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Wie porträtiert man eine Demokratie im Wandel?

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„The Unfinished Business of Democracy“ (deutsch: Die unvollendete Aufgabe der Demokratie) – das Cover des Survey Graphic vom November 1942. © Reiss Archives/Buffalo Bill Center for the west

Ein Buch und eine Ausstellung eröffnen neue Perspektiven auf den deutsch-amerikanischen Pionier des transatlantischen Modernismus Winold Reiss.

Frank Mehring01.06.2022

Am 30. Juni eröffnet die New York Historical Society eine Ausstellung, die dem weitgehend in Vergessenheit geratenen Bilderschatz des deutsch-amerikanischen Malers, Designers und Lehrers Winold Reiss (1886–1953) zu neuem Glanz verhilft. Weshalb lohnt sich eine Begegnung mit dem Künstler, der durch die Raster der Kunsthistoriker fiel, sich einer leichten Kategorisierung und Etikettierung entzog, aber in New York seinerzeit als moderner Cellini gefeiert wurde?

Winold Reiss’ modernistische Ästhetik der Porträtzeichnung, die durch die Einbindung kommerzieller Illustrationen das Genre von der Enge des 19. Jahrhunderts befreit, weist mehr als 50 Jahre in die Zukunft, wie Jeffrey Stewart anhand von Porträts von Afroamerikanern im New York der 1920er Jahre erklärt. Gleichzeitig lassen sich auch Reiss’ Wurzeln in der Porträtmalerei aus dem Schwarzwald erkennen. Seine im deutschen Modernismus verankerte Perspektive auf die Realitäten der amerikanischen Konfrontationen von Ethnien und institutionalisiertem Rassismus bildete einen Teil von Reiss’ Überzeugung, dass Kunst einen wichtigen Beitrag dazu leisten kann, der Diskrepanz zwischen dem demokratischen Versprechen der Freiheit und der beklagenswerten Praxis von „weißer“ Hybris, Fremdenfeindlichkeit und zügellosem Materialismus entgegenzuwirken. Die Wurzeln für diesen Ansatz finden sich in seiner deutschen Herkunft und Prägung.

Ein neuer Blick

2022, Wie porträtiert man eine Demokratie im Wandel?, frank mehring
Winold Reiss’ Werk Mann und Frau. Zeichensprache, um 1929 © Whitney Western Art Museum

Der 1886 in Karlsruhe geborene Winold Reiss verbrachte nach Aufenthalten in Leipzig (1888–1892) und Stuttgart (1892–1899) die prägende Phase seiner Kindheit und Jugend in der Schwarzwaldregion in und um Freiburg (1899–1910). Im Oktober 1910 zog Reiss nach München, um nach einer Ausbildung an der Städtischen Gewerbeschule bei den bekannten Künstlern und Lehrern Franz von Stuck und Julius Diez an der Akademie der Bildenden Künste München und der Kunstgewerbeschule München zu studieren. Reiss emigrierte 1913, kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in die USA und wurde in den 20er und 30er Jahren zu einer einflussreichen Figur des transatlantischen Modernismus. Er gründete eine eigene Kunstschule und ein Designstudio im New Yorker Greenwich Village; er war Mitbegründer des Kunstmagazins Modern Art Collectorund wurde bekannt für sein innovatives Grafikdesign sowie für seine farbigen Pastellporträts von Künstlern und Intellektuellen der Harlem Renaissance. Er zeigte den Philosophen und Bürgerrechtler W. E. B. Du Bois, den ersten international gefeierten afroamerikanischen Konzertkünstler Roland Hayes oder die Anthropologin und Autorin Zora Neale Hurston nicht als verzerrte Karikaturen, sondern würdevolle, stolze Amerikaner – eine seinerzeit visionäre Bildsprache, die bis heute nachwirkt. Reiss’ Arbeiten wurden vielfach ausgestellt und erschienen in Publikationen wie Scribner’s Magazine, Century Magazine, The Forumund The Survey Graphic, wobei die Sonderausgabe zur Kunst und Kultur der Harlem Renaissance dank der Arbeiten von Winold Reiss zu einer der verkaufsträchtigsten avancierte. Er arbeitete mit führenden Künstlern und Intellektuellen seiner Zeit.

Karriere in New York

Reiss unterrichtete nicht nur in seiner eigenen Kunstschule in New York City und leitete Sommerschulen in Woodstock/New York und später in Glacier Park/Montana, um indigene Bevölkerungsgruppen vor Ort mit ihrer Kultur zu porträtieren, sondern er lehrte auch an der New York School of Applied Design for Women, an der Keramic Society and Design Guild of New York sowie an der School of Architecture der New York University. Zu seinen Arbeiten im Bereich der kommerziellen Architektur und Innenarchitektur gehören die Innenausstattung von Restaurants in New York City für Crillon und Longchamps sowie seine beeindruckenden Mosaik-Wandmalereien im Cincinnati Union Terminal. Hier etablierte Reiss erstmals ein Konzept eines begehbaren Gesamtkunstwerks, in dem er Räume schuf, in denen alle Designelemente aufeinander ästhetisch abgestimmt waren: von thematischen Wandmalereien, Ornamenten, Deko-Elementen über Tische, Stühle, direkte und indirekte Beleuchtung bis hin zu speziell im Design abgestimmten Menükarten. Kunst gehöre nicht nur in Museen, sondern solle Menschen in ihrem Alltag begegnen und sie inspirieren, meinte Reiss.

Die amerikanische Öffentlichkeit sehne sich nach mehr Farbe, und er, Reiss, würde es wagen, Farben in ungekannter Form zum Einsatz zu bringen. Diese kühne Aussage des deutschen Kunstpioniers aus dem Schwarzwald ist in mehr als einer Hinsicht bedeutsam. Der Wille, kräftige Farben als Ausdruck einer jungen Nation zu verwenden, mag auf seine Erfahrungen in der deutschen Plakatkunst und Porträtmalerei zurückzuführen sein. Sein Engagement für ethnische Minderheiten zeigte jedoch, dass sein „Plädoyer für Farbe“ über die Arbeit auf der Leinwand hinausging. Reiss kollaborierte mit Alain Locke an einer Sonderausgabe des Survey Graphic, in der Farbe untrennbar mit der Zukunft der amerikanischen Nation verwoben wurde. Der Titel: Color – Unfinished Business of Democracy (1942). Mit seiner bemerkenswerten Verwendung von Silhouetten und Farbcodes bietet Reiss ein visuelles Narrativ einer von Rassismus befreiten Gesellschaft aus einer transkulturellen Perspektive. Zusätzlich zu den fünf miteinander verbundenen Umrissen ethnischer Gruppen führt er einen alternativen Rahmen ein: Er verbindet einen sechsten Umriss des menschlichen Gesichts über rote Linien mit allen Kontinenten der Erde. Mit seiner globalen Perspektive ist das neue kosmopolitische Profil nicht nur eine transatlantische, sondern auch eine hemisphärische Kontaktzone der Linien. Reiss hat sich Lockes provokanten Titel über die unvollendeten Aufgaben der Demokratie erfolgreich für seine eigene Vision angeeignet: In einer demokratischen Welt müssen traditionelle Vorstellungen von ethnisch kodierten „Farben“ zugunsten eines kosmopolitischen Humanismus überwunden werden. Als deutscher Einwanderer, der vor und während des Zweiten Weltkriegs neben vielen anderen Intellektuellen und Künstlern auch mit Afroamerikanern zusammenarbeitete, war sich Reiss sehr wohl bewusst, dass das Recht, „unsere Gefühle frei von Zwängen auszudrücken“, ein amerikanisches Ideal darstellte, das sich in der amerikanischen Praxis nur bedingt umsetzen ließ.

Der Beitrag der Kunst

In der aktuellen Winold-Reiss-Ausstellung in New York lässt sich anhand von Porträts, Landschaftsgemälden, Entwürfen für Wandmalereien, Designelementen und Werbegrafiken zurückverfolgen, wie Winold Reiss als Pionier des transatlantischen Modernismus wichtige Weichen in der Kunst- und Kulturgeschichte stellte und gleichzeitig den Blick für eine Welt nicht aus den Augen verlor, in der Menschen im Einklang mit sich selbst und der sie umgebenden Stadt- und Naturlandschaft leben. Reiss war überzeugt, dass er mit seiner Kunst einen Beitrag dazu leisten konnte, sei es in Museen, in Zeitschriften, in Restaurants, in seinem Studio oder an künstlerischen Lehrstätten. So zeigt der transnationale Rückblick, wie Kunst dazu beitragen kann, einen Wandel in der demokratischen Öffentlichkeit in Gang zu setzen.


Buchtipp

 

Frank Mehring (Hrsg.)

The Multicultural Modernism of Winold Reiss 1886–1953: (Trans) National Approaches to his Work, 

Berlin 2022, De Gruyter/Deutscher Kunstverlag,

280 Seiten, 48 Euro

 

Frank Mehring

Frank Mehring, RC Kleve Schloß Moyland, ist Kulturwissenschaftler und Professor für Amerikanistik an der Radboud University in Nijmegen/NL. Er lebt mit seiner Familie in Rindern bei Kleve.

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