Titelthema
Wollt ihr das wirklich?
Der Lockdown simuliert eine deglobalisierte Welt. Es ist eine globale Depression mit Massenarbeitslosigkeit und in vielen Ländern Armut und Hunger.
Die Geschichte zeigt uns, dass die Menschen, immer wenn Pandemien auftreten, der Globalisrung die Schuld dafür geben. Krankheiten kommen immer von woanders her. Daher fühlen wir uns sicherer, wenn wir uns verstecken, Mauern bauen und Sündenböcke verantwortlich machen. Zudem hat die gegenwärtige Pandemie auch gezeigt, wie gefährlich abhängig wir von Lieferketten sind, die sich bis auf die andere Seite des Globus erstrecken. Viele fordern mehr wirtschaftliche Unabhängigkeit.
Die Realität ist jedoch komplexer. Die meisten Krankheiten sind nur eine neue Version einer älteren Krankheit, von der sie durch ein paar Mutationen getrennt sind. Wenn wir der früheren ausgesetzt waren, sind wir vielleicht gegen die nächste immun. Dies bedeutet, dass eine offene Welt, in der wir viel reisen, dafür sorgt, dass sich Viren nicht lange genug isoliert entwickeln können, um einen apokalyptischen Ausbruch auszulösen.
Dies ist auch der Grund, weshalb zuvor isolierte Gruppen von Epidemien am schlimmsten heimgesucht werden. Während der Schweinegrippe-Pandemie im Jahr 2009 waren 24 der 30 am stärksten betroffenen Länder Inselstaaten.
Mobilität als natürliche Impfung
Forscher der Universitäten von Oxford und Tel Aviv haben verschiedene Ausmaße der Reisetätigkeit zwischen Bevölkerungen mit Modellen untersucht und sind dabei zu dem Schluss gekommen, dass ein hohes Maß an Mobilität dazu führt, dass wir mehr Grippeviren auffangen, dadurch aber auch die Kreuzimmunität steigt und ihre Tödlichkeit sinkt. Damit werden apokalyptische Grippeausbrüche unwahrscheinlicher.
Die menschliche Mobilität ist wie eine „natürliche Impfung“, sagt Robin Thompson, einer der Forscher in Oxford. Die Forscher vermuten, dies könnte erklären helfen, warum in den letzten 100 Jahren eine so schwere globale Pandemie wie die Spanische Grippe ausgeblieben ist. Somit hat das Düsentriebwerk in diesen hundert Jahren Abermillionen Menschenleben vor Pandemien gerettet.
Leider mutiert ein Virus, das Tiere befällt, manchmal und springt auf den Menschen über, wie das neue Coronavirus. Dann fehlt uns die Widerstandsfähigkeit und es verbreitet sich rasch. Dies ist jedoch kein modernes Phänomen. Die Welt war immer mit Pandemien konfrontiert. „Die Mikroben sind naturgegeben“, schrieb Albert Camus in Die Pest. „Das Übrige, die Gesundheit, die Unversehrtheit, die Reinheit, wenn Sie so wollen, ist eine Folge des Willens.“
Neu sind nicht die Mikroben, sondern es ist die Tatsache, dass unserem Willen dank der Wunder der weltweiten Wissenschaft und Technologie und eines nie da gewesenen Wohlstands bessere Instrumente zur Verfügung stehen. Heute benötigen Kliniken weltweit mehr Beatmungsgeräte, aber 1950 gab es auf der ganzen Welt insgesamt nur ein einziges. Heute können wir das Genom des Virus in einer Woche lesen (und auf dieser Grundlage waren Berliner Forscher imstande, innerhalb einer Woche einen Test zu entwickeln). Vor 30 Jahren gab es diese Technologie noch nicht.
Neu sind grenzüberschreitende Innovationen und Informationen. Kliniken, Forscher, Gesundheitsbehörden und Pharmaunternehmen überall können sich nun gegenseitig sofort mit Informationen versorgen und die Anstrengungen zur Analyse und Bekämpfung des Problems koordinieren. Durch die Organisation einer klinischen Prüfung von Therapeutika in vielen Ländern gleichzeitig können sie eine kritische Masse von Patienten erreichen, die sie im jeweils eigenen Land allein nie gefunden hätten.
Alles wäre zusammengebrochen
Es dauerte 3000 Jahre, bis die Menschheit Impfstoffe gegen Pocken und Polio entwickelte. Aber nur drei Monate, nachdem die Welt vom neuen Coronavirus erfuhr, listete die National Library of Medicine der USA 282 potenzielle Medikamente und Impfstoffe, die bereits getestet wurden, dagegen auf, oder es waren entsprechende Vorbereitungen im Gange.
Mikroben waren immer global. Heute ist es unsere Antwort darauf, und daher hat die Menschheit zum ersten Mal eine wirklich gute Chance in ihrem Kampf.
Sollten wir uns nicht unabhängig davon, warum Katastrophen zuschlagen, besser vorbereiten, indem wir dafür sorgen, dass wir bei Gütern und Dienstleistungen, die wir brauchen, unabhängiger werden? Dies können wir natürlich erreichen, indem wir Vorräte an wichtigen Gütern, Medikamenten und Schutzausrüstung anlegen. Wir sollten aber Sicherheit nicht mit wirtschaftlicher Unabhängigkeit verwechseln.
Ja, wir haben erfahren, dass es gefährlich ist, wenn wir uns in Bezug auf alle unsere Bauteile auf China verlassen. Wenn China ausfällt, gilt dies auch für viele unserer Zulieferungen. Aber eine Lieferkette wird nicht dadurch sicherer, dass man sie in räumlicher Nähe sogar noch weiter konzentriert. Tut man dies, fällt alles aus, wenn es ein örtliches Problem gibt. Diejenigen, die davon träumen, alles nach Europa zurückzubringen, sollten daran denken, dass ein Teil der Produktion unter anderem auch deshalb weiterläuft, weil die asiatischen Industrien den Betrieb wieder aufgenommen haben und uns mit notwendigen Inputs und Gütern versorgen. Wären unsere Lieferketten alle auf Europa beschränkt gewesen, wären sie während des Lockdowns alle zusammengebrochen.
Mehr Wohlstand gab es nie
Man sollte zudem an die Komplexität der einzelnen Produkte denken, die wir verwenden. Sie wären nie so fortgeschritten und so billig, wenn sie nicht das komplexe Endergebnis Hunderter hoch spezialisierter Einrichtungen in vielen verschiedenen Ländern wären. Wir wären niemals imstande, die Fähigkeiten und das Kapital in jedes einzelne davon zu investieren, wenn wir nur für den heimischen Markt produzieren würden.
Jetzt will jedes Land seine eigene Beatmungsgeräte-Industrie. Doch jedes Beatmungsgerät wird aus rund 500 hoch spezialisierten Teilen hergestellt. Für wirtschaftliche Unabhängigkeit braucht man daher allein bei diesem Beispiel nun 500 nationale Fabriken, um jedes einzelne von ihnen herzustellen. Dadurch werden sie sicherlich so teuer und schlecht passend, dass wir es mit ein paar Eisernen Lungen aus der Zeit des Kommunismus zu tun hätten.
Spezialisierung und Arbeitsteilung bedeuten, dass wir mehr Ideen, Wissen und Arbeit nutzen können, als uns sonst zur Verfügung stünden. Die Ausweitung dieser Spezialisierung und Arbeitsteilung weltweit ist der Grund dafür, dass wir, was die Gesundheit und den Wohlstand betrifft, gerade das beste Vierteljahrhundert in der Geschichte der Menschheit erlebt haben.
Seit 1990 ging die extreme Armut weltweit von 37 Prozent auf weniger als neun Prozent zurück. In der gleichen Zeit sank der Anteil der an Analphabetismus und Unterernährung leidenden Weltbevölkerung um 40 Prozent. Die Kindersterblichkeit halbierte sich, wodurch der Tod von sechs Millionen Kindern jedes Jahr verhindert werden konnte.
Jetzt spüren wir, dass etwas fehlt
Gerade jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, um diesen Fortschritten größere Aufmerksamkeit zu schenken, denn wir können sie nicht als selbstverständlich ansehen. Diese Pandemie ist eine Vorschau darauf, wie eine geschlossene Welt aussieht, sowie auf ihre menschlichen und wirtschaftlichen Folgen. Wir haben das Reisen und den Handel erst seit ein paar Monaten eingestellt. Doch das Ergebnis dessen ist nicht die rosige Welt, die uns die Globalisierungsgegner der Linken und Rechten versprochen haben. Es ist eine weltweite Depression und Massenarbeitslosigkeit, und in vielen Ländern drohen Armut und Hunger.
Manchmal weiß man erst, was man hatte, wenn es nicht mehr da ist.
Johan Norberg ist Ideengeschichtsforscher und Senior Fellow am Cato Institute in Washington D.C. Sein jüngstes Buch ist „Fortschritt: Ein Motivationsbuch für Weltverbesserer“, Buch des Jahres in The Guardian und The Economist. Für seine Arbeit hat Norberg mehrere Auszeichnungen erhalten, darunter die Goldmedaille der deutschen Hayek-Stiftung.