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Ein Gespräch mit John Dickie über die besondere Beziehung der Italiener zu ihrem berühmten Essen

»Ein Ort, an dem man so hervorragend isst«

Spiegelt sich in den Essgewohnheiten einer Gesellschaft ihre Kultur? Was sagt das über die Deutschen aus, die dafür bekannt sind, möglichst rational zu speisen? Und warum haben andere Länder eine so großartige Küche? Gedanken zu einem ganz besonderen Verhältnis.

01.08.2015

In seinem Buch „Delizia!“ schilderte der britische Autor John Dickie die faszinierende Geschichte der italienischen Küche. Ein Gespräch über die Bedeutung der Städte und Märkte, die Vielfalt der Regionen und ein kleines, aber wichtiges Schlüsselwort.

Mr. Dickie, eine Hauptthese Ihres Buches „Delizia!“ ist, dass die Gerichte der italienischen Küche ein Spiegelbild der Geschichte des Landes sind. Wie meinen Sie das?
Dafür gibt es viele Gründe. Es ist ja generell so, dass man die Geschichte eines Landes immer auch mit seinen Speisen erzählen kann. Denn das Essen ist eine grundlegende Säule des sozialen Lebens in jeder Gesellschaft. Und das nicht nur, weil es die Menschen am Leben erhält.

In Italien ist die Beziehung zwischen der Geschichte des Essens und der allgemeinen Historie des Landes besonders eng. Die italienische Gesellschaft ist maßgeblich von einem Netzwerk von rund 100 Städten geprägt, die eine unglaublich lange und reichhaltige Geschichte haben, mit der sich die Bürger bis heute identifizieren. Die Menschen sehen sich vielmehr als Bürger einer Stadt und weniger als Kinder einer Region. Und da zum Beispiel die Geschichte Mailands ganz anders verlief als die Geschichte Neapels oder Palermos, spiegelt sich dies auch auf den Tischen wider.

Und wie drückt sich dies aus?
Die Symptome sind im Grunde unübersehbar. Sehr viele italienische Gerichte sind nach dem Namen einer Stadt benannt: Bistecca alla Fiorentina, Parmigiano, Prosciutto di Parma, Saltimbocca alla Romana, Pizza Neapolitana usw. Oder auch Olive all’Ascolana oder Ragù alla Bolognese. Ich könnte die Liste unendlich fortsetzen.

Für diese Zuordnung gibt es einen Grund. Es liegt nicht daran, dass zum Beispiel die Schweine für den Parmaschinken aus Parma kommen. Vielmehr wurde in Parma die Verarbeitung organisiert und der Schinken hergestellt. Damit verbindet sich seit Jahrhunderten eine Marke, die für die Menschen aus anderen Städten einen Wiedererkennungswert in Bezug auf die Qualität des Schinkens hat.
Aber es gibt noch weitere Gründe, warum die Gerichte zu Symbolen der Städte wurden. Die Kräfte, die für das gute italienische Essen verantwortlich zeichnen, sind die gleichen Kräfte, die seit dem Mittelalter auch das Gedeihen der Städte vorantreiben: der auf dem Marktplatz gebildete Wohlstand; die Machtkonzentration innerhalb der Stadtmauern; der Wettbewerb der Städte untereinander; der Wunsch der Bürger, den sozialen Status kenntlich zu machen, kultivierter zu sein als die Menschen, die in der sozialen Rangordnung unter ihnen standen, aber auch, gediegener als diejenigen zu erscheinen, die über ihnen standen.
Die Städte sind der Ort, wo sich die Einflüsse und Zutaten aus der ländlichen Umgebung konzentrieren. Die Städte sind der Ort, wo die großen Köche ihrem Handwerk nachgehen. Die Städte sind auch der Ort, wo die Bücher über Nahrung geschrieben und veröffentlicht werden. Und nicht zuletzt sind die Städte der Ort, wo die Mittelklasse zuhause ist. Aus ihr stammen die Menschen, die die italienische Küche – vor allem seit dem 19. Jahrhundert – zu dem gemacht haben, was sie heute ist.
Deshalb habe ich gleich zu Beginn meines Buches gegen die weitverbreitete Vorstellung polemisiert, dass die italienische Küche eine bäuerliche Küche sei.

Und doch zeichnen moderne Werbekampagnen beim Thema Essen immer noch das Bild eines glücklichen Landlebens. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Der älteste Mythos der menschlichen Zivilisation ist der einer unberührten ländlichen Gegend, die angefüllt ist mit natürlich gewachsenen Nahrungsmitteln. Doch wenn in Italien Stadtbewohner aufs Land pilgern, um dort den traditionellen Ort ihrer Speisen zu suchen, dann bewegen sie sich tatsächlich von diesem Ort weg. Das italienische Essen hat seine Heimat nicht im Bauernhaus, sondern auf dem Marktplatz in der Stadt. Die wahren Abenteuer der italienischen Küche erlebt man nicht, wenn man durch die Hügel der Toskana zieht, sondern wenn man durch die Gassen und Straßen der Städte streift; wenn man probiert, was dort gekocht wird, und die damit verbundenen Geschichten aufsaugt.


Und was ist dagegen die bäuerliche Küche?
Natürlich hat auch die bäuerliche Küche ihre Reize, und aufgrund der Vielfalt der italienischen Landschaften und deren unterschiedlicher Bewirtschaftung ist sie durchaus abwechslungsreich. Verallgemeinert könnte man sagen, dass sich die Bauern überwiegend vegetarisch ernährt haben. Bohnen und Kastanien stellten ihre Hauptquelle für Proteine dar, und natürlich die günstigsten Getreidearten, aus denen man Suppen oder Brot herstellen konnte. Allerdings in sehr schlechter Qualität. Nach der Einführung von Mais im 19. Jahrhundert kam dann die Polenta auf, ein Brei aus Maismehl, die jedoch schnell zum weitverbreiteten Problem der Pellagra führte, einer Form von Mangelernährung durch fehlende Vitamine. Im Grunde lebten die Bauern von der Hand in den Mund. Wenn wir uns heute das bäuerliche Essen schmecken lassen können, dann deshalb, weil wir Polenta oder auch eine bäuerliche Suppe nicht jeden Tag essen müssen. Eine italienische Küche, die nur auf bäuerlichen Gerichten basierte, wäre ziemlich ärmlich und nicht sonderlich geschmackvoll.

In Ihrem Buch gehen Sie auch auf das Sprichwort „Die italienische Küche gibt es nicht“ ein. Was ist damit gemeint?
Richtig ist, dass es die eine italienische Küche nicht gibt. Die kulinarische Vielfalt in dem Land ist gigantisch groß. Das sieht man allein schon an den unzähligen verschiedensten Pasta-Gerichten, die überall in Italien gegessen werden. Andererseits wird aber überall im Land Pasta gegessen. So ist Pasta gleichermaßen ein Symbol der italienischen Küche im Ganzen als auch der einzelnen Landesteile. Zu den Gemeinsamkeiten gehört auch die Reihenfolge des Essens – also antipasto, primo, secondo, dolce. Zudem gibt es
Gerichte, die ursprünglich aus einer bestimmten Region stammen, und später zu absoluten Nationalgerichten avanciert sind. Alles zusammen ergibt ein kompliziertes Mosaik, dass wir durchaus die italienische Küche nennen können.

Ein Schlüsselwort in der italienischen Küche ist tipico. Wofür steht es?
Die tipici sind wirklich ein zentraler Begriff. Das Wort meint, dass ein Essen für einen bestimmten Ort typisch ist, dass es einen Ort zum Ausdruck bringt und mit diesem auch verbunden ist. So ist zum Beispiel Prosciutto di Parma der typische Schinken aus Parma oder Pesto genovese die typische Pasta-Soße aus Genua. Das Wort tipico meint aber noch mehr als nur aus einem bestimmten Ort zu kommen. Es steht für Authentizität, für die Herkunft aus einem guten Ort, dessen Leute ihr Handwerk verstehen, für Qualität und letztlich auch für Wohlbefinden. Und es ist ein Ausdruck lokaler Identität.

Auf die die Bürger einer Stadt auch stolz sind?
Absolut. Und nicht nur das. Schon seit langer Zeit suchen Italiener, wenn sie in andere Städte des Landes reisen, bewusst die typischen Gerichte dieser Städte und probieren sie.

Viele der typischen italienischen Lebensmittel haben das Image, aus dem Mittelalter überliefert zu sein. Warum ist das so wichtig?
Das Mittelalter und auch die Renaissance waren in Italien eine Periode enormen Wachstums, in den Städten blühte der Handel. Die eingangs geschilderte Identität des Landes durch ein Netz von Städten wurde damals wesentlich geprägt. Die Dynamik des Handels erfasste auch die Nahrung. Parma ist dafür ein gutes Beispiel. Ungefähr zu der Zeit, wo die Stadt überregional bedeutend wird, entwickelt sich auch der Parmesan-Käse als ein typisches Produkt für den Ort. So prägt seit dem Mittelalter der Ort den Namen des Produktes und das Produkt die Identität des Ortes. Und deshalb gilt diese Zeit auch als Ausgangspunkt der besonderen Beziehung von Stadt und Produkt und der damit verbundenen Qualität.

Wann und wie fügten sich die verschiedenen Komponenten der regionalen italienischen Speisen zusammen?
Grundsätzlich müssen Sie bezüglich der Idee einer „regionalen“ Küche sehr vorsichtig sein. Zum einen, weil – wie bereits gesagt – die Identität vor allem durch die Städte geprägt wird. Zum anderen verstehen die Leute unter regionalen Speisen höchst unterschiedliche Dinge. Es gibt einige Regionen, die in ihrer Küche sehr einheitlich sind, wie beispielsweise Sizilien. Bezüglich anderer Regionen hingegen bin ich nicht wirklich sicher, ob man von einer einheitlichen kulinarischen Identität sprechen kann. Ein interessanter Unterschied in nahezu allen Landesteilen sind die Trennlinien zwischen den Küsten und den Bergen. Überall gibt es Gebiete, die traditionell Olivenöl verwenden und Gegenden, wo Schweinefett zum Kochen benutzt wird.
Der Moment, wo sich die verschiedenen Einflüsse aus den Regionen und Städten vermischen, ist die nationale Vereinigung Italiens im 19. Jahrhundert. Damals entsteht ein überregionaler Markt, der die Erzeugnisse aus allen Teilen Italiens vereint. Die Menschen bekommen eine Ahnung, dass jede Region typische Speisen hat, die Teil der nationalen Tafel werden können. Gegenüber anderen Ländern wird das italienische Essen gar zu einem Objekt des Patriotismus. Damals beginnen die Italiener aufzuwachen und zu sagen: „Wir essen wirklich gut, wir können sogar die Franzosen übertrumpfen.“

Die Italiener sprechen gelegentlich von ihrer „Tischzivilisation“. Was bedeutet das?
Der Ausdruck umfasst alles, was unter den Begriff „gut kochen und gutes Essen machen” fällt. Das reicht von der Wahl der Zutaten bis zur Herstellung von Rahm oder Wurst. Es umfasst aber auch die Gastfreundlichkeit und das Wissen, wie man ein guter Gastgeber ist, wie man sich zu Tisch verhält, sowie auch die Geschichte verschiedener Gerichte und so weiter. Der Begriff umfasst letztlich alles das, wofür die italienische Küche steht, und er trägt dazu bei, Italien zu einem Ort zu machen, an dem man so hervorragend isst.

Was ist an dieser Zivilisation so besonders? Schließlich sind auch die Franzosen für ihre Tischkultur berühmt.
Es gibt in der Tat viele, viele Parallelen zwischen der italienischen und der französischen Küche, aber auch viele Unterschiede, die durchaus auch auf die spezifische Geschichte beider Länder zurückzuführen sind. Sehr allgemein gesagt, ist die französische Küche stark von Paris beeinflusst. Sie besitzt ein klares Zentrum, umgeben von der Provinz. Frankreich hatte immer seine Hauptstadt, die das Land dominierte – kulturell und auch in allen anderen Belangen. Die Haute Cuisine ist in meinen Augen deutlich elitärer, aber auch weniger international. Italien ist polyzentrisch, und dies spiegelt sich auch in den Gerichten wieder. Die italienische Küche hat die Welt auf einem mittleren oder gar günstigen Preisniveau erobert. Es war eben ursprünglich ein Essen für die Mittelklasse.

Zum Schluss die Bitte um einen Tipp: Was sollten unsere Leser essen, wenn sie nach Italien fahren?
Das ist ganz einfach. Die Leute sollten die lokalen Gerichte desjenigen Ortes essen, den sie besuchen. Bestellen Sie nicht einfach nur Pizza. Und folgen Sie simplen Regeln, machen Sie es wie die Italiener. Sie werden niemals, niemals einen Italiener sehen, der einen Cappuccino nach dem Mittagessen trinkt. Sie werden selten einen Italiener sehen, der mittags Pizza isst. Essen Sie lokal und seien Sie neugierig. Dann öffnet sich die Tür für die große Vielfalt der italienischen Küche.

 Interview: René Nehring


Info: www.johndickie.net