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Die Spitze des Kilimandscharo
Zur Restitutionsfrage darf man unterschiedlicher Auffassung sein. Aber was treibt Museen dazu, sich selbst abzuschaffen?
Der Begriff der kulturellen Aneignung hat in den letzten Jahren einen bemerkenswerten Bedeutungswandel erfahren. Ursprünglich wurde er in der Soziologie und Ethnologie dazu verwendet, den kreativen Umgang mit kulturellen Fremdeinflüssen und deren Einbettung in die eigene Kultur zu bezeichnen. Heute versteht man unter dem Begriff dagegen die unrechtmäßige Übernahme der Hervorbringungen marginalisierter Bevölkerungsgruppen durch die dominierende Mehrheitsgesellschaft. Ein oft angeführtes Beispiel sind die Dreadlocks jamaikanischer Rastafaris. Sie sind zu Identitätsmarkern schwarzer Menschen geworden. Tragen sie andere, wird dies als Beraubung empfunden.
Weules ertragreiche Sammelreise
Es sind aber nicht immer nur ethnische Grenzen, die bei solchen Aneignungen überschritten werden. Es können auch die Grenzen zwischen den Generationen sein.
So zählten etwa radikale Protestformen schon immer zu den Privilegien der Jugendkultur. Man muss da gar nicht erst an die Hippie- und die Studentenbewegung erinnern. Wie wirksam sie sein können, hat 2018 die damals gerade den Kinderjahren entwachsene Greta Thunberg mit ihren Streikaufrufen und öffentlichen Anklagen gezeigt. Zurzeit sind es die Anhänger der Woke-Bewegung, die mit ihren spektakulären Aktionen großes Aufsehen erregen. In England haben sie sich die Abrechnung mit der kolonialen Vergangenheit des Landes zum Ziel gesetzt. Ihr Zorn richtet sich dabei vor allem auf die Denkmäler der von den Briten einst gefeierten Kolonialheroen. Sie werden besprüht und mit Graffiti bemalt, mit Presslufthämmern traktiert oder gleich ins Meer gestürzt. Was aber geschieht, wenn mächtige Kulturinstitutionen sich die subversiven Protestformen der Jugendlichen in ähnlicher Weise zu eigen machen, wie diese es freilich schon vor geraumer Zeit mit den Dreadlocks der Jamaikaner taten?
Bei der Neueröffnung des Leipziger Grassi-Völkerkundemuseums konnte man einen solchen Vorgang beobachten. Noch während dessen vor zwei Jahren neu berufene Direktorin ihre Eröffnungsansprache hielt, hörte der ausgewählte Kreis der Gäste im Hintergrund ein lautes Lärmen. Verursacht wurde es von zwei als Bauarbeitern verkleideten Personen, die sich daranmachten, mit Hammer und Meißel die Ehrenstele des vormaligen Museumsdirektors Karl Weule in ihre Einzelteile zu zerlegen. Mit seinem Namen und seinen Lebensdaten versehen, hatte sie als Sockel der Bronzebüste gedient, die dem Museum 1929 vom Leipziger Verein für Völkerkunde geschenkt worden war. Weule war schon Nanette Snoep, der Vorgängerin der jetzigen Museumsdirektorin, eine Persona non grata, hatte er sein Amt doch in der Hochzeit des Bismarckschen Kolonialreichs übernommen, dessen Infrastrukturen er geschickt dazu nutzte, die Museumsbestände von 30.000 auf fast 200.000 Exponate zu erhöhen. Besonders „ertragreich“ hatte sich dabei die Sammelreise erwiesen, die er 1908 nach der blutigen Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstands quer durch „Deutsch-Ostafrika“ unternahm. Auch wenn er über die für seine Ankäufe aufgewendeten Beträge sorgfältig Buch führte, handelte es sich dabei doch um „Raubkunst“ im Sinne heutiger Terminologie: die Aneignung des Kulturerbes der Kolonisierten unter Ausnutzung bestehender Machtgefälle. Nanette Snoep entschied sich damals dafür, die im Eingangsvestibül zentral platzierte Bronzebüste Weules von ihrem Sockel zu nehmen und in einer Vitrine zusammen mit Zitaten aus seinen Schriften auszustellen, in denen das damals noch nicht tabuisierte „N-Wort“ vorkam.
Der Stein des Anstoßes
Das Problem der von ihrer Nachfolgerin organisierten Performance, für die sie ein weitgehend unbekanntes Künstlerkollektiv engagiert hatte, bestand darin, dass sie im Prinzip auch nichts anderes war als eine Form der Enteignung. Müssten die jungen politischen Aktivisten nicht eigentlich empört darüber sein, dass sich hier eine staatliche Kulturinstitution der provokativen Mittel bediente, die sie hervorgebracht hatten, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen? Dieser Eindruck wurde durch eine weitere Inszenierung noch verstärkt, in deren Mittelpunkt die Spitze des Kilimandscharo stand, die sich der zu seiner Zeit höchst populäre Geograf und Forschungsreisende Hans Meyer 1889 bei seiner Erstbesteigung des höchsten Berges des wilhelminischen Kolonialimperiums abgesägt hatte. Während er die eine Hälfte Kaiser Wilhelm geschenkt haben soll, tauchte die andere Hälfte, die er selbst als Briefbeschwerer verwendete, zufällig bei einem Antiquitätenhändler auf. Die Forderung, das koloniale „Beutestück“ durch den Verkauf der Bruchstücke der zertrümmerten Stele gegen ein Spendenentgelt zu erwerben, um es sodann unverzüglich an die tansanische Regierung zurückzugeben, hätte auch ein verspäteter Karnevalswitz sein können. Dass dies alles mit Billigung der bei der Eröffnung ebenfalls als Festrednerin auftretenden Generaldirektorin der Sächsischen Kultursammlungen Dresden geschah, machte die Sache nur noch schlimmer.
Die Groteske ist kein Einzelfall
Man mag über die Restitutionsdebatte geteilter Meinung sein, und der Paternalismus, mit dem manche politische Aktivisten sich heute zu selbst ernannten Sprechern ganzer afrikanischer Völker machen, ist wiederholt kritisiert worden. Man darf ihnen aber den guten Willen und einen moralischen Impetus nicht absprechen. Haben die Veranstalter etwa gar nicht gemerkt, wie lächerlich sie damit die zum Teil durchaus berechtigten Rückgabeforderungen machten? Wichtiger war ihnen offensichtlich die Aufmerksamkeit, die sie durch die fragwürdige Aktion auf ihr Museum lenken wollten. Das haben auch die Mitglieder des Präsidiums der deutschen Sektion des internationalen Museumsverbandes ICOM in einer kritischen Stellungnahme angemerkt, die bereits wenige Tage später erschien. In ihr fragen sie überdies, ob mit der Aktion nicht gegen die ethischen Richtlinien verstoßen worden ist, die die Museen sich selbst gegeben haben. Denn schließlich sei die Bewahrung der ihnen anvertrauten Gegenstände ihre wichtigste Aufgabe, nicht aber deren Zerstörung. Tatsächlich aber ist die Künstlergruppe sogar noch einen Schritt weiter gegangen, indem sie die Besucher dazu aufforderte, mit den von ihnen erworbenen Bruchstücken der Weule-Stele die Vitrinen ethnologischer Museen einzuwerfen.
Anders als vom deutschen ICOM-Präsidium angemerkt, scheint es dabei gar nicht darum zu gehen, die Aufmerksamkeit auf die Institution, sondern vielmehr auf die Personen zu lenken, die für sie eigentlich verantwortlich sein sollten. Leider ist die Groteske kein Einzelfall. So konnte man zum Beispiel vor einigen Monaten in der Presse davon lesen, dass der Leiter der Lübecker Völkerkundlichen Sammlung nach den Nachkommen der Personen suchte, die vor weit über 100 Jahren einige ihrer wertvollsten afrikanischen Ethnographica hergestellt haben, die heute einen Verkaufswert von mehreren Millionen Euro repräsentieren. Man habe sich nämlich dazu entschieden, all dieses Raubgut an seine rechtmäßigen Besitzer zu restituieren. Bisher hat sich offensichtlich noch keiner gefunden. Aber das öffentliche Presseecho war dem Leiter dafür gewiss. Wie lange, so muss man sich fragen, wird man noch dabei zusehen müssen, wie sich auf die Bewahrung des universalen Kulturerbes der Menschheit verpflichtete und aus Steuermitteln geförderte öffentliche Institutionen auf diese Weise selbst zerstören?
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