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Lehren aus der Pandemie

Forum - Lehren aus der Pandemie
Ein Pestbrief war ein Gesundheitspass, der im Jahre 1374 in Venedig eingeführt wurde. Die 30-Tagefrist wurde im Jahre 1377 von der dalmatinischen Stadtrepublik Ragusa auf 40 Tage erhöht, woraus der Begriff Quarantäne entstand. © Wikipedia/Gemeinfrei

Als 1377 im dalmatinischen Ragusa pestverseuchte Schiffe ankamen, durften Besatzung und Waren erst nach 30 oder sogar 40 Tagen von Bord. Daraus hätte man in der gegenwärtigen Pandemie lernen können.

Rolf Hennighausen01.01.2021

Die durch Sars-CoV-1 (Sars = englisch für severe acute respiratory syndrom) mit Ursprung in China ausgelöste erste Coronavirus-Pandemie mit weltweit rund 1000 Toten konnte im Winter 2002/2003 durch schnelles Erkennen und Handeln nach einem halben Jahr beendet werden. Ganz anders verlief es bei der jetzigen Coronavirus-Pandemie, die als Sars-CoV-2-Ausbruch in der chinesischen Millionenstadt Wuhan zunächst unter Androhung von Sanktionen in China totgeschwiegen und als Gefahr weltweit unterschätzt wurde.

Es hätte besser laufen können

Deutschland ist vergleichsweise gut durch die erste Coronawelle gekommen. Was hätte man noch besser machen können? Der internationale Flugverkehr hätte viel früher eingeschränkt werden müssen, und an den Flughäfen fehlten die medizinischen Kontrollen. Großveranstaltungen wie die Fußballspiele und Faschingsveranstaltungen hätten abgesagt werden müssen. Die infizierten Winterurlauber in Ischgl hätten nicht ausreisen, sondern erst nach Genesung in ihre Heimatländer zurückkehren dürfen. Die dann in Deutschland entstandenen Hotspots hätte man einkreisen und abriegeln müssen, um die Verbreitung der Infektion in noch nicht infizierte Gebiete zu verhindern.

Das Robert-Koch-Institut und die Landesbehörden waren nicht in der Lage, die schon in früheren Jahrhunderten bewährte seuchenhygienische Option des „Kordon Sanitär“ zu verfügen. Erstmals 1377 im dalmatinischen Ragusa (heute Dubrovnik) wurden im Mittelalter aus pestverseuchten Gebieten ankommende Schiffe für 30 bis 40 Tage in Quarantäne gelegt, ehe Mannschaft und Waren angelandet werden durften. Diese Seuchenabriegelung bezeichnet man auch als „Pestkordon“ oder „Kordon Sanitär“. Das wäre für mich als Hygieniker und Epidemiologe auch das richtige Prinzip, um Infektionen in Hotspots „auszuhungern“. Es dürfte dann aus der eingekreisten und abgesperrten Region niemand mehr diese Region verlassen, aber das Leben und die Mobilität in der abgesperrten Region gingen weiter.

Das hat gegenüber einem regionalen Lockdown den Vorteil, dass Ansteckungswege in der mit „Kordon Sanitär“ abgesperrten Region weiter präsent bleiben und so durch die Gesundheitsämter in der Infekt- und Kontaktnachverfolgung Infektions-Cluster schneller erkannt und zügig in Isolation und Quarantäne überführt werden können. Mit dem zusätzlichen verstärkten Einsatz von Antigen-Schnelltests und PCR-Tests auf Sars-CoV-2 können Dunkelzifferinfektionen identifiziert und isoliert werden. Die Praxis des „Kordon Sanitär“ setzt voraus, dass in den noch nicht zum Hotspot gewordenen Landesteilen die Zahl der Dunkelzifferinfektionen gering ist. Die Politik entschied sich aber angesichts exponentiell steigender Infektionszahlen ab Mitte März zu einem Lockdown, der insgesamt auf zwei Monate bis Mitte Mai verlängert wurde. Ein noch härterer Lockdown hätte den Zeitraum der Maßnahmen vermutlich halbieren können.

Die Erfahrungen aus dem wesentlich stärker betroffenen Italien im Frühjahr zeigen, dass erst nach Herunterfahren der gesamten Wirtschaft und konsequenter Durchsetzung des Kontaktverbotes der Kampf gegen die Epidemie gewonnen werden konnte.

„Stroke hard and short“

Wir sind gut durch den Sommer gekommen. Doch jetzt hat uns die größere zweite Coronawelle voll erwischt. Der seit Anfang November geltende, jetzt leicht verschärfte Lockdown light hat zusammen mit den unentbehrlichen Infektnachverfolgungen der Gesundheitsämter – die Gesundheitsämter sind das Rückgrat der Pandemiebekämpfung – ein exponentielles Ansteigen der Infektionszahlen verhindert. Sie bleiben aber weiterhin auf sehr hohem Niveau. Ein dreiwöchiger sehr harter Lockdown hätte mehr bewirkt. Als Antibiotika-Experte habe ich gelernt „Stroke hard and short“!

Massenimpfungen müssen geplant und geprobt werden: Als 2004 beim Zerfall der Sowjetunion Pockenviren aus Laboratorien abhandengekommen waren und Bioterrorismus befürchtet wurde, wurden Ärzte wieder in der Durchführung der Pockenimpfung geschult und Übungen zur Massenimpfung sowohl zivil als auch militärisch durchgeführt. Eine Massenimpfübung in einer deutschen Großstadt musste abgebrochen werden, weil ein zu hoher Impfdurchlauf vorgegeben war, der in der Praxis der Übung nicht bewältigt werden konnte. Bei den Truppenwehrübungen meiner Reservelazarettgruppe in Celle haben wir umgekehrt gedacht und keine zeitlichen Vorgaben für den Impfdurchlauf gemacht, sondern in einem einstündigen realitätsnahen Übungsdurchlauf die Zahl der geleisteten Impfungen registriert. 2004 kamen wir mit dem aufgestellten „Impfmodul“ bei zwei Impfschlangen auf 36 Impfungen pro Stunde. In der Übung im Mai 2006 – „Massenimpfung in einer Influenzapandemie“ – hatten wir dann unser Konzept verfeinert: für Teile, die wie die Abklärung von Kontraindikationen mehr Zeit benötigen, wurde die Impfschlange gedoppelt, so dass in diesen Bereichen die Impfschlange vierzügig lief, und sie wurde dann zur eigentlichen Impfung wieder zweizügig zusammengezogen. So konnten wir den Durchlauf auf bis zu 92 Impfungen pro Stunde steigern. Multipliziert man 92 Impfungen mit zweischichtigem, insgesamt zwölfstündigen Impfbetrieb pro Tag, ergibt sich eine Tagesleistung von 1104 Personen. Ein Team des „Impfmoduls Bundeswehr“ bestand einschließlich der Notfall- und Quarantänestationen aus 29 Soldaten, darunter vier Ärzte. Influenzapandemie war auch das Szenario der Übung LÜKEX 2007 (Länderübergreifendes Krisenmanagement-Exercise).

Durchimpfung wird Monate dauern

Die vorgesehene Leistung eines zivilen Impfzentrums ist mit 1000 Impfungen realistisch, aber wie viel Personal wird für den vorgesehenen Betrieb von einem Dreivierteljahr benötigt? Man geht davon aus, dass der Impfbetrieb an Sonn- und Feiertagen genauso läuft wie an Werktagen. Rechnet man Urlaub und Krankheitsausfälle mit ein, dann benötigt man für das Impfen, einschließlich Administration, Ver- und Entsorgung und Bewachung, insgesamt über 300 Mitarbeitende, davon 25 bis 30 Ärzte.

Wie lange benötigt man, um die erhoffte Herdenimmunität mit einer Durchimpfung von 60 Prozent der Bevölkerung zu erreichen? In Hessen (6,3 Millionen Einwohner) kommt man bei 30 Impfzentren auf 30.000 täglich zu impfende Personen. Um einen wirksamen Impfschutz aufzubauen, benötigt jeder zu Impfende zwei Impfungen. Damit ergibt sich, dass erst nach acht Monaten und zehn Tagen für 60 Prozent der Bevölkerung die Impfung abgeschlossen ist.

Die bisherige Devise war: Immer mehr Mobilität – immer schneller und immer billiger. Zukünftig muss die Devise lauten, die notwendigen Barrieren und Hindernisse für Unerwünschtes einzubauen. Und dann erst kommt die Frage: Wie viel Mobilität ist bei diesen notwendigen Barrieren noch möglich? Das hatte man schon 1377 in der Republik Ragusa aus leidvollen Erfahrungen der Pestepidemie von 1348 gelernt.

Rolf Hennighausen

Dr. Rolf Hennighausen, RC Homberg/Efze, ist Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen und Krankenhaushygieniker des Diakonie-Krankenhauses Marburg-Wehrda. 25 Jahre war er Leiter des Kreisgesundheitsamts Goslar und als Reservist Flottenarzt d. R. im Sanitätsdienst der Bundeswehr.