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Stadt, Land, Beuys
Am 12. Mai feiert die Kunstwelt den 100. Geburtstag von Joseph Beuys. Seine Gedanken zum Umweltschutz lassen sich auf die gegenwärtigen Herausforderungen des Klimawandels übertragen.
Kunst ist die einzige Form, in der Umweltprobleme gelöst werden können“, erklärte Joseph Beuys. Dafür zog der „heilige Joseph der Avantgarde“ alle Register – als Künstler der Anti-Kunst, Agitator für direkte Demokratie, stiller Brüter gegen Atomkraft, „Stadtverwalder“, Clown, Gangster und der, der mit dem toten Hasen tanzt. Herausforderungen gab es zu seiner Zeit genug: Waldsterben, saurer Regen, Smog, Ölkrise, Startbahn West, Eskalation des Kalten Krieges. Heute fordert uns die „Generation Greta“ auf, in Panik zu verfallen, weil buchstäblich der Wald brennt. Die Politik habe die Probleme der grünen Energieversorgung, nachhaltiger Agrar- und Waldwirtschaft und ganz generell die Herausforderungen des Klimawandels nicht zu lösen vermocht – im Gegenteil, politische Entscheidungsträger halfen noch, die desaströsen Entwicklungen zu beschleunigen. Zu allem Übel nehmen Politiker nun im Lockdown die Kunst als zentralen Impulsgeber für die Lösung von Umweltproblemen im Beuysschen Sinne in Einzelhaft.
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Lohnt zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys ein erneuter Blick auf dessen Ansatz, die Schnittstelle von Natur, Kunst und Politik radikal neu zu denken?
Eines der bis heute beeindruckendsten Dokumente von Beuys’ Schaffen findet man nicht in Museen, sondern dort, wo sich Menschen in ihrem Alltag bewegen: im urbanen Umfeld, zum Beispiel in Kassel oder New York, wo Beuys’ bekanntestes documenta-Werk „7000 Eichen“ noch heute zu erleben ist. In einem Rundbrief erläuterte Beuys, dass die Aktion ein erster Schritt sei, „die künstlerische Aufgabenstellung der Erde in ihrer gegenwärtigen Notlage anzugehen“. Wie kann Kunst heute „auf die Umgestaltung des gesamten Lebens, der gesamten Gesellschaft, des gesamten ökologischen Raumes“ hinwirken?
Stadt und Natur als Symbiose
Wenden wir unseren Blick nach New York, wo Beuys mit der Kombination von Basaltstelen und Bäumen auf die Zusammengehörigkeit von Stadt und Natur, von Politik und Kunst verwiesen hat. „Politik muss Kunst werden und Kunst muss Politik werden“ – auf diese einfache Formel brachte Beuys 1974 seinen Ansatz in einem New Yorker Vortrag. Kunst avancierte für Beuys zur Waffe für alle Menschen, um im demokratischen Sinne nachhaltige Veränderungen im Sozio-Kulturellen herbeizuführen. Die Idee, Stadt und Natur weniger als Gegensatz, sondern als sich gegenseitig bedingende Symbiose zu denken, kann man in New York erleben. Vor dem Lockdown schlenderte ich auf der West 22nd Street von der 10th zur 11th Avenue im Stadtteil Chelsea auf der Westside von Manhattan am Hudson River. Mein Blick fiel auf genau jene Basaltstelen, die man auch in Kassel als Teil der „7000 Eichen“ vorfindet. In New York entstehen andere Kontraste. Zu den Beuysschen Basaltstelen gesellen sich hier beschmierte Mülleimer, grüne Briefkästen, knallrote Hydranten, Umzugskartons, Müllcontainer und natürlich die dazugehörigen Bäume. Von der „heilen Natur“, die Beuys in der niederrheinischen Landschaft als Energiequelle beschwor, ist hier zunächst wenig zu spüren. Man begegnet einem bunten Querschnitt der kapitalistisch orientierten Infrastruktur: geparkte Lastwagen, Umzugswagen, Pick-up-Trucks, Limousinen und Vans. Zahlreiche Häuser säumen Gerüste, es wird renoviert, erneuert oder notdürftig repariert.
Die Beuys-Installation zeigt, dass sich Natur insbesondere in der versiegelten Metropole Platz verschaffen muss, um den Menschen eine nachhaltige, gesunde und lebenswerte Zukunft eindringlich ans Herz zu legen. So kommt den Bäumen nicht nur eine bestimmte Funktion im ökologischen Klima der Stadt zu, sondern sie besitzen den Status eines Kunstwerks, das Bäume als Metapher für eine grüne Zukunft und die Notwendigkeit der Umgestaltung des Lebens im Beuysschen Sinne versteht. „Die Bäume sind nicht wichtig, um dieses Leben auf der Erde aufrechtzuerhalten“, erklärte Beuys. „Die Bäume sind wichtig, um die menschliche Seele zu retten.“
Die Landschaft verändert sich
Wer sich heute zu jenen Orten zwischen Kleve und Nijmegen begibt, die Beuys für seinen Werdegang als besonders markant definierte, wird feststellen, dass manches sich subtil, anderes gravierend geändert hat. Ein Beispiel ist die markante Fotografie von Gerd Ludwig, die Beuys auf einer Weide mit Wiege und totem Hasen zeigt. Der avantgardistische Künstler hat den Kontakt zu prägenden Elementen und Orten seiner Kindheit nicht verloren – und gibt sie auch nicht verloren. Das Bild changiert zwischen pedantischem Ernst und humorvoller Selbstparodie. Die Landschaft hat sich auf den ersten Blick unmerklich verändert. Beim Gespräch mit der Nabu-Naturschutzstation Niederrhein erfährt man allerdings, wie die moderne Landwirtschaft seit 40 Jahren mit neuen Düngemitteln und Pestiziden die Bodenqualität beeinträchtigt, ebenso wie Autofahrer und Frachtschiffe. So hat sich die Artenvielfalt in den Wiesen verändert, Weiden sind nicht mehr in kleine Parzellen aufgeteilt, denn Kühe werden vermehrt in großen Ställen gehalten. Die Zusammensetzung der Gülle hat sich verändert, was sich wiederum auf die Pflanzen- und Tierwelt auswirkt. „Es sieht immer noch auf den ersten Blick idyllisch aus“, erklärt Dietrich Cerff vom Naturschutzbund Deutschland (Nabu), „aber wenn man Landschaft lesen kann, verrät sie einem auch so einige Probleme.“
Die in den letzten Jahren gemessenen Hitzerekorde, die Jahrhundertdürre, Trockenheit und Borkenkäferplage machen nicht nur den Bäumen im Klever Reichswald zu schaffen, sondern drohen auch die für die Rindernsche Landschaft so prägnanten Kolke auszutrocknen. In einer der Ludwig-Fotografien von 1978 stehen wir quasi hinter Beuys und blicken mit ihm in die Naturlandschaft seiner Jugend. Heute zeichnen sich am Horizont moderne Windräder ab, die – wenn auch nicht unumstritten – für eine nachhaltigere Energieversorgung in der Zukunft stehen. Die Wasserqualität hat sich dadurch allerdings verändert, die Absenkung des Grundwasserspiegels wirkt sich auf die Kolke aus.
Die Generation Fridays for Future hat die Problematik auf den Punkt gebracht: Erderwärmung, Anstieg des Meeresspiegels, Klimawandel und die damit einhergehenden ökologischen Migrationsbewegungen, Luftverschmutzung in den Städten, Insektensterben, Waldsterben, Gletscherschmelze – niemand kann die Realitäten leugnen oder wegdiskutieren. Es gibt keine Utopien mehr. Oder doch? Die junge Generation klagt an, ruft zu einem radikalen globalen Kurswechsel auf und sucht nach wagemutigen Machern, die neue, unbequeme Wege aus der Krise erschließen und mit anderen zielorientiert begehen.
Es ist gut und wichtig, dass wir uns in diesem Jahr an Beuys erinnern. Noch wichtiger wäre es, wenn wir seine Ideen prüfen, modifizieren und selbst aktiv an jenem neuen Green Deal mitarbeiten, um unser Leben so umzugestalten, dass wir und die Natur- und Stadtlandschaften eine Überlebenschance haben. Unsere Kontaktaufnahme mit Beuys und seiner Landschaft am Niederrhein führt uns an konkrete Orte, aus denen heraus er Vorschläge für ein neues ökologisches Bewusstsein künstlerisch erarbeitet hat. Entscheiden wir uns für ohnmächtige Kontemplation, kopflosen Aktionismus oder gar blinde Wut? Wenn nicht, dann auf an den Niederrhein! Aber einer wie Beuys fehlt – in der geografischen und politischen Landschaft.
Ausstellungen zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys unter rotary.de/a17826
Frank Mehring, RC Kleve Schloß Moyland, ist Kulturwissenschaftler und Professor für Amerikanistik an der Radboud University in Nijmegen/NL. Er lebt mit seiner Familie in Rindern bei Kleve.
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