Titelthema
Wo ist der Aufbruch?
Die soziale Kluft wird tiefer, die Stimmung rauer, die Armut wächst. Es bräuchte einen starken Staat
Die Preise für Energie, Strom und Lebensmittel steigen. In den Städten fehlt bezahlbarer Wohnraum. Krankenhäuser und Pflegeheime ächzen unter dem Personalnotstand, auch Schulen und andere soziale Einrichtungen klagen über Überlastung. Die Coronakrise hat nicht nur ein Schlaglicht auf den erbärmlichen Zustand unserer sozialen Infrastruktur geworfen, sie hat ihn auch weiter verschärft.
Mehr denn je braucht es nun einen starken Staat, der Probleme anpackt und unsere Wirtschaft und Gesellschaft für die Zukunft fit macht. Doch um die Handlungsfähigkeit des Staates ist es nach Jahrzehnten des Kahlschlags schlecht bestellt. Eine kaputtgesparte öffentliche Verwaltung, überschuldete Kommunen, ein durch Auslagerung von Aufgaben begünstigtes System organisierter Verantwortungslosigkeit, das immer schwerfälliger, korrupter und bürokratischer anmutet – die Liste der Mängel und Versäumnisse ist so lang, dass man inzwischen von Staatsversagen sprechen kann. Dass wichtige Kompetenzen auf die EU verlagert wurden, die sich nach vielen Erweiterungsrunden kaum noch auf gemeinsame Positionen einigen kann, macht die Sache nicht besser.
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Gleichzeitig werden die Anforderungen an den Staat immer größer: Die Kosten zur Bewältigung von Krisen explodieren und treiben die öffentliche Verschuldung in die Höhe. Und es reicht ja nicht, nur entstandene Schäden zu reparieren. Unsere Industrie, unsere Energieversorgung, unsere Verkehrssysteme müssen umgebaut werden, um von fossilen Ressourcen unabhängig zu werden – eine gewaltige Aufgabe für ein Land, in dem etwa jeder zehnte Arbeitsplatz an der Automobilindustrie hängt.
Kein Aufbruch, sondern „Weiter so“
Nun hat die Ampel-Koalition zwar versprochen, kräftig in Bildung, Digitalisierung und Klimaschutz zu investieren. Doch obwohl der Staat derzeit zum Nulltarif Kredite aufnehmen kann, hat sich die Ampel auf eine baldige Rückkehr zur Schuldenbremse verpflichtet. Auch Steuererhöhungen soll es keine geben, obwohl Milliardäre und Multimillionäre zu den Krisengewinnern zählen, die ihre Vermögen trotz Pandemie deutlich steigern konnten.
Da die FDP sich gegen die Einführung einer Bürgerversicherung sperrt, werden die Abgaben zur Kranken- und Rentenversicherung steigen, vermutlich verbunden mit weiteren Leistungskürzungen. Dabei gibt es schon jetzt kaum ein anderes Land in Europa, in dem Geringverdiener nach Jahrzehnten der Erwerbstätigkeit so wenig Rente bekommen. Eine Überwindung der Profitorientierung im Gesundheitswesen wäre auch nötig, um den Personalnotstand in der Pflege abzubauen. Gesundheit darf nicht zu einer Ware werden – daher müsste das neoliberale System der Fallpauschalen durch eine bedarfsgerechte Finanzierung ersetzt und die Privatisierung von Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen rückgängig gemacht werden.
Doch statt des großspurig versprochenen Aufbruchs setzt die Ampel in Fragen der Sozialpolitik auf ein „Weiter so“. Zwar soll der Mindestlohn einmalig auf zwölf Euro angehoben werden, doch ein Großteil dieser Erhöhung wird von steigenden Preisen für Energie, Strom und Lebensmittel wieder aufgefressen. Außerdem soll im Gegenzug das Arbeitszeitgesetz aufgeweicht werden, das heißt: Arbeitszeiten werden noch weiter entgrenzt. Und statt den Sozialstaat über die Schaffung sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze zu stärken, will die Ampel ihn über die Förderung von Mini- und Midijobs und die staatliche Subventionierung privater Rentenprodukte weiter schwächen. „Ich bin beeindruckt von der Offenheit bei SPD und Grünen, die zum Kapitalmarkt bislang Distanz pflegten. Mit der Union war das bisher undenkbar“, schwärmt FDP-Chef Lindner mit Blick auf die Pläne zur teilweisen Kapitaldeckung der gesetzlichen Rente. Dass Aktienkurse auch einbrechen können, ist 13 Jahre nach dem letzten Finanzcrash offenbar in Vergessenheit geraten.
Um unser Land zukunftsfähig zu machen und soziale Gräben zuzuschütten, müsste die Ampel in der Sozial- und Finanzpolitik neue Wege gehen – doch dazu ist sie nicht bereit. Den Preis dafür zahlen nicht nur Geringverdiener, sondern auch die Mittelschicht, die man über steigende Preise, Gebühren und Abgaben für die Kosten der Krise zur Kasse bitten wird.
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