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Essgewohnheiten eines Landes und seine Kultur

Die Küche macht den Unterschied

Spiegelt sich in den Essgewohnheiten einer Gesellschaft ihre Kultur? Was sagt das über die Deutschen aus, die dafür bekannt sind, möglichst rational zu speisen? Und warum haben andere Länder eine so großartige Küche? Gedanken zu einem ganz besonderen Verhältnis.

Jürgen Dollase30.07.2015

Wir alle kennen diese Bilder. Das Essen mit Freunden auf schattigen Terrassen in südlichen Gefilden, der kleine Hafen mit dem sagenhaften Bistro und dem sagenhaft frischen Fisch, der Bummel über üppige Märkte und durch pittoreske Altstädte, und immer scheint alles irgendwie mit dem Essen zu tun zu haben. Dann geht es wieder nach Hause – und wie in ein anderes Leben. Statt auf üppigen Märkten wird wieder beim Discounter gekauft, statt frischem Fisch gibt es Tiefkühlpizza mit ein paar grauslichen Garnelen, und die Risse in den alten Häusern in dem kleinen Dorf im Luberon würden am eigenen Haus sofort hektische bautechnische Aktivitäten in Gang setzen.

Dem Genuss keine Chance

Können wir nicht oder wollen wir nicht? Gibt es da vielleicht kulturelle Unterschiede, die verhindern, dass wir je zu einem Volk der entspannten Genießer werden? Sind wir nicht bestenfalls „Freizeit-Genießer“, die sich ab und zu einmal kulinarisch etwas gehen lassen, ansonsten aber Wichtigeres zu tun haben?

Es gibt einen einfachen, aber schon sehr aufschlussreichen Vergleich zu Italien und Frankreich. In Frankreich etwa besteht ein Essen grundsätzlich aus mindestens drei Gängen – also Vorspeise, Hauptgericht, Dessert. Selbst in Einkaufszentren gibt es ein Menü-Angebot, das normalerweise noch durch Brot und natürlich Wein erweitert wird. In Italien besteht das klassische Menü sogar oft noch aus einem weiteren Gang und der Folge Antipasti, Primi Piatti, Secondi Piatti, Dolci. In beiden Fällen wird gern noch Käse zwischen Hauptgericht und Dessert angeboten. Es versteht sich von selbst, dass ein solches Essen einen mehr oder weniger umfangreichen Zeitrahmen braucht. In Deutschland erlebt man meist ein völlig anderes Bild. Viele Gäste bestellen im Gasthaus nur ein Hauptgericht, das am besten sehr zügig serviert werden sollte und unbedingt umfangreich sein muss. Diese Riesenportion isst man sodann komplett auf und kommt dann natürlich für den Rest des Restaurantbesuchs auch ohne weitere Gänge aus. Ein Menü mit einer Folge von Gängen hingegen entwickelt eine gewisse Dramaturgie, man fängt mit Kleinigkeiten an, kommt zum Höhepunkt und lässt das Essen mit Süßem ausklingen. Da erinnert die deutsche Fassung doch ein wenig – pardon – an eine Art kulinarische Missionarsstellung.

Wenn man die Unterschiede etwas detaillierter betrachtet, fällt auf, dass die italienische Küche in der Form, in der sie sich höchst erfolgreich über die Welt verbreitet hat, bestenfalls eine Mittelklassen-Küche ist. Die Produkte sind einfach und nicht kostspielig, und das oft selbst bis in die Spitzenküche hinein. Die Kürbistortellini der Region um Mantua gibt es – natürlich in Bestform und adäquat teuer - auch im Drei Sterne-Restaurant von Nadia Santini, und bei ihren Kollegen Massimo Bottura oder Niko Romito geht es bei aller Perfektion manchmal extrem minimalistisch zu, auch dort mit einfachsten Produkten. Das Kulinarische ist wichtigster Teil einer oft mit Inbrunst und von allen Gesellschaftsschichten ähnlich ausgelebten Alltagskultur, und hat unbedingt eine identitätsstiftende Funktion.

Im ebenfalls sehr kulinarisch orientierten Frankreich dagegen sind vor allem nach wie vor die Ableitungen des höfischen Essens wirksam. Während man in Italien den Eindruck haben kann, dass die Liebe zur Geselligkeit und die gastronomischen Vorlieben einen engen Zusammenhang haben, zeigt Frankreich ein gewisses Faible für Zeremonielles, das aber auffällig mit dem klaren Bewusstsein größerer Bevölkerungskreise für kulinarisch Hochwertiges korrespondiert. Wenn es Feste zu feiern gibt, zieht es die Franzosen gern in das beste Restaurant der Gegend, und selbst Drei Sterne-Restaurants wie die „Auberge de l’Ill“ in Illhäusern im Elsaß sind darauf eingestellt, spezielle Menüs für Hochzeiten, Taufen oder Sonstiges anzubieten. Dass ein großer Steinbutt, eine Bresse-Poularde, Foie gras oder Trüffel das sind, was man zu Festen braucht, ist immer noch weit verbreitetes Kulturgut. Selbst die Prospekte französischer Supermärkte wimmeln von hochwertigen Angeboten. Vor allem aber wird die Esskultur in Frankreich als genuiner Bestandteil der Kultur angesehen. Man stellt sie zwar nicht neben Literatur, Kunst oder Musik und kommentiert Kulinarisches auch nur eher selten in den Feuilletons der Zeitungen, was aber nicht darüber hinwegtäuschen kann, für wie wichtig man ein gutes kulinarisches Wissen und entsprechendes Verhalten hält. Deutschen Unternehmern zum Beispiel wird immer wieder empfohlen, bei geschäftlichen Kontakten mit Franzosen dringend darauf vorbereitet zu sein, dass man souverän mit Speisekarten in Spitzenrestaurants umgehen kann oder auch – nach einem kleinen Wink der Gastgeber – die Weinbestellung erledigen kann. Wohlgemerkt: unter Umständen für eine Runde, denen so gut wie jedes Bordeaux-Chateau der Spitzenklasse einschließlich der Jahrgangsqualitäten bekannt ist. Kann man das nicht, gilt man schnell als unkultiviert. Kulinarische Kenntnisse gehören bei unseren beliebten Nachbarn also zu den Merkmalen, die den Status und die kulturelle Bildung einer Person definieren.

ungeklärtes Verhältnis zu den eigenen Traditionen

Bei uns sieht es immer noch deutlich anders aus – auch wenn es noch so viele Magazine über „Lebensart“ gibt. Die Zahl der Deutschen, die reibungslos auch als kulinarisch gebildete Franzosen durchgehen würden, hält sich vermutlich sehr in Grenzen. Im Zweifel wirkt Vieles auch erlernt, aber nicht gerade mit der Muttermilch aufgesogen. Deutschland bietet nach wie vor ein diffuses Bild ohne eine zusammenhängende, allseits akzeptierte Orientierung an klaren kulinarischen Qualitäten. Wenn hier ein Discounter ein absolut mittelmäßiges Produkt zur „Spitzenqualität“ befördert, erregt das nicht nur keinen Widerstand, sondern wird unter Umständen sogar geglaubt. Auffallend ist vor allem ein ungeklärtes Verhältnis zu den eigenen Traditionen, ein Problem, das ganz entscheidend auf den Missbrauch nationaler Traditionen durch die Nationalsozialisten zurückzuführen ist. Dazu kommt die Fixierung auf „bleibende“ Werte wie Immobilien und Autos, die es mit sich bringt, dass beim Essen gespart wird und viele Leute, die sich Gutes ohne weiteres leisten könnten, den Weg zum Discounter wählen. Auch dieses Haushälterische hat seine Ursachen zum Teil in der Geschichte unseres Landes. Der Stellenwert des Essens scheint gering zu sein – zumindest im Vergleich zu anderen Aspekten. Man arbeitet, um sich etwas leisten zu können, und versteht darunter vor allem die eher vorzeigbaren und den Status definierenden Werte. Dass Immaterielles wie ein kulinarischer Genuss – ganz nach Goethe – das Einzige ist, was wirklich bleibt, wird eher nicht so gesehen.

Die traditionelle deutsche Küche ist außerdem – was gerne übersehen wird - eher kompliziert, dabei aber nicht unbedingt von der Finesse geleitet, die viele französische Traditionen ausmacht. Supergerichte mit Spitzenprodukten und wenig kochtechnischem Aufwand sind ebenso wenig im Programm wie eine allseits überzeugende Simplizität nach italienischem Vorbild. Dazu kommt, dass einfacheres Essen von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen unterschiedlich eingeordnet wird. Es gibt bei uns Linke, die Traditionelles für rechts und solche, die unprätentiöses Essen „ohne Chi-Chi“ für links halten. Es gibt einerseits eine Art neuer Bürgerlichkeit, die versucht, Traditionelles zu revitalisieren und zu optimieren, und andererseits eine der stabilsten Ansammlungen von Spitzenköchen weltweit. Aber es will alles nicht so recht zusammenpassen. Gibt es da vielleicht noch weitere Zusammenhänge zwischen allgemeiner Kultur und Esskultur, die typisch für solche großen nationalen Unterschiede sind?

Zusammenhänge von Kultur und Esskultur

Die möglichen Antworten mögen spekulativ sein, haben aber etwas Einleuchtendes, das sehr viele Leute mit sehr vielen eigenen Erfahrungen verknüpfen können. Arbeiten die Italiener vielleicht, um zu Leben und leben nicht, um zu arbeiten? Gibt es also eine Verschiebung der Prioritäten, die auch Auswirkungen auf die Arbeitsmoral hat? Eine Verschiebung, die über ein geringeres Interesse an allseits sinnvollen öffentlichen Strukturen für – verglichen zur Bundesrepublik – chaotische politische Verhältnisse sorgt? Und kommt dies vielleicht aus der Liebe zu Geselligkeit im öffentlichen wie privaten Raum? Dann hätte vielleicht – um es einmal ganz plakativ zu sagen – der vergleichsweise gigantische Erfolg der deutschen Wirtschaft etwas damit zu tun, dass man nicht ständig daran denkt, wen man wo trifft und wie das Essen in diesem neuen, kleinen Restaurant um die Ecke schmeckt; dass man mit Zahlen im Kopf ins Bett geht, aber nicht unbedingt der Frage, ob man seine Weineinkäufe nicht vielleicht doch „en primeur“ machen sollte. Dass Frankreich das beliebteste Touristenziel der Welt ist und zu Kopien des „französischen Lebensgefühls“ überall auf der Welt führt, ist einerseits natürlich untrennbar mit dem Essverhalten verknüpft. Andererseits passen im Lande aber auch auffällig viele Dinge damit zusammen. Die Verschiebung der Prioritäten sorgt dann zum Beispiel dafür, dass man Architekturen altern lässt und auf diese Weise wunderschön traditionelle Orts- und Landschaftsbilder erzeugt, statt bei der kleinsten Macke sofort in einen Renovierungswahn zu verfallen und den nächsten Baumarkt anzusteuern. Es greift – ganz sicher vom Kulinarischen zusammengehalten – vieles ineinander und erzeugt ein für viele Leute sehr attraktives Bild. Können wir so etwas nicht?

Gastronomischer Umbau der Gesellschaft

Deutschland scheint in einer Zwischenphase zu sein. Die Deutschen essen sehr gerne; und viele Erfahrungen zeigen, dass sie – wenn sie denn einmal in Kontakt mit guten kulinarischen Qualitäten in allen Bereichen kommen – ein sehr gutes Publikum sind. Weil das System aber in kulinarischen Fragen noch nicht wirklich offen ist, wird sich die Entwicklung noch hinziehen. Andererseits ändert sich im Moment schon eine Menge. Jüngere Arbeitnehmer von Qualität suchen eine andere „Work-Life-Balance“, und man ringt um Nachhaltigkeit und eine gute ökologische Balance. Es ist gar nicht ausgeschlossen, dass auch im Deutschen ein Gourmet schlummert. Aber es bleibt die Frage, ob dieser ausgerechnet über das bei uns oft unsinnlich-vernunftbetonte ökologische Bewusstsein geweckt werden kann. Wird er wirklich erkennen, welche gigantische Bedeutung ein offenes, qualitätsorientiertes, lustbetontes Verhältnis zum kulinarischen Genuss für alle Teile der Gesellschaft haben kann? Müssen wir immer nur im Urlaub zu den Hedonisten fahren und kurzzeitig zu Hedonisten werden, oder können wir so etwas nicht auch selber realisieren?

Ich habe schon vor Jahren einmal als Denkmodell einen „gastronomischen Umbau der Gesellschaft“ angeregt, den ich für wirkungsvoller für das Zusammenleben halte als den kulinarisch oft zu technologisch definierten ökologischen. So oder so: Eine gesteigerte kulinarische Sensibilität bedeutet immer auch eine gesteigerte zivilisatorische Sensibilität. Ein gutes Restaurant, hat sinngemäß der französische Spitzenkoch Guy Savoy einmal gesagt, ist der letzte Ort auf der Welt, in dem wir uns wirklich zivilisiert benehmen. So etwas wird in Zukunft gewaltig an Bedeutung gewinnen.

Jürgen Dollase
Jürgen Dollase ist Restaurantkritiker und schreibt vorwiegend für die FAZ und FAS sowie auch für „Feinschmecker“ und „Port Culinaire“. Zu seinen Büchern gehören u.a. „Himmel und Erde. In der Küche eines Restaurantkritikers“, (AT Verlag 2014) und "Pur, präzise, sinnlich: Ganzheitlicher Genuss - die Zukunft des Essens",  (AT-Verlag, 2017). www.juergen-dollase.de