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Über die Ziele der kulturellen Förderung, die Freiheit der Kunst und das Grundverständnis der Kulturpolitik

»Kultur ist keine Dekoration«

Monika Grütters18.06.2012

Frau Grütters, in ihrem Buch „Kulturinfarkt“ stellen die Autoren dem deutschen Kulturbetrieb keinen guten Befund aus: Die derzeitige Förderung würde zu sehr einer Lobby und ihren Institutionen gelten – und zu wenig der Kunst. Haben die Autoren Recht?

Monika Grütters: Grundsätzlich finde ich es gut, dass wieder einmal heftig über die Kulturpolitik und den Sinn und Zweck ihrer Förderung gesprochen wird. Da ist uns jeder Beitrag recht; und wir haben die Möglichkeit, ein paar Grundpositionen klarzustellen.
Zu den Thesen der „Kultur-infarkt“-Autoren: Die Kulturpolitik in Deutschland folgt zwei grundlegenden Prinzipien. Das eine ist die Bewahrung des kulturellen Erbes, vom Denkmalschutz bis hin zu den Museen und den Theatern, den Opernhäusern, den Literaturhäusern usw. Dies ist das, was die Autoren „Institutionenförderung“ nennen.

Der zweite Aspekt ist das Ermöglichen der Avantgarde. Hier haben wir freie Budgets, um Kunst und Kultur an ihrer Basis zu ermöglichen. Künstler und Intellektuelle können experimentieren, Grenzen ausloten, das Bisherige in Frage stellen. Deshalb ist es ein dramatisch falscher Befund zu sagen, die Kulturpolitik bestünde in erster Linie darin, die Institutionen – und das heißt hier: lobbyistische Strukturen – zu manifestieren.
Eine andere streitbare These der „Kulturinfarkt“-Autoren lautet, zu viel Geld für die Kultur würde eher schaden, als dass es nützt.

Der Begriff „zu viel“ ist willkürlich. Offensichtlich ist den vier Autoren entgangen oder nicht bewusst, dass wir lediglich 1,6 Prozent aller öffentlichen Steuermittel in die Kultur stecken. Das sind 9,3 Mrd. Euro im Jahr, gemeinsam getragen von den Kommunen mit 44 Prozent, den Ländern mit 43 Prozent und dem Bund mit 13 Prozent. Mit diesen 9,3 Mrd. Euro sind wir das Land mit der höchsten Theater-Dichte der ganzen Welt. Jedes zweite Orchester der Welt spielt auf deutschem Boden; wir sind das Land mit der höchsten Anzahl an Festivals, Literaturhäusern, Tanzveranstaltungen und Bühnen, darunter allein 88 Opernhäuser.
Zum Nutzen gehört auch, dass die Kreativwirtschaft – bestehend aus der öffentlich geförderten Kultur, aber auch den Galerien, Verlagen und sonstigen Medien- und Design-Unternehmen – die zweitgrößte Branche in Deutschland ist nach der Automobilindustrie, vor der Finanzwirtschaft, mit 132 Mrd. Euro Umsatz. Im Vergleich dazu fallen die 9,3 Mrd. Euro konsumtiver Ausgaben kaum ins Gewicht.

Allerdings kommen nach Meinung der Kritiker für das Geld, das in die Kultur hineinfließt, zu wenig intellektuelle Anstöße zurück.

Ich kann für mich, die ja in diesen Milieus täglich unterwegs ist, den Befund nicht teilen. Natürlich ist Kultur heute nicht immer so aufregend wie etwa in den sechziger Jahren. Und vielleicht leistet die derzeitige junge bildende Kunstszene nicht das, was wir von den Generationen vergangener Jahrzehnte gewöhnt sind. Andererseits bin ich als Politikerin die Letzte, die auch nur im Ansatz den Versuch unternehmen wollte, Künstlern Empfehlungen zu geben. Die Freiheit der Kunst ist das oberste Prinzip.

Darf eine Gesellschaft überhaupt nach dem Ertrag ihrer Kulturförderung fragen?
Wir Politiker müssen uns in der Tat rechtfertigen. Bei jeder Summe, die wir für Kultur und auch für andere Dinge ausgeben, sind wir den Steuerzahlern  Rechenschaft schuldig. Der Kultur gegenüber können wir jedoch lediglich die Rahmenbedingungen setzen. Dazu können aber auch Zielvereinbarungen mit Kulturinstitutionen gehören. Die Einrichtungen sollen sich ihre eigenen Ziele setzen und uns sagen, woran sie gemessen werden wollen. Das sind gute Übungen zur Selbstkritik, beide Seiten – Politik und Kulturhäuser – haben damit gute Erfahrungen gemacht.

Eine andere Frage ist, wie die Erwartungen der Öffentlichkeit sind. Ich würde mir nicht anmaßen, das auf einen Punkt bringen zu wollen; die Gesellschaft in Deutschland ist so heterogen wie die daraus resultierenden Erwartungen. In jedem Falle gilt: Kultur ist keine Dekoration, die sich eine Gesellschaft leistet. Sie ist auch kein Luxus, sondern ein Ausdruck des menschlichen Grundbedürfnisses danach, die eigenen Grundlagen immer wieder reflektiert zu sehen. Kultur ist zuallerst Ausdruck von Humanität.

Was entgegnen Sie dem Vorwurf, dass unser Kulturbetrieb zu wenig innovativ sei?
Das trifft einfach nicht zu. Ich weiß auch nicht, wo die Kritiker leben und womit sie diesen Vorwurf belegen. Denn selbst etablierteste Häuser wie die Berliner Philharmoniker sind immer wieder ganz weit vorn – und zwar weltweit –, etwa mit ihrer Digital Concert Hall. Wenn die Kritiker dies nicht kennen, sollen sie einmal in die Hauptstadt kommen und sich dem Kulturangebot stellen.

Hat unser Kulturbetrieb ein generelles Problem mit der öffentlichen Wahrnehmung? Die großen Namen wie Grass und Walser in der Literatur oder Gerhard Richter in der Malerei vereint ja u.a., dass sie alle vor dem Zweiten Weltkrieg zur Schule gegangen sind.

Soll ich Ihnen jetzt zehn Namen nennen, die jünger sind als ich und inzwischen auf Weltklasse-Niveau? Von Neo Rauch über Olaf Nicolai bis hin zu Martin Assig, Wolfgang Herrndorf oder Felicitas Hoppe?

Genau das meine ich. Diese Namen sind in der Kunst- und Kulturszene echte Stars, aber nimmt man sie auch außerhalb der eigenen Kreise wahr?

In Berlin auf jeden Fall, hier wird weniger Establishment als die junge Avantgarde gezeigt. Nur muss man sich dann auch dafür interessieren und die Zeit aufwenden, sich mit Dingen zu befassen, die noch nicht so etabliert sind, dass man vorher weiß, was einen erwartet. Gerade von professionellen Kritikern kann man erwarten, dass sie nicht einfach nur Behauptungen in die Welt setzen.

Im Übrigen: Die meisten internationalen Künstler leben zurzeit in Berlin, nicht in London, nicht in New York. Berlin ist „the place to be“ für junge Künstler, Intellektuelle, für hungrige Menschen. Sie lieben die Stadt, weil Berlin diesen Werkstatt-Charakter hat, relaxt und offen und sehr international ist, und zudem noch relativ günstige Lebensbedingungen bietet. Wenn man überhaupt einen Platz in der Welt hat, wo man das alles mit etwas Lust und Offenheit studieren kann, dann ist das die deutsche Hauptstadt.

Lässt sich die von Hilmar Hoffmann einst aufgestellte Parole „Kultur für alle“ heute noch halten? Es ist ja einer der Hauptvorwürfe der Autoren, dass die Zahl der Nutzer klein geblieben ist.
Diese Zahl ist tatsächlich kleiner geblieben, als wir es uns wünschen. Zwar ist die Zahl der Kulturbesuche hoch, z.B. 30 Millionen jährlich allein in den Theatern; wir wissen jedoch, dass es nicht 30 Millionen verschiedene Menschen, sondern viele „Wiederholer“ sind. Das ist die einzige Frage in diesem Buch, die ich wirklich so relevant finde, dass sich jede Debatte darüber lohnt. Aber es ist nicht so, als wenn wir sie uns selbst noch nie gestellt hätten, sondern es ist ein roter Faden durch alle kulturpolitischen Debatten.

Wir müssen uns immer wieder fragen, wie wir mit diesem großartigen, vielfältigen, flächendeckenden Angebot die „bildungsfernen Schichten“ erreichen. Wir haben schon viel getan. So ist etwa durch die Bundeskulturstiftung das wohl bedeutendste Experiment der letzten zehn Jahre gestartet worden, nämlich jedem Kind in Nordrhein-Westfalen ein Instrument und den dazugehörigen Unterricht zu stellen.

Ein anderer Vorwurf der „Kulturinfarkt“-Autoren lautet, dass die Kulturförderung zu sehr angebotsorientiert sei und zu wenig daran, was vom Publikum gewollt wird.

In der Tat hat die Finanzierung mit Steuermitteln zwangsläufig zur Folge, dass das Publikum auch erreicht werden muss. Wir schaffen das aber auch. In Deutschland gehen zehnmal so viele Menschen – 113 Millionen – in Museen wie alle Bundesligaspiele zusammen an Zuschauern haben. Die Auslastung aller Bühnen mit mehr als 80 Prozent ist doch der beste Beweis dafür, dass auch kritische und anspruchsvolle Kultur ihr Publikum erreicht.

Eine der provokantesten Thesen der Kritiker ist, dass gerade wegen der umfangreichen Förderung die Kultur in diesem Lande nicht wirklich frei ist.

Ich wage die umgekehrte These. Wir werden immer mit Amerika verglichen, auch in der Kultur. Tatsache ist, 87 Prozent der Kulturausgaben in den USA werden dort von privater Hand finanziert, und nur 13 Prozent kommen über das sogenannte „National Endowment for the Arts“. In Deutschland ist das Verhältnis exakt umgekehrt. Aber unsere Kritiker glauben doch nicht im Ernst, dass ein privater Geldgeber zu einer Kultureinrichtung sagt: „Jetzt macht mit dem Geld, was ihr wollt! Und wenn es mir wehtut, umso besser.“
Insofern glaube ich, dass die These genau umgekehrt lauten muss: Staatliches Geld macht frei – auch zum Experiment, was ausdrücklich erwartet wird. Die Künstler brauchen einen sicheren Rahmen, in dem sie sich frei entfalten können. Den stellen wir sicher.
Fast alle Bereiche des öffentlichen Lebens müssen sich auf Kürzungen einstellen. Auch die Kultur?
In Sparzeiten, und die erleben wir seit Jahren, durchaus. Zum Beispiel werden keine neuen Opern mehr gebaut, und viele Museen haben weder einen Ankauf- noch einen Ausstellungsetat. Die Kulturpolitik steht in den Haushaltsberatungen im Wettbewerb mit anderen öffentlichen Ausgaben – Soziales, Bildung, Verteidigung und Inneres. Klar ist aber: Wenn man nur 1,6 Prozent für Kultur ausgibt, ist es evident, dass Einsparungen in diesem Bereich nicht einmal ein Hundertstel eines Haushalts sanieren würden. Man nähme etwas weg, das zur guten Tradition dieses Landes gehört und sein Publikum hat, und doch wäre am Ende materiell fast nichts gewonnen. Dieser kleine, aber strategisch besonders wichtige Etat lohnt sich einfach nicht für Spardebatten. Es wird nur deshalb immer versucht, weil es in jedem Medium ein Feuilleton gibt und somit der Symbolwert einer Einsparung im Kulturbereich so hoch ist, dass dann alle anderen Ressorts verstehen, was die Stunde geschlagen hat.

Und wie begründen Sie die Notwendigkeit, den Kulturetat unangetastet zu lassen, inhaltlich?
Indem wir nicht nur mit den Rahmenbedingungen für eine gesunde Kulturförderung in Deutschland argumentieren, sondern auch gelegentlich Debatten anstoßen. Dabei geht es nicht um die kleinteilige Betreuung der uns anvertrauten Einrichtungen, sondern wir möchten über die Wertegrundlagen unserer Gesellschaft reden: das christliche Menschenbild beispielsweise oder die Frage, was den Kulturbegriff Europa ausmacht. Die nationale Identität erwächst zuallererst aus dem Kulturleben eines Landes, nicht aus einem dichten Autobahnnetz.

Monika Grütters

Prof. Monika Grütters (RC Berlin-Nord) ist Staatsministerin für Kultur und Medien. Seit Dezember 2016 ist sie zudem Landesvorsitzende der CDU Berlin und gewähltes Mitglied im Präsidium des CDU-Bundesvorstandes.


monika-gruetters.de

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