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Buch der Woche

Hat der Staat Mörder gedeckt?

Die Mitglieder des NSU konnten dreizehn Jahre im Untergrund leben, dabei zehn Menschen umbringen, über ein Dutzend Banken überfallen und mutmaßlich drei Sprengstoffanschläge begehe. Wo der Prozess bislang wenig ans Licht bringt, haben Stefan Aust und Dirk Laabs umso gründlicher recherchiert und enthüllen in einer genauen Chronik der Ereignisse die fast unglaubliche Geschichte des Rechtsterrorismus in Deutschland.

23.05.2014

Prolog

DER BULLDOZER
4. November 2011
Eisenach
Freitag, 9 Uhr 20. Die Sparkasse am Nordplatz in Eisenach. Eine Mitarbeiterin ist mit dem Filialleiter in dessen Büro, als sie vorne Schreie hören. Der Chef schaut im Vorraum nach, sieht dort einen Kunden gebückt vor zwei maskierten Männern stehen. Einer der beiden brüllt herum, schickt den anderen Täter zum Chef. Die Angestellte läuft schnell in den hinteren Teil der Sparkasse, schließt sich in einem Raum mit der Notkasse ein. Kurz darauf klopft der Filialleiter und sagt ». mach auf, wir geben ihm jetzt alles.« Sie öffnet die Tür, dann die Notkasse, gibt einem der Täter ein paar Scheine. Der steckt sie in eine rote Tüte und brüllt »Mach den Tresor auf! Ihr müsst einen Tresor haben!« Der Filialleiter antwortet: »Den kriegen wir jetzt nicht auf.« Der Bankräuber schreit: »Noch ein Lüge!« und schlägt den Mann mit seinem Revolver nieder. Dem Chef wird schwarz vor Augen, er geht zu Boden, blutet am rechten Ohr. Die Angestellte und eine weitere Kollegin begleiten daraufhin einen der Täter in den Keller und schließen den Tresor auf. »Nicht das Geld mit der Farbbombe!«, schreit der Räuber, die Frau drückt ihm nicht registrierte Scheine in die Hand, dazu eine Palette mit Sondermünzen. Der Mann stopft alles in seinen Beutel, rennt weg, die beiden Frauen schließen sich im Tresorraum ein. Draußen sieht eine Zeugin, wie die zwei Männer auf Mountainbikes steigen, die zuvor an der Scheibe eines ehemaligen Cafés angelehnt waren. Sie fahren mit ihrer Beute, 71 920 Euro, davon.

Samstag am frühen Morgen, der Überfall ist keine 24 Stunden her. Der zuständige Ermittler, Michael Menzel, Kriminaldirektor, 51 Jahre alt, ist früh im provisorischen Lagezentrum seiner Polizeidirektion in Gotha. Menzel hat lockige Haare, Augen wie Schlitze, große Hände. An ihm ist nichts filigran außer seiner Brille, und die hat dicke Gläser. Er hat eine auffallend breite Nase in einem fleischigen Gesicht, der große Kopf sitzt auf einem mächtigen Kreuz. Menzel sieht aus wie jemand, der körperlich arbeitet, als Metzger oder Landwirt. Er scheint ein Mann der Tat zu sein, ein Polizist, der lieber zu schnell als gar nicht handelt. Dass er zum Bulldozer werden kann, sieht man ihm spätestens auf den zweiten Blick an. Eigentlich muss er am Montag in den Krankenstand. Daraus wird jedoch nichts. Denn seit einigen Stunden fahndet Menzel mit seiner Kriminaldirektion nach einer Frau. Ihr Name: Beate Zschäpe, 36 Jahre alt, aus Jena, seit 1998 verschwunden. Sie war gemeinsam mit zwei anderen jungen Neonazis untergetaucht. 13 Jahre lang wurden sie erfolglos gesucht. Gestern nun ist einer der beiden Männer gefunden worden. Er saß erschossen in einem Wohnmobil in Eisenach, zuvor soll er die Sparkasse am Nordplatz überfallen haben. Er wurde in der vergangenen Nacht als Uwe Mundlos identifiziert. Neben ihm lag eine weitere Leiche, mutmaßlich sein Komplize von 1998, Uwe Böhnhardt.

Menzel hat in den letzten Stunden seine alten Kontakte abtelefoniert und war auf einen LKA-Zielfahnder gestoßen, Sven Wunderlich, seit fast 20 Jahren auf die Suche nach geflohenen Straftätern spezialisiert. Wunderlich war sofort nach Gotha gefahren und erzählt ihm nun die Geschichte von Beate Zschäpe und den beiden Toten. Die drei Neonazis sollen in den 1990er Jahren Rohrbomben gebaut haben, ihre Werkstatt wurde vom Verfassungsschutz gefunden, vom LKA durchsucht. Bevor sie verhaftet werden konnten, tauchten sie unter, die drei waren damals gerade Anfang 20. Der Zielfahnder konnte sie in all den Jahren nicht finden und hatte so manches Mal den Verdacht, dass der Thüringer Verfassungsschutz mehr wusste, als er ihm gegenüber zugab. Das Amt war seit den frühen 1990er Jahren hochaktiv in der rechten Szene, führte mehrere V-Männer, die spektakulär öffentlich enttarnt wurden. Zuvor hatte besonders einer dieser Spitzel den drei Neonazis bei ihrer Flucht geholfen. Wunderlich organisiert Menzel deshalb die Privatnummer eines Verfassungsschützers von damals.

Der Bulldozer zögert nicht lange und greift zum Telefon. Er ruft den alten Geheimdienst-Mann an - Norbert Wießner, einst aus Hessen nach Thüringen gekommen, um den Verfassungsschutz aufzubauen, danach zum LKA gewechselt, inzwischen pensioniert. Er hat vor allem V-Männer und V-Frauen in der Szene geworben. Vor seiner Zeit in Hessen war er 16 Jahre lang beim Bundesamt für Verfassungsschutz bei der Terrorismusabwehr. Der Anrufer, Menzel, hat trotz seiner Masse eine helle, heisere Stimme, die aber laut und voll klingt. Wießner am anderen Ende der Leitung erinnert sich: »Ich werde das in meinem ganzen Leben nicht vergessen, wie . der Anruf kam. Es hat mich damals der Leiter der Polizeidirektion Gotha angerufen und hat gesagt: In Eisenach sind Mundlos und Böhnhardt gefunden worden. Sag mal, du warst ja vorher bei dem LfV [Landesamt für Verfassungsschutz]. Wo können wir ansetzen? Die Zschäpe fehlt, die Zschäpe ist nicht da.«1 Wießner antwortet: »Woher haste denn die Nummer, wieso rufst du mich an? Bitte, ich kann nichts sagen. Woher soll ich wissen, wo die Zschäpe ist? Als Ansatzpunkt kann ich nur Wohlleben nennen.« Der Tipp, es bei dem ehemaligen NPDFunktionär aus Jena, Ralf Wohlleben, zu versuchen, reicht Menzel offenbar nicht, er droht dem Ex-Verfassungsschützer, sagt laut Wießner: »Wenn du jetzt nichts sagst, gehe ich ins LfV und beschlagnahme die Akten.« Mehr kann oder will der ehemalige Geheimdienstler trotzdem nicht verraten.

Menzel lässt sich von Wießner nicht aufhalten, er will diesen Fall lösen, der sich in einem verblüffenden Tempo vor ihm entfaltet. Der Bulldozer mag an diesem Tag in seinem Element sein und schnell handeln, doch tatsächlich hat er als Beamter des höheren Dienstes Jahre hinter einem Schreibtisch und auf Konferenzen verbracht. Er war lange der Terrorexperte im Thüringer Innenministerium. Seit der Jahrtausendwende hatte er dort in der Polizeiabteilung die Arbeit mit dem Bundeskriminalamt koordiniert, er hat die Diskussionen um die Einrichtung des »Gemeinsamen Terrorabwehrzentrums« (GTAZ) von Polizei und Geheimdiensten in Berlin nach dem 11. September 2001 mitgemacht, obwohl die islamistische Gefahr in Thüringen eher gering war. 2009 wurde er wieder Polizist, leitete die Kriminaldirektion Gotha. Seit diesem Wechsel jagte er regelmäßig Bankräuber. Erst führte er eine Sonderkommission namens »Trio«, die nach drei Serienbankräubern fahndete - und sie schnappte. Nach dem Überfall von Eisenach ist er nun einer der gefährlichsten terroristischen Vereinigungen, die es in der Bundesrepublik jemals gab, auf die Spur gekommen - ohne das auch nur im Ansatz zu ahnen.

Am Samstag weiß Menzel jedoch schon, dass er es wieder mit Serienbankräubern zu tun haben könnte. Schon im September 2011 hatten zwei Täter eine Sparkasse in Arnstadt ausgeraubt und waren danach auf Fahrrädern geflohen. Menzel und seine Männer leiteten diese Kerninformation an alle Dienststellen im Land weiter. Bald darauf erhielten sie Antwort aus Chemnitz. Das Muster passte zu zwölf ungeklärten Überfällen in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern. Als nun in Eisenach wieder zwei Bankräuber nach dem Überfall auf Fahrrädern flohen, startet Menzel sein neues Fahndungskonzept. Nicht nur zehn bis fünfzehn Kilometer um die Bank herum, sondern innerhalb der Stadt selber sollten Streifen nach einem Überfall auf verdächtige Fahrzeuge achten, sie kontrollieren oder zumindest die Kennzeichen notieren. Die Idee dahinter: Vielleicht verladen die Täter ihre Räder in ein Fahrzeug und fliehen mit dem aus der Stadt. Wenige Minuten nach der Meldung aus Eisenach schwärmten die Polizeiwagen aus. Doch die Posten meldeten zunächst nichts. Dann ein Hoffnungsschimmer. 10 Uhr 04. Zwei von Menzels Männern befragten ein Rentnerehepaar an einer Straßenunterführung in der Nähe der Bank. Der Mann erzählte, er habe zwei »schmächtige Kerle« auf dem Parkplatz des Obi- Baumarktes gesehen. Sie hätten Fahrräder in ein Wohnmobil geladen. Den Anfangsbuchstaben des Kennzeichens hatte er sich auch gemerkt, V für Vogtland bei Zwickau in Sachsen. Obwohl die Chance groß war, dass der Camper längst weg ist, durchkämmten Streifenwagen weiter die Stadt. Zunächst vergebens. Über zwei Stunden nach der Tat, um 11 Uhr 50, suchten Polizeihauptmeister Seeland und Polizeioberkommissar Mayer aus Eisenach in ihrem VW den Stadtteil Stregda südlich der Autobahn ab, gut einen Kilometer von dem Baumarkt entfernt. Plötzlich entdeckten die beiden einen Campingbus der Marke Capron. Er parkte in Stregda in der Straße Am Schafrain, Richtung der Einmündung zur Querstraße An Der Leite. Kennzeichen V-MK-1121.

Zwei Stunden zuvor hatte sich ein weiterer Rentner genau an dieser Kurve geärgert. Der Mann, 77 Jahre alt, wollte vor seiner Wohnung in Stregda parken, doch ein großer, weißer Campingbus stand auf seinem Platz. Dort stellt er normalerweise seinen Renault ab. Er stieg aus, guckte sich das Fahrzeug, das Nummernschild ganz genau an. Vorneweg ein V wie Victor. Kurzerhand setzte er seinen Wagen genau vor den Camper. Hinter dem Wohnmobil klemmte bereits ein anderer Kleinwagen. Zügig könnte der Camper jetzt nicht mehr ausparken. In dem weißen Campingmobil rührte sich nichts. Der Rentner ging unbehelligt in seinen Wohnblock. Gegen 12 Uhr bemerkt er, dass direkt vor seiner Wohnung irgendetwas los ist. Er guckt vor die Tür. Der Camper brennt. Er stürmt hinaus, will seinen Renault retten. Zwei Polizisten in blauen Uniformen gucken in die Flammen, sie schicken ihn zurück ins Haus.

Als Michael Menzel über Funk von dem brennenden Wohnmobil hört, schickt er sofort zwei seiner Kripobeamten in Zivil los. Menzel macht sich kurz darauf ebenfalls auf den Weg von Gotha nach Eisenach, kommt gegen 12 Uhr 30 dort an. Der Camper ist bereits gelöscht. Die Streifenbeamten erzählen Menzel, sie hätten zwei oder drei »knallartige Geräusche« gehört, als sie sich dem Camper näherten, Sekunden später habe das Fahrzeug Feuer gefangen, dann sei das Dach in die Luft geflogen. Einer von Menzels Männern hat sich inzwischen in dem Camper umgesehen und zwei Männer entdeckt, die vermutlich tot sind. Schon vor Menzel war ein Fernsehteam am Tatort, hat Bilder gedreht und ein Interview mit einem lokalen Polizisten geführt. Nach und nach treffen Fotografen in dem Vorort ein und machen Fotos. Von den Polizisten, vom ausgebrannten Camper, der gegenüber von einem Wohnblock am Bürgersteig parkt. Die Fotos zeigen, wie immer wieder Polizisten in den Camper gehen, sich im Inneren umsehen. Drinnen wurde eine Fußmatte in den Eingang gelegt, »um Spuren zu schonen«, erklärt ein Beamter später. Menzel betritt ebenfalls das Wohnmobil. Gleich links neben der Eingangstür liegt ein Körper auf dem Boden. Er ist kaum zu erkennen. Man ahnt, dass ein Mann auf dem Bauch liegt, erkennt seine blau-weißen Joggingschuhe. Der Körper ist mit Ruß bedeckt, das Dach des Campers ist durchgebrannt, die Reste der Verkleidung sind auf den Boden und die Leiche gefallen. Der Kopf des Mannes ist von der Tür aus kaum zu erkennen, er liegt unter dem Schutt begraben. Blut schimmert auf dem Fußboden durch den Ruß hindurch. Wenn Menzel jetzt nach links schaut, sieht er im hinteren Teil des Busses einen zweiten Mann auf dem Boden sitzen, das Kinn auf der Brust. Auch dieser Körper ist mit Ruß, Dreck, verbrannter Deckenverkleidung überzogen, doch nicht in dem Maße wie die Leiche neben der Tür, man erkennt ihn wesentlich besser. Vor allem sieht man ein riesiges Loch in seiner Schädeldecke, das ganze Gehirn scheint zu fehlen. Der Mann hat keine Waffe in der Hand. Die rechte Hand ruht zwischen seinen Beinen, die linke auf seinem rechten Knie. Das linke Bein ist angewinkelt und zur Brust gezogen, als würde er lässig auf dem Boden sitzen.

Menzel behauptet später, dass sein Instinkt und seine Erfahrung ihm das Gefühl vermittelt haben, dass es bei dem Camper nicht nur um tote Bankräuber gehen könnte. Im Wohnmobil war ihm eine Pistole auf dem Tisch aufgefallen, er sah Munition, die aus dem geschmolzenen Magazin ausgetreten war, und will anhand des Typs - 9 mm Parabellum - erkannt haben, dass es sich eventuell um eine Polizeiwaffe handeln könnte.2 Die Kriminaltechniker müssten jetzt eigentlich den Camper samt Bürgersteig und Straße mit einer Plane überspannen, den Bereich absperren, alle Streifenbeamten und überflüssigen Beamten wegschicken. Doch genau das machen sie nicht - der Chef, Menzel, hat andere Pläne. In verschiedenen Aussagen hat er dafür variierende Erklärungen. Einmal sagt er, die Presse vor Ort habe ihn gestört, das Gebiet sei zu schwer abzusperren gewesen. Bei anderer Gelegenheit erklärt Menzel, er sei sich nicht sicher genug gewesen, um das »große Besteck« aufzufahren. Angeblich hatte er die Sorge, dass man ihm die Kosten für die teure Tatortarbeit - ein großes Zelt, die Lichtmasten und die Sperrung eines Wohnviertels für mehrere Tage - im Innenministerium übel nehmen könnte. Noch geht es ja, auf den ersten Blick, nur um zwei lebensmüde Bankräuber. Denn danach sieht die Situation im Camper für Menzel aus: zwei Gangster - in der Falle wachund in Panik - erschießen sich selbst. Mehr als sein Gefühl, dass es um mehr gehen könnte, hat er nicht. Laut eigener Aussage entscheidet sich der Bulldozer deshalb dafür, den Tatort zu verändern.

Erst wird der Wagen des Rentners abgeschleppt, dann bestellt Menzel um 13 Uhr 22 einen Sattelschlepper. Als der gegen 15 Uhr kommt und den Camper auf seine Ladefläche zieht, ist Menzel schon weg. Die Leichen sind noch immer in dem Fahrzeug, mögliche Beweismittel ebenfalls. Der silberfarbene Truck fährt das Wohnmobil, notdürftig abgedeckt durch blaue Plastikplanen, über fünf Kilometer durch die Stadt - nicht zu einer Polizeiwache, sondern zu einer privaten Abschleppfirma in Eisenachs Westen. Die Firma hat mehrere große Hallen auf ihrem Gelände, in einer wird der Camper neben einem großen Kran abgestellt. Von dort erreicht Menzel wenig später eine Nachricht. Die Ermittler haben die Seriennummer einer der Waffen aus dem Wohnmobil ins Polizeisystem eingegeben und einen Treffer gelandet: Die Waffe gehörte einer jungen Polizistin aus Thüringen, die im April 2007 in Heilbronn am helllichten Tag erschossen wurde.3 Zudem lag eine zweite Heckler & Koch-Pistole, fast unversehrt, in dem kleinen Bad des Campers auf dem Fußboden. Sie gehörte dem Partner der Thüringer Polizistin, dem unbekannte Täter im April 2007 ebenfalls in den Kopf geschossen hatten, der jedoch überlebte. Am späten Nachmittag ruft Michael Menzel in Baden-Württemberg an und teilt den völlig überraschten Kollegen mit, dass man zwei Bankräuber in einem Wohnmobil in einem Eisenacher Vorort tot aufgefunden habe, die mutmaßlich mit dem Mord an der jungen Polizistin Michele Kiesewetter zu tun haben. Das LKA Baden-Württemberg schickt sofort ein Team nach Thüringen.


Viele Ermittlungen erreichen schnell einen Punkt, an dem es nicht mehr weitergeht, die Arbeit zäh wird, man steckt fest. Nicht so in diesem Fall. Auch der Tag nach dem Überfall bringt eine Überraschung nach der anderen. Menzel hatte zunächst die Sonderkommission »Capron« gegründet, benannt nach der Marke des Wohnmobils. Er schärfte den Ermittlern ein, alle ermittelten Informationen vertraulich zu behandeln, selbst das Lagezentrum des Innenministeriums sollte im Dunkeln gelassen werden. Dass in der Nacht einer der Toten anhand seiner Fingerabdrücke vom BKA als Uwe Mundlos identifiziert worden ist, davon erfahren die Polizeiführungskräfte im Lagezentrum zunächst nichts. Menzel steht nur im Kontakt mit ausgewählten Spitzenbeamten im Innenministerium, unter anderen informiert er einen Abteilungsleiter dort über die neuesten Entwicklungen. Gegen Samstagmittag kann er den nächsten Durchbruch vermelden. Einer von Menzels Männern, der in Zwickau auf die Autovermietung angesetzt ist, bekommt mit, dass in der sächsischen Stadt am Freitagabend eine Wohnung explodiert ist - ein Zeuge hat in den Tagen zuvor einen weißen Camper in der Straße gesehen. Mit dem Buchstaben V im Kennzeichen. Menzel schickt seine Ermittler, die Zielfahndung und einen ganzen Trupp vom LKA Baden-Württemberg nach Zwickau. Das Obergeschoss der Frühlingsstraße 26, ein großer Bau aus den 1930er Jahren, ist ausgebrannt, Teile des Daches und der Außenmauer fehlen. Die Männer aus Gotha erfahren, dass in dem Haus, vor dem der Camper gesehen worden ist, tatsächlich eine junge Frau mit zwei Männern gelebt haben soll. Die junge Frau nannte sich Liese und ist kurz vor der Explosion des Hauses gesehen worden, wie sie die Straße hinunter vom Haus weglief. Menzels Männer kombinieren, dass es sich bei der Person um Beate Zschäpe handelt und schreiben sie zur Fahndung aus. Wieder wird der Zielfahnder Sven Wunderlich beauftragt, Beate Zschäpe zu finden, wieder wird er keinen Erfolg haben.

Zschäpe irrt in diesen Tagen scheinbar ziellos durch Deutschland, fährt mit der Bahn nach Leipzig, nach Bremen, ist in Magdeburg, Halle, Dresden, wird sogar kurz in Eisenach, in Stregda gesehen, wo ihre Freunde starben. Die Belege dafür sind hauptsächlich Bahntickets, die man bei ihr gefunden hat, aber es melden sich auch einige Zeugen, die Zschäpe gesehen haben. Sie wirkte verwirrt, auf eine Zeugin sogar lebensmüde. Am Morgen nach dem Überfall von Eisenach hatte sie noch gefasst die Eltern von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt angerufen und ihnen mitgeteilt, dass ihre Söhne tot sind.

Am Sonntag, zwei Tage nach der Explosion in dem Zwickauer Wohnhaus, gehen bei der Geschäftsstelle der Linken in Halle und an anderen Orten Umschläge ein. Darin ist jeweils eine DVD. Die DVDs sind bunt bedruckt, Paulchen Panther ist auf der Beschichtung zu erkennen, darunter der Titel »Frühling - Nationalsozialistischer Untergrund«. In dem Film thematisiert der NSU die neun Morde an Migranten, den Mord an Michele Kiesewetter und zwei Bombenanschläge in Köln. In den nächsten Tagen erhalten 14 weitere Institutionen die DVD, darunter der TV-Sender Phoenix, der Springer- Verlag, türkisch-deutsche Kulturvereine. Die meisten der Umschläge wurden am 6. November in Leipzig aufgegeben. Der Film wird zunächst nicht veröffentlicht.

Am Dienstag, 8. November 2011, betritt gegen 13 Uhr eine Frau, klein, etwas untersetzt, lange, dunkle, strähnige Haare, übermüdet, zerknittert, geschafft, hervortretende Augen, die Kriminaldirektion in Jena gemeinsam mit einem älteren Mann, einem Anwalt aus Jena. Die beiden gehen zum wach- habenden Polizisten. Der Anwalt legt ein Schreiben vor: »In einer Ermittlungssache gegen Beate Zschäpe zeige ich die Vertretung der Betroffenen an. Diese macht zunächst von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch.« Zschäpe wird durchsucht, fotografiert und in eine Zelle gebracht. Nachdem sie nur einen Tag lang offiziell gesucht wurde, hat sie nun in Jena, ihrer alten Heimat, aufgegeben. Am Abend wird sie der sächsischen Polizei übergeben, die sie zurück nach Zwickau bringt, da sie dort für den Wohnungsbrand zur Verantwortung gezogen werden soll.

Derselbe Tag, 15 Uhr 14
Köln, Bundesamt für Verfassungsschutz
Abteilung II - Rechtsextremismus

Der Leiter des Referats Beschaffung in der Abteilung für Rechtsextremismus, Lothar Lingen, setzt sich um 15 Uhr 14 an einen Computer im Bundesamt, zwei Stunden nachdem sich Zschäpe gestellt hat.4 Die ersten Medien berichten schon über die drei »Bombenleger« aus Jena, da Böhnhardts und Mundlos' Namen durchgesickert sind. Lingen ist Mitte 50, studierter Politologe, seit 20 Jahren beim Bundesamt angestellt, davon 16 Jahre im Bereich Beschaffung tätig, er rekrutiert und führt menschliche Quellen. Er hat in den frühen 1990er Jahren eine Abteilung aufgebaut, die sich ausschließlich mit rechtsextremistischen terroristischen Bestrebungen befasst hat. Fast seine ganze Karriere lang hat er den militanten Rechtsextremismus bekämpft. Sein Auftrag an diesem Tag: Er soll so schnell wie möglich herausfinden, ob Beate Zschäpe oder ihre beiden Freunde Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt Quellen des Bundesamtes waren oder als solche geworben werden sollten. Lingen recherchiert in der Datenbank, sucht nach Akten von V-Personen. Insgesamt 37 Fälle schaut er sich an. Am Abend desselben Tages oder am Morgen des 9. November gibt Lingen drei Mitarbeitern den Auftrag, sieben V-Mann-Fälle und die dazugehörigen Akten zu prüfen.5 Alle Vorgänge haben mit Thüringen zu, fünf davon laufen unter dem Namen »Operation Rennsteig«, bei der es um die Werbung von Spitzeln in der rechten Szene Thüringens ging.

Lingens angebliche Anweisung: In den Akten nur nach den Namen Mundlos, Zschäpe, Böhnhardt zu suchen. Einer der V-Mann-Fälle, die an diesem Tag in großer Eile überprüft werden, ist der Fall »Tarif« alias Michael See. Er hat mindestens acht Jahre als Quelle aus Thüringen, der Heimat des NSU, Informationen über militante Neonazis geliefert, seine Berichte füllen mehrere Aktenordner. Im Laufe des Tages will Lingen E-Mails und Anrufe der Mitarbeiter erhalten haben, die ihm mitteilen, dass sie die Akten bereits überflogen und die Namen der drei nicht gefunden hätten.

Am nächsten Tag spricht ein Mitarbeiter Lingens die Archivarin N. an, die zuständig ist für die V-Mann-Akten. Sie soll sechs der geprüften V-Mann- Fälle umgehend vernichten. Sie beschreibt den Dialog so:
Sie fragt: »Was soll hier vernichtet werden?«
Darauf Lingen: »Sechs Akten.«
»Sind das denn V-Mann-Akten, oder sind das Werbungsakten?«
»Es sind V-Mann-Akten.«
Darauf sagt die Archivarin: »Die werden doch nicht vernichtet. Wieso sollen die vernichtet werden?«
»Tun Sie das, was ich sage.«
Die Archivarin N.: »Das werde ich nicht tun, weil [sie sind] ja zu diesem Zeitpunkt kein zuständiger Referatsleiter von den V-Mann-Akten.«
Darauf wieder Lingen: »Ja, aber [ich bin] jetzt Vertreter.« - »Ja, sage ich, dann in Ordnung; dann [geben Sie] mir das aber bitte schriftlich.«Anschließend gibt ihr Lingen per Mail um 10 Uhr 25 am 10. November 2011 - schriftlich - die Anweisung zu Vernichtung von sechs V-Männer-Komplexen. Zehn Minuten später folgt eine weitere Mail von Lingen: »Auch die Bestandteile der VMAkte Tarif müssen vernichtet werden.« Schließlich sieht die Archivarin keine Möglichkeit mehr, sich weiter zu wehren. Sie stellt die Daten zusammen, die gelöscht werden sollen. Gemeinsam mit einem Mitarbeiter von Lingen fährt sie am 11. November, einem Freitag, in den Keller des Inlandsgeheimdienstes. Zwischen 10 Uhr und 11 Uhr werden dort die Akten, darunter die zum Fall Tarif und weitere Akten zur Operation Rennsteig vernichtet.

Bei N. ist der Kollege B. aus dem Referat von Lothar Lingen. Er fragt, was man da eigentlich mache. Schon am Tag zuvor hatte er Lingen gefragt, warum man die Akten vernichten müsse, hatte aber keine befriedigende Antwort bekommen. Um 14 Uhr fährt die Archivarin nach Hause. Anderthalb Stunden später ruft Lingen sie an. Ob sie die Akten schon vernichtet habe, unter anderem wolle der Präsident des Amtes, Heinz Fromm, doch noch mal hineinsehen. Zu spät, sagt N., »Scheiße« soll Lingen laut N. geantwortet haben. Wenig später schickt Lingen eine Mail an einen Kollegen mit der Bitte, die Akten nicht zu vernichten, als hätte er das Gespräch mit N. zuvor nie geführt, als hätte er sich nicht vergewissert, dass die Akten wirklich weg sind.

Am Samstag, nachdem die Akten bereits vernichtet worden sind, erfährt die Öffentlichkeit zum ersten Mal von der Existenz eines »Nationalsozialistischen Untergrunds«. Als die Archivarin N. »zwei oder drei Wochen« später sie erinnert sich nicht exakt, zufällig eine weitere Akte über den Fall Tarif findet, geht sie mit den Papieren sofort zu Lingen. Der blättert diese durch und sagt: Auch die müssten vernichtet werden. Ganz offenbar wollte Lingen Akten, die mit Tarif zu tun haben, keinesfalls erhalten, sondern im Gegenteil sie so schnell wie möglich vernichten.

In den nächsten sieben Monaten, bis in den Juni 2012 hinein, werden Hunderte von Akten im Bundesamt geschreddert. Darunter vor allem Telefonabhörprotokolle von sächsischen Skinheads, die nicht nur Beziehungen zu internationalen Neonazis gepflegt haben, sondern auch zu den zwei toten Männern im Campingbus, Böhnhardt und Mundlos. Zwei parlamentarische Untersuchungsausschüsse befassen sich zu diesem Zeitpunkt bereits mit den Vorfällen rund um Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe. Einer im Bundestag in Berlin, der andere ist vom Thüringer Landtag in Erfurt eingesetzt worden. Martina Renner von der Linkspartei ist eine der Abgeordneten im Erfurter Untersuchungsausschuss. Am 11. Juni 2012 fragt sie einen Zeugen, ob er jemals von der Operation Rennsteig gehört habe. Der Zeuge verneint. Der Untersuchungsausschuss fragt nun trotzdem bei verschiedenen Behörden die Akten über diese Operation an.

Im Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz beginnt zwei Wochen nach der Erwähnung der Operation Rennsteig eine Kettenreaktion. Die Aktenvernichtung wird gestoppt. Lothar Lingen gesteht die Vernichtung der Akten im November ein, nachdem er noch Anfang Juni gegenüber seinen Chefs behauptet hat, die Akten seien schon im Januar 2011 vernichtet worden. Der Präsident des Bundesamtes, Heinz Fromm, will erst zu diesem Zeitpunkt von der Vernichtung im November 2011 erfahren haben und tritt kurz darauf nach zwölf Jahren im Amt zurück. Insgesamt geben fünf Chefs verschiedener Verfassungsschutzbehörden ihren Job in diesen Wochen auf. Immer geht es um vernichtete Akten, die im Bezug zum NSU standen. Lothar Lingen hat bislang nicht erklärt, warum er die Akten hat vernichten lassen. Er verweigert die Aussage.

Im Bundesamt wurden nicht nur Akten der eigenen V-Männer auf Anweisung von Lothar Lingen vernichtet. Sorgsam suchte man auch nach dem November 2011 über Monate nach weiteren Akten, um sie zu vernichten, darunter vor allem auch Dokumente mit Bezügen zu drei Männern: Thomas Starke, Jan Werner, Carsten Szczepanski. Starke war V-Mann des Berliner LKA, Szczepanski Spitzel des Landesamtes für Verfassungsschutz Brandenburg, Werner stand unter dem Verdacht, dem NSU Waffen besorgt zu haben. Und Starke war lange eng mit Uwe Mundlos und Beate Zschäpe befreundet. Die letzte Akte vernichtete man offiziell am 4. Juli 2012. Bis dahin hat man allein im Bundesamt 310 Akten geschreddert, mithin Tausende von Dokumenten zerstört.7 Im Bundesamt wurde also koordiniert, gezielt und gründlich aufgeräumt. Aber nicht nur dort: Es verschwanden auch Dokumente in den Landesämtern von Niedersachsen, Berlin, Sachsen, Thüringen. Bei den meisten ging es ebenfalls um V-Männer, die in der rechtsextremistischen Szene eingesetzt waren. In einem anderen großen Teil der Akten ging es um eine Musikgruppe, die zu der militantesten in der deutschen Neonazi-Szene gehörte, Landser. Abhörprotokolle aus diesem Ermittlungskomplex wurden in Massen geschreddert. Zwei Hauptfiguren in diesem Verfahren waren eben jene zwei Neonazis aus Sachsen, die Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt über Jahre unterstützt hatten: Thomas Starke und Jan Werner. Allein Werner wurde jahrelang von verschiedenen Polizeibehörden und Geheimdiensten abgehört. Er stand bei einigen Kripoermittlern in dem Verdacht, für einen Geheimdienst berichtet zu haben, da er trotz der vielen Verfahren, die gegen ihn liefen, unangreifbar schien.

Im Untersuchungsausschuss des Bundestages wird Heinz Fromm wenige Tage nach seinem Rücktritt gefragt, ob das Vertrauen in den Inlandsgeheimdienst wieder hergestellt werden könne. Fromm antwortet: »Das wird sehr schwer, wenn man das realistisch betrachtet. Wir haben ja auch Lasten aus der Vergangenheit, und wir können die nur schwer kompensieren. Anders als für andere Behörden ist es schwer, Erfolge öffentlich zu demonstrieren. . es ist [also] schwer, das [Vertrauen] wiederherzustellen, wenn es überhaupt geht.«

Quelle: Stefan Aust/Dirk Laabs: Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU. München, Berlin 2014. 864 Seiten, 22,99 Euro. Mehr.

Der Auszug stammt von den Seiten 9 bis 19. Auf die Angabe der Fußnoten wurde hier aus Gründen der Darstellungsform verzichtet.