Kollektives Narrativ in Sachen Pflege
Für die Verbesserung der Situation der "polnischen Perlen" in der deutschen Langzeitpflege geht niemand auf die Straße, rührt sich keine öffentliche Empörung.
Die weitgehend illegale und oftmals in prekären Verhältnissen stattfindende Beschäftigung von über 600.000 mittel- und osteuropäischen Haushaltshilfen und Betreuungskräften in deutschen Seniorenhaushalten ist ohne Zweifel seit Jahren eine für die Politik und die Gesellschaft mehr als beschämende Situation. Denn diese Hilfen sind — und das ist bekannt — weitestgehend selbst in ihren elementarsten Rechten eingeschränkt.
Doch obwohl sich die Proteste gegen skandalöse Arbeitsbedingungen wie zum Beispiel in den deutschen Schlachthöfen und im internationalen Transportgewerbe mehren und die Politik zu Verbesserungen und Regulierungen gezwungen ist, bleibt es in Sachen Haushaltshilfen ruhig. Niemand empört sich öffentlich über prekäre Situationen der Haushaltshilfen unter deutschen Dächern, geschweige denn, dass dafür jemand auf die Straße gehen will. Im Gegenteil: "Die Polin", die sich "aufopfernd" um die Senioren kümmert und die "dankbar ist, dass sie bei uns in Deutschland gutes Geld verdienen kann", ist so etwas wie ein kollektiv akzeptiertes Narrativ, das einen untragbaren Zustand entschuldigt und gleichzeitig rechtfertigen soll. Es geht sogar so weit, dass "die Polin" Gegenstand einer amüsanten Soap-Opera im Vorabendprogramm werden kann ("Magda macht das schon"). Das grenzt an einem gesellschaftlichen Selbstbetrug.
Denn bei der Beschäftigung der Haushaltshilfen aus Mittel- und Osteuropa gibt es nur sehr selten verbindliche oder belastbare Vereinbarungen zu Arbeitszeiten, freien Tagen, Vergütung von Bereitschaftszeiten oder Regelungen für die Unterbringung und Verpflegung in den Seniorenhaushaltungen. Vieles ist dem Zufall oder auch der Willkür überlassen, oftmals also dem Recht des Stärkeren. Dabei wird auch in Kauf genommen, dass die Hilfen aus dem Ausland sich glücklich schätzen dürfen, wenn sie für ihren Einsatz rund um Uhr als Lohn im Monat die 1000-Euro-Marke erreichen. 24-Stunden-Pflege wird das euphemistisch in Deutschland genannt.
Die Profiteure des Systems sind in der Regel die Firmen und Organisationen, die Mitarbeiter in Mittel- und Osteuropa suchen, anwerben und vermitteln. Für sie lohnt sich einerseits die Not in deutschen Seniorenhaushaltungen auf der Suche nach Hilfe und Unterstützung und andererseits das soziale Gefälle zwischen Ost und West, das die Bereitschaft zur Arbeitsmigration befördert. Nur ganz wenige Anbieter in diesem Markt gehen einen anderen Weg und treffen mit den Haushaltshilfen eine faire Vertragsgestaltung, die den deutschen arbeitsrechtlichen Bestimmungen entsprechen und beweisen, dass es auch anders — eben fair und gerecht – gehen kann.
Anzeichen, am skandalösen System der 24-Stunden-Pflege etwas ändern zu wollen, lassen sich — trotz dem einen oder anderen öffentlichen politischen Lippenbekenntnis — bisher nicht erkennen. Die illegale, irreguläre und/oder ausbeuterische Beschäftigung einer mittel- und osteuropäischen Haushaltshilfe gilt eben weithin eher als ein Kavaliersdelikt. Und viele Haushaltungen, die eine solche Hilfe in Anspruch nehmen müssen, verlassen sich auf die Aussagen der vermittelnden Agenturen oder Firmen aus dem Ausland, dass "alles völlig legal sei".
Gleichzeitig wird die Politik nicht müde, gebetsmühlenhaft das sozialpolitische Mantra von "ambulant vor stationär" zu bemühen und die Familienpflege als das ideale Leitbild für die Langzeitpflege zu stärken. Dabei ist die Realität allen Verantwortlichen hinlänglich bekannt: Das informelle Hilfepotenzial in den Familien schwindet im Zuge des demografischen Wandels und gesellschaftlicher Entwicklungen (Stichwort: multilokale Familien). "Ambulant vor stationär" funktioniert schon lange nur noch auf dem Rücken der weitgehend rechtlosen Haushaltshilfen aus Mittel- und Osteuropa.
Ein weiteres Problem ist, dass die Haushaltshilfen in ihren Heimatländern, wie zum Beispiel in Polen, oftmals mit völlig falschen Versprechungen für die Tätigkeit in Deutschland angeworben werden. So sucht man in den Stellenanzeigen in Polen vergeblich die Bezeichnung "24-Stunden-Pflege", vielmehr werden Gesellschafterinnen und Hilfen für den Haushalt gesucht. Deutschkenntnisse seien von Vorteil, aber nicht zwingend erforderlich, heißt es zudem in den polnischen Offerten. Und es werden auch keine pflegerischen Ausbildungen verlangt, sondern lediglich Erfahrung bei der Unterstützung älterer Menschen. In Deutschland hingegen wird fast regelhaft das Bild einer "rund um die Uhr verfügbaren, umfassend ausgebildeten Pflegerin mit Erfahrung und guten Deutschkenntnissen" entworfen, die "preiswert, für wenig Geld, mit großer Geduld und viel Herzenswärme die Senioren im eigenen Haushalt versorgt und mit ihnen unter einem Dach lebt und daher immer greifbar ist". Dass diese so offensichtliche Asymmetrie zwischen dem Leistungsversprechen für den Kunden und den Zusagen für die Haushaltshilfe zu Missverständnissen und Konflikten führen muss, ist vorprogrammiert. Auf jeden Fall lässt sich mit dieser Logik und auf diesem Fundament nicht ein Großteil der ambulanten Langzeitpflege im Land bestreiten.
Der aktuell im Umlauf befindliche Entwurf eines Eckpunktepapiers zur geplanten Pflegereform sieht nun unter anderem vor, dass Leistungen der Pflegeversicherung künftig auch für die 24-Stunden-Betreuung — in Höhe von bis zu 40 Prozent der Pflegesachleistung — eingesetzt werden können. Wenn dies so kommt, ist das zweifelsfrei eine gute Nachricht für die Haushaltungen, die eine Haushaltshilfe einsetzen. Denn es bedeutet eine spürbare finanzielle Entlastung. An der vielfach prekären Situation der Hilfen, die in den Seniorenhaushaltungen tätig sind, ändert diese Novellierung aber nichts. Der Gesetzgeber muss daher Regeln schaffen, sprich tarifliche beziehungsweise arbeitsrechtliche Grundlagen, die mit diesem Leistungsanspruch verknüpft sind und damit den Beschäftigten in den Seniorenhaushaltungen zumindest die elementarsten Rechte sichern, die eigentlich selbstverständlich sein sollten, aber in der 24-Stunden-Betreuung noch eher die Ausnahme sind; zum Beispiel ein freier Tag in der Woche, Anspruch auf medizinische Leistungen und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Absicherung bei Arbeitsunfällen, Regeln für die Unterkunft und eben auch eine gerechte Entlohnung.
Doch nun kommt auch von einer ganz anderen Seite Bewegung in diese leidige Angelegenheit: Der Fünfte Senat des Bundesarbeitsgerichts (Aktenzeichen 5 AZR 505/20) hat sich in letzter Instanz mit der Revision eines Urteils des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 17. August 2020 (Aktenzeichen 21 Sa 1900/19) zu befassen, das es in Sachen Haushaltshilfen wahrlich sich hat. Denn im anhängigen Verfahren wurden vom Gericht einer bulgarischen Haushaltshilfe, die, über eine deutsche Vermittlungsagentur angeworben, in Deutschland Senioren 24 Stunden, rund um die Uhr gepflegt und betreut hat, nicht nur der Anspruch auf den deutschen Mindestlohn, sondern auch eine tägliche Arbeitszeit von 21 Stunden bestätigt. Sollte das Bundesarbeitsgericht dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg folgen, dann könnte dies Grundlage für eine von vielen Seiten schon lange geforderte leistungsgerechte Vergütung und faire Leistungsgestaltung in der 24-Stunden-Pflege sein. Gleichzeitig könnte ein solches Urteil helfen, den Weg für eine gesetzliche Regelung dieser wichtigen Betreuungsform in der Langzeitpflege zu ebnen. Denn wir brauchen diese "helfenden Hände", um die pflegerische Versorgung auch in Zukunft aufrecht zu erhalten.
Wieder einmal sind also (leider) unsere Bundesrichter gefragt und aufgefordert, einen politisch überfälligen Prozess in Gang zu setzen und auf die Agenda der Regierenden zu platzieren.
Nach Auskunft der Pressestelle des Bundesarbeitsgerichts ist mit einer Entscheidung im Laufe des ersten Halbjahrs 2021 zu rechnen.
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