf warten, bis der Aufschwung zu ihnen kommt. Sie sind dann den kurzen Weg gegangen und haben sich Arbeit im Westen gesucht. Nur sollten wir niemals Ursache und Wirkung vertauschen: Dass die Landschaften zwischen Rügen und Thüringer Wald auch heute noch wirtschaftlich rückständig sind, ist die Folge von vierzig Jahren Misswirtschaft im Kommunismus, in denen die freie Wirtschaft zerstört und die Städte und Dörfer ihrem Schicksal überlassen worden waren.


In Ihrem Buch gehen Sie auch auf Bundespräsident Gauck ein, der immer wieder den Freiheitsbegriff in den Mittelpunkt seiner Reden stellt. Sie allerdings sagen, dass die Menschen hierzulande wenig damit anfangen können. Die Menschen von Pommern bis Sachsen hatten im 20. Jahrhundert gleich zwei Diktaturen hintereinander erlebt, das hat unweigerlich tiefe Spuren hinterlassen. Deshalb konnten sie nicht so ohne weiteres mit Freiheit umgehen. Freiheit – das war für sie das Westfernsehen, in dem auf die Regierung geschimpft werden durfte, und natürlich auch die Reisefreiheit. Doch Freiheit bedeutet zuerst einmal, sein eigenes Leben zu gestalten, es selbst in die Hand zu nehmen. Das wieder zu erlernen war äußerst schwierig, aber es ist uns teilweise gelungen, u.a. anderem durch die Landsleute aus dem Westen. Auch die Rolle von bürgerlichen Organisationen wie Lions oder Rotary kann hier gar nicht hoch genug bewertet werden.

 

Interessant ist auch Ihre Bewertung der DDR-Intellektuellen. Diese gelten meistens als wichtige Träger der Revolution, etwa als Organisatoren der Runden Tische. Sie hingegen sagen, die hätten 1989/90 eigentlich gar keine große Rolle gespielt. Es gab natürlich Oppositionszirkel, vor allem im Umfeld der Kirchen. Doch das System wurde von den sogenannten einfachen Menschen zum Einsturz gebracht. Diese Leute sind nicht wegen eines politischen Programms auf die Straße gegangen, sondern weil das Regime abgewirtschaftet hatte! Vergessen Sie nicht, dass der Auslöser des Zusammenbruchs die Flucht der DDR-Bürger in den Westen war, über die Botschaften von Prag, Budapest und Warschau. Die Menschen wollten einfach nur weg. Und vergessen Sie bitte nicht die passive Rolle der Studenten. Es war wohl das erste Mal in der Geschichte, dass die Studentenschaft bei einer Revolution überwiegend geschwiegen hat. Auch die Schriftsteller haben sich nicht mit Ruhm bekleckert. Stefan Heym und Christa Wolff waren vorher angeblich Regimekritiker und haben dann plötzlich im Herbst 1989 zur Rettung der DDR aufgerufen.


Vieles in Ihrem Buch klingt sehr verbittert. Gibt es etwas, das Sie sich mit Blick auf den Einigungsprozess noch wünschen?
Wir sollten vielleicht nicht immer wieder nach dem „Stand der deutschen Einheit“ fragen. Wir sind vereint, und müssen uns in erster Linie um uns selbst kümmern. Das gehört auch zur Freiheit. Solidarität hat ja zwei Seiten: Während der eine gibt, hat der andere die Verpflichtung, sich anzustrengen, damit er irgendwann auf eigenen Füßen stehen kann. Außerdem sollten wir endlich aufhören, von „gleichen Lebensverhältnissen“ zu reden. Wir sind ein Bundesstaat mit sehr unterschiedlichen Landsmannschaften und Lebensstandards in den deutschen Ländern. Das war vor dem Kriege auch nicht anders. Da wäre niemand auf die Idee gekommen zu fordern, die Menschen in Ostpreußen müssen genauso leben wie die Rheinländer. Wichtig ist doch, dass sich die Menschen in allen Regionen unseres Vaterlandes geborgen fühlen, dass sie ihre Heimat als lebenswert empfinden. Und das ist uns weitestgehend gelungen.