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Gute Pflege für ein gutes Leben
Eine Fürsorge, die sich am Bedarf des Pflegebedürftigen orientiert, ist teuer und daher selten. Visionen und Optionen für eine neue Kultur der Sorge.
Blättert oder scrollt man durch die Veröffentlichungen der Tageszeitungen verfolgt man die Publikationen der Fachpresse, dann werden Fragen nach der Qualität oder der Kultur von Pflege nur selten gestellt. Im Fokus stehen eher Fragen der Quantität: Wie viele Pflegekräfte brauchen wir? Wie viele helfende Hände fehlen uns heute, morgen, übermorgen? Und woher sollen sie noch kommen, die Mitarbeiter für die neuen 13.000 Stellen, die jetzt in den vollstationären Einrichtungen neu besetzt werden könnten, müssten und sollten? Aus Afrika, aus Fernost? Oder sind wir mit einer Pflegeplatzgarantie aller Sorgen um die uns Nächsten enthoben?
Von der Politik und der Großen Koalition werden nicht wirklich ernsthaft Fragen nach einer inhaltlichen und strukturellen Weiterentwicklung von Pflege aufgeworfen, auch wenn es, zumindest zaghaft, einige wenige Politiker wagen, die künftige Finanzierbarkeit der Pflegeversicherung zu thematisieren – vor allem angesichts ständig wachsender Eigenbeteiligungen an den Gesamtpflegekosten und den damit verbundenen finanziellen Belastungen der Bürger.
Ständige Suche nach dem Optimum
Dies alles steht im Kontrast zu den vielfältigen Bemühungen und dem Engagement von Trägern, Wissenschaft und Fachverbänden, trotz der angespannten und vielerorts dramatischen Personalsituation, eine gute, gelingende Pflege und Begleitung zu entwickeln und zu sichern.
Es ist von daher der richtige Zeitpunkt, in Zeiten eines inhaltlichen Verharrens aufseiten der Politik das Paket Pflege weit zu öffnen und sich mit der entscheidenden Frage zu befassen, was denn gute Pflege ausmacht, welche Ideen wir als Gesellschaft und welche die Experten von guter Pflege haben: ob ein gutes Leben bei oder trotz Pflegebedürftigkeit möglich ist und welche Bedingungen es dafür braucht. Keine Frage: Niemand wünscht sich, ständig von der Hilfe anderer abhängig, das heißt pflegebedürftig zu sein oder zu werden. Und das besonders in unseren nach weitestgehender Autonomie strebenden und die Individualisierung der Gesellschaft huldigenden Zeiten. Der Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, Andreas Wirsching, hat in seiner zu Recht viel beachteten Wiener Vorlesung „Kollektiver Freizeitpark oder Burnout-Gesellschaft“ im Jahr 2016 wichtige Hinweise zur Gemütslage der modernen Gesellschaft gegeben und uns damit so etwas wie ein Psychogramm unserer Zeit vorgelegt. Wirsching sagt: „Der heutige mündige Mensch (ist es) gewohnt, in den Kategorien von Wahlfreiheit, Planung und Entscheidung zu denken. Er fühlt sich als Herr seiner selbst und sucht in seinem Lebenslauf ein Maximum an Optionen einzubauen. Der Mensch unserer Gegenwart wird somit zum Lebenslauf-Strategen. (…) Was diese Vorstellung freilich durchkreuzen kann, ist das Leben selbst“.
Ältere als Gewinn begreifen
In solch durchgestylte Zeiten scheinen nun wirklich nicht Themen wie das Angewiesensein auf andere, Pflegebedürftigkeit oder womöglich das Ende des Lebens zu passen. Und doch: Der große Heidelberger Gerontologe Andreas Kruse weist uns einen Weg. Er erinnert in seiner kleinen, aber inhaltlich gewichtigen Handreichung „Im Alter neu werden können“ mit dem ihm eigenen Nachdruck daran, dass das Leben endlich bleibt und Grenzsituationen wie Pflege und Tod zum Leben gehören – auch wenn heute die Altersphase lange dauert und von vielen über Jahrzehnte bei guter Gesundheit mit erstaunlicher Lebenskraft erlebt wird. Er geht sogar noch weiter: „Die Auseinandersetzung mit Grenzsituationen kann zur weiteren Entwicklung der eigenen Person führen. (…) Ältere Menschen können durch die Art und Weise, wie sie sich mit Grenzen in ihrem Leben auseinandersetzen, jüngeren Menschen zum Vorbild werden und so deren Entwicklung fördern.“
Kruse berichtet eindrücklich von den Erfahrungen jüngerer Menschen, die in der Begegnung mit Älteren Anregungen für ihre gedankliche und emotionale Beschäftigung mit grundlegenden Fragen des Lebens gewonnen haben. „Selbst die Begegnung im Sterben kann Lebensgewinn für die nachfolgenden Generationen bedeuten“, so Kruse. Teilhabe am gesellschaftlichen Leben Freilich braucht es dafür aber auch eine altersfreundliche Kultur in unserer Gesellschaft, die zunächst ganz banal an einem allgemeinen Interesse am Alter und einer Wertschätzung „der Alten“ zum Ausdruck kommt. Die wirkliche Nagelprobe haben wir aber als Gesellschaft bei der Fragestellung zu bestehen, inwieweit dem alten Menschen auch bei Pflegebedürftigkeit Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich ist und wie er seine Kompetenzen, seine Ressourcen, vor allem aber seine Potenziale zur Entfaltung bringen kann – gerade in Grenzsituationen. Zu dieser Fragestellung gehört auch untrennbar das öffentliche Bild vom Alter, das in einer Gesellschaft gezeichnet wird und vorherrscht. Betrachten wir Alter als eine Belastung oder Alter als einen Schatz, als Erfahrungsreichtum? Die Folgen eines auf Defizite ausgerichteten Altersbildes, das den alten Menschen letztendlich diskriminiert, liegen auf der Hand. Ein solches Selbstverständnis käme einer gesellschaftlichen Bankrotterklärung gleich.
Andreas Kruse legt einen Gegenentwurf vor und bringt dies pointiert mit seiner Schrift „Alternde Gesellschaft – eine Bedrohung?“ auf den Punkt: „Auch im Falle schwerer körperlicher und kognitiver Verluste eines älteren Menschen achtet eine altersfreundliche Kultur dessen Einzigartigkeit, bringt sie ihren Respekt vor dessen Menschenwürde zum Ausdruck, vermeidet sie es, die Lebensqualität dieses Menschen von außen bestimmen zu wollen (…)“.
Einer Graduierung der Menschenwürde nach jeweiliger Altersstufe erteilt Kruse damit eine deutliche Absage. Und gleichzeitig schälen sich die Elemente für ein gutes Leben im Alter, auch bei Pflegebedürftigkeit, heraus: Menschenwürde, Teilhabe, Bedeutung für andere haben, Potenziale entfalten, Erfahrungen teilen und sich mitteilen können. Und dennoch: Als Thomas Klie mit seinem Forscherteam beim DAK-Pflegereport 2018 die Frage nach gutem Leben und Pflegebedürftigkeit stellte, hat das manche irritiert. Zum Teil löste die Fragestellung sogar Abwehr aus. Pflegebedürftigkeit und gutes Leben, das geht doch nicht zusammen! Im Sinne der Philosophin und Rechtswissenschaftlerin Martha Nussbaum, die auch im deutschsprachigen Raum immer stärker breite Rezeption und Beachtung findet, zweifellos: „Ein gutes Leben hängt (…) von den Möglichkeiten ab, Zugang zu essentiellen Lebenserfahrungen zu haben, verbunden mit der Chance, sie zu gestalten. Dazu gehört, Bindungen zu anderen Menschen (…) einzugehen und aufrechtzuerhalten und diejenigen zu lieben, die uns lieben und für uns sorgen, und über ihre Abwesenheit traurig zu sein; allgemein gesagt: zu lieben, zu trauern, Sehnsucht und Dankbarkeit zu erfahren. (…) Vor allem die Achtung des Einzelnen durch die Gemeinschaft befähigt pflegebedürftige Menschen, ein (…) volles Menschenleben bis zum Ende zu führen“.
Wünsche und Bedürfnisse achten
Und in der Tat: Dem DAK-Pflegereport 2018 entnehmen wir, dass die Frage nach einem guten Leben bei Pflegebedürftigkeit dann sehr fruchtbar ist, wenn die Pflegebedürftigen selbst befragt werden. Die dabei erhaltenen Antworten öffnen den „Blick für Lebensthemen, Wünsche und Bedürfnisse, die in einer existenziellen Weise bedeutsam sind“, wie im Pflegereport zu lesen ist. Dies kann auch durch die jüngste Kundenbefragung 2018 in den Senioreneinrichtungen des KWA Kuratorium Wohnen im Alter bestätigt werden. „Am sozialen Leben teilzunehmen“ ist den meisten Stiftsbewohnerinnen und Stiftsbewohnern ausgesprochen wichtig. 85 Prozent der hochbetagten Bewohner der KWA-Einrichtungen sind der Meinung, dass es wichtig ist, „Aufgaben im Leben zu haben“, und 60 Prozent der Teilnehmer an der Befragung betonten, dass ihnen das freiwillige Engagement als Stiftsbewohner wichtig ist. Besonders ausgeprägt ist bei den Bewohnern das Interesse an aktuellen Entwicklungen, in Politik, Kultur und Gesellschaft.
Insbesondere Träger von Senioreneinrichtungen sind demnach aufgefordert, ihre Angebote und Dienstleistungen, vor allem aber ihre Kultur entsprechend auszurichten und so ein gutes Leben möglich zu machen und zu befördern. Das Wissen, wie es geht, wie es gehen könnte, welche Elemente dafür notwendig sind, sind uns bekannt und wurden durch ungezählte Untersuchungen und Studien verschiedenster Professionen bestätigt.
Nur wie kann das gehen unter den schwierigen Rahmenbedingungen? Fachkräftemangel hier, ein sich abzeichnender Vertrauensverlust in die Branche der Seniorenwirtschaft dort, aber gleichzeitig sich weiter ausweitende Qualitätsanforderungen an Einrichtungen und Dienste. Die Wirklichkeit sieht vielerorts wirklich anders aus. Reichen die Ressourcen lediglich für die Sicherung einer weitgehend standardisierten Grundversorgung in der Pflege aus? Oder können wir es uns leisten, die Lebensqualität, die Idee von einem guten Leben auch für Pflege und Begleitung zu entwerfen und umzusetzen?
Innere und äußere Kündigungen
Andreas Kruse macht wie viele andere ausgewiesene Fachleute darauf aufmerksam, dass die in den Sozialgesetzbüchern niedergelegten und in der Selbstverwaltung von Pflege ausgehandelten „Pflegeleistungen, (…) nicht primär am Bedarf, sondern einseitig an den Finanzierungsmöglichkeiten orientiert sind“. Sprich: Das, was die Solidargemeinschaft an Pflege gewährt, bildet oftmals nicht oder nur in einem sehr geringen Maße die Bedarfe und Bedürfnisse der auf Unterstützung angewiesenen Menschen ab. Mit einem guten Leben haben diese weitgehend normierten Pflegeleistungen wenig zu tun.
Das ist fatal. Denn dies führt auch, so lesen wir bei Kruse, bei Pflegemitarbeitern nicht nur zu inneren, sondern oft auch zu äußeren Kündigungen: „Die finanzielle Situation der Pflegeeinrichtungen führt dazu, dass die Zeit für die notwendige Pflege immer stärker beschnitten wird. Die Zeitknappheit führt dazu, dass pflegebedürftige Menschen oft nicht mehr als Personen in der Pflegebeziehung ernst genommen werden können, sondern zu Objekten der Verrichtung werden. Viele Pflegekräfte leiden darunter, nicht mehr als beziehungsbereite Menschen wahrgenommen, sondern als Pflegewerkzeuge eingesetzt zu werden.“
Der Weg aus der Sackgasse
Was heißt das für uns? Zunächst: Die rigorose Ökonomisierung des Sozialen, der (Aber-)Glaube an einen „Markt der Pflege und Sorge“, der zum einen eine umfassende staatliche Standardisierung und Normierung erfährt und andererseits von einer immer stärkeren Herausbildung von börsennotierten und damit zwangsläufig der Gewinnmaximierung verpflichteten Pflegekonzernen geprägt wird, birgt die große Gefahr einer sich den menschlichen Bedürfnissen und Bedarfen verschließenden Sackgasse, in der das gute Leben des Menschen immer weniger Platz einnimmt.
Der Gegenentwurf erscheint schwierig und kompliziert, ist aber ein humaner: eine Pflegeversicherung, die den Bedarf und die Bedürfnisse des einzelnen Individuums in den Blick nimmt und diese in Leistungen abbildet – nicht gegliedert und zerstückelt in ambulant, teilstationär oder ambulant, nicht bemessen in Pflegegraden, sondern zum Beispiel in individueller Zeit, die der Einzelne benötigt, um seine Selbstständigkeit zu ermöglichen oder wiederherzustellen.
Gleichsam würde dies den Pflegenden, egal ob dies Familienangehörige, Vertrauenspersonen, Ehrenamtliche oder professionelle Pflegekräfte sind, die Beziehungsarbeit Pflege erlauben, die Beachtung und Bedeutung schenkt. Diese Balance ist die Chance für eine gelingende Sorgearbeit, ganz gleich an welchem Ort – ob im Pflegeheim, im Wohnstift, in der Senioren-WG oder zu Hause in einem familiären Umfeld.
Weitere Informationen lesen Sie im Interview mit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn "Wer Leistungen benötigt, bekommt sie".
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