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Die Blues-Botschafter

Forum - Die Blues-Botschafter
Oktober 2023: Die Rolling Stones bei einem Auftritt im Racket in New York © picture alliance/evan agostini/invision/ap

Die erfolgreichste Rock-’n’-Roll-Band aller Zeiten kehrt musikalisch zurück zu ihren Wurzeln. Und sie bringt den Blues als Re-Import zurück an seinen Geburtsort.

Frank Mehring01.04.2024

Die Stones kommen im April dieses Jahres zurück auf die nordamerikanischen Konzertbühnen, um ihre Rolle als Blues-Botschafter performativ unter Beweis zu stellen. Los geht’s am 28. April in Texas, es folgt ein Konzert beim Jazzfest in New Orleans. Das ist kein Zufall. Auf dem neuen Album Hackney Diamonds ist der letzte Song ein Blues-Cover, das den modernen Sound der Stones wieder auf die essenziellen Wurzeln des Blues herunterbricht. Keith Richards spielt Gitarre, Mick Jagger singt und soliert auf der Mundharmonika. Der Titel des Songs ist idiomatisch für die musikalische Biografie der Stones: Rollin’ Stone. Und um ganz sicherzugehen, dass auch die neue Tiktok-Generation weiß, dass es sich hier um einen Song des Blues-Giganten Muddy Waters aus dem Jahr 1950 handelt, steht in Klammern: Muddy’s Song. Der Song und seine Position auf dem Album suggerieren, dass Waters den musikalischen Staffelstab an die Rolling Stones erfolgreich weitergab. Man kann ihn aber auch als eine Art Pop-Beichte hören, in der die Stones ihren musikalischen Ruhm den afroamerikanischen Blues-Pionieren verdanken.


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Das National Blues Museum in der 615 Washington Ave, St. Louis © Frank Mehring

In dem Blues-Klassiker, aus dem die Stones ihren Bandnamen ableiteten, singt Muddy Waters 1950 davon, dass seine Mutter ihm keine glorreiche Zukunft voraussagte. Geboren in Armut in einem Land, in dem Schwarze als Bürger zweiter Klasse nur geringe Chancen auf ein Leben im Sinne des American Dream haben, würde er wie ein rollender Stein rastlos ohne Ziel und Zukunft durchs Leben rumpeln. Die weiße britische Band hingegen hat diesen Blues zum Angelpunkt einer in der gegenwärtigen Musiklandschaft einzigartigen Karriere erkoren. Mit weltweit 200 Millionen verkauften Tonträgern, fast 400 veröffentlichten Songs und mehr als 50 Jahren ausverkaufter Tourneen behaupten die Rolling Stones – mit einigem Recht – die größte Rock-’n’-Roll-Band aller Zeiten zu sein. Doch welche Rolle spielen die Briten heute im kulturellen Selbstverständnis der USA?

Der Blues, einst tief im amerikanischen Süden verwurzelt, hat sich in den USA seit den frühen 2000er Jahren von einem spezifischen Musikgenre zu einer Kultur- und Tourismusindustrie entwickelt. Blues-Trails, Blues-Museen, Blues-Festivals und BluesGedenkstätten sind entstanden, um den bemerkenswerten Einfluss des Genres zu feiern. Das 2016 gegründete National Blues Museum in St. Louis präsentiert einen ungewöhnlichen kuratorischen Ansatz, indem es die Geschichte dieses uramerikanischen Musikgenres mit den Rolling Stones als globale Multiplikatoren verwebt.

Keith Richards und Muddy Waters im Dialog

Das Museum eröffnet im ersten Showroom seine Story mit einem Videoclip aus dem Konzert zur Würdigung des Blues im Weißen Haus im Jahr 2012. Wir sehen und hören Mick Jagger, wie er inmitten von Blues-Legenden wie B. B. King, Keb’ Mo’ und Buddy Guy den Blues-Standard Sweet Home Chicago von Robert Johnson singt. Nachdem Guy den Präsidenten aufforderte, „you can do it“, übergibt Jagger das Mikrofon an Obama. Der hier zur Schau gestellte symbolische Bedeutungsüberschuss, den der Frontmann der Rolling Stones zwischen der All-Star-Blues-Band im Weißen Haus und dem ersten afroamerikanischen Präsidenten erzeugt, deutet darauf hin, dass die Rolling Stones im politischen Zentrum der amerikanischen Macht warmherzig in die amerikanische Blues-Gemeinschaft aufgenommen wurden und daher nun auch im Museum eine besondere Rolle in der kulturellen Erinnerungslandschaft spielen sollen.

Das Museum scheut sich nicht, dem Publikum die harte Realität von Sklaverei, Chain Gangs und Rassentrennung vor Augen zu führen. Die Infotafeln über den Backwater Blues verdeutlichen die Wurzeln des Blues in der afroamerikanischen Erfahrung: Arm und entrechtet, ist ihr Leben bestimmt vom Kampf um Freiheit. Wie andere Blues-Museen vermitteln die MultimediaDisplays des National Blues Museum ein vereinfachtes Bild des Südens als einen vermeintlich einheitlichen Raum, der Land, Musik und Menschen prägte.

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Keith Richards und Muddy Waters im Gespräch über Blues und Rock im National Blues Museum © Frank Mehring 

 

In der Mitte der Blues-Erzählung sind auf einer hölzernen Rotunde die lebensgroßen Schwarz-Weiß-Bilder von Keith Richards und Muddy Waters als Gitarristen in Aktion abgebildet. Richards’ starkes Statement zum Blues dient als eine Art Blaupause für die Agenda des Museums – nämlich, dass der Blues die Ur-DNA der globalen Populärmusik sei. „Wenn man den Blues nicht kennt“, argumentiert Richards, „hat es keinen Sinn, eine Gitarre in die Hand zu nehmen und Rock and Roll oder irgendeine andere Form von Popmusik zu spielen.“ Muddy Waters wird auf der gegenüberliegenden Seite mit seiner eigenen Version einer musikalischen Blues-Legende neben dieses Zitat gestellt: „The Blues had a baby, and they named it Rock and Roll.“

Der Blues überwindet alle Grenzen, fast alle

Während Richards und Waters im Museumsraum als gleichberechtigte Musiklegenden erscheinen, erklärte Richards, dass die Rolling Stones ihren Kindheitshelden Muddy Waters während ihrer ersten Amerikatournee 1964 unter ganz anderen Umständen trafen. Richards gestand später, dass es ihm peinlich war, Waters’ Demütigung im berühmten Chess Studio in Chicago erleben zu müssen: „Das ist Muddy Waters. Ich sterbe, oder? Ich lerne den Mann kennen. Er ist mein verdammter Gott, stimmt’s? – Und er streicht die Decke! Und ich werde in seinem Studio arbeiten. Autsch!“

Zu der Zeit, als Richards 1993 diese Geschichte erzählte, füllten die Rolling Stones Arenen mit mehr als 100.000 Fans und gehörten zu den bestbezahlten Musikern in der Branche. Ihre vorangegangene rekordverdächtige „Steel Wheels/Urban Jungle“-Tournee von August 1989 bis August 1990 hatte einen atemberaubenden Kassenumsatz: 202 Millionen Dollar. Im Gegensatz dazu fand das letzte aufgezeichnete Konzert von Muddy Waters 1981 in dem legendären Blues-Club Checkerboard Lounge in Chicago statt, der weniger als 100 Personen Platz bot. Richards’ Erinnerung an die erste unsägliche Begegnung mit Waters mutet wie ein Geständnis über eine Situation an, die ihm falsch und ungerecht vorkam. In der Museumsausstellung wird diese asymmetrische Beziehung zu einer Erzählung zugunsten des Blues als ausdrucksstarke Musikform umgemünzt, die Rassen, Klassen, Kulturen und Nationen überwindet.

In einem weiteren Teil widmet sich das Museum der sogenannten „Britischen Invasion“. Der Re-Import des Blues durch britische Bands wie die Beatles, Animals, Kinks und Stones wird umrahmt vom Schlüsselwort „confession“ – also einer „Beichte“. Der Begriff spielt auf den Titel des Blues-Klassikers Confessin’ the Blues an. Doch es geht um mehr als den bloßen Verweis darauf, dass junge weiße britische Musiker anfingen, den Blues anhand von Schallplatten rauschhaft zu hören, zu verinnerlichen und in SkiffleBands performativ umzuwandeln.

2018 haben die Rolling Stones in Zusammenarbeit mit BMG und Universal die Kompilation Confessin’ the Blues zusammengestellt. Der Werbetext dazu versichert, dass sie eine musikalische Einführung in den Blues offeriert, „von denen, die das Genre am besten kennen, der größten lebenden Band auf dem Planeten, den Rolling Stones“. Das Album enthält 42 Blues-Songs von Künstlern wie Chuck Berry, Big Bill Broonzy, Bo Diddley, Robert Johnson, John Lee Hooker, Muddy Waters, Howlin’ Wolf und vielen anderen – allerdings vollständig ohne die weiblichen Größen des Blues. Mit dieser Auswahl geben die Rolling Stones dem Kanon der amerikanischen Blues-Musik eine eigenwillige Form. Sie werden zu einer institutionalisierten Macht in der Musikwelt, die den BluesKanon entsprechend persönlichen musikalischen Vorlieben formt, kontrolliert und kuratiert.

Spüre den Blues, sei ein Rollin’ Stone

Der letzte Teil der Blues-Erzählung im National Blues Museum endet mit dem Wort „CELEBRATE“, das in großen rötlichen Lettern auf einer Wand über Fotos des Konzerts im Weißen Haus prangt. Auf diese Weise führen die Museumskuratoren die Besucher zurück zum Anfang. Die transnationale Erfolgsgeschichte des Blues mit farbenfrohen, glamourösen Fotos vom White House Blues Event kulminiert mit Obama und Mick Jagger als zwei der Hauptdarsteller des „Red, White and Blues“-All-Star-Konzerts. Auf einer der abschließenden Infotafeln steht „Everybody had the blues“, um die heilenden Kräfte der Blues-Musik über Rassenschranken hinweg zu beschwören. In diesem Sinne kann nicht nur Muddy Waters in seinem berühmten Song, sondern jeder – „sho’ enough“ – ein Rollin’ Stone werden.

Das Museum inszeniert die britischen Rolling Stones als transnationale Botschafter dieser amerikanischen Erfolgsstory. Ein Ticket für die neue Rolling-Stones-Tournee lädt quasi zum tanzenden Museumsbesuch ein. Ob man sich beim Mitsingen als Blues-Fan oder rebellischer Rock-’n’-Roller oder beides zugleich feiert, steht jedem frei – und dieses besondere Gefühl für Freiheit gehört zur DNA des Blues.