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Hoffmeisters Fundstücke

Mitreißende Passionen

Hoffmeisters Fundstücke - Mitreißende Passionen
© Jessine Hein/Illustratoren

Wenn echte Leidenschaften ein Korrektiv zum Alltag bilden

Martin Hoffmeister01.02.2021

Passionen stehen in der Regel für Freude, Glück, Überschwang, Hingabe, Liebe, Fokussierung und Intensität. Ausgeblendet dabei werden nicht selten die verbreiteten Kehrseiten und/oder Implikationen des Affekts wie Krankheit, Leiden, Sucht, Verzweiflung und, bisweilen, (Selbst-)Destruktion. Im besten Fall bilden Leidenschaften ein beständiges, robustes und inspirierendes Korrektiv zum Alltag, Seitenweg und Fluchtpunkt zumal, der Kanonisches, Normatives, Durchschnittliches und Eingefahrenes zu hinterfragen, zu mildern oder zu transzendieren vermag.

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© Alpha Classics Alpha

Mit der 1719 in London ins Leben gerufenen "Royal Academy" schufen Barockmeister Georg Friedrich Händel und seine italienischen Kollegen Attilio Ariosti und Giovanni Battista Bononcini erste Maßstäbe für ein erfolgreich geführtes Opern-Unternehmen. Über neun Jahre lang avancierte London zu einer der profiliertesten europäischen Opern-Metropolen mit nicht weniger als 460 Vorstellungen von 34 Opern. Als Leiter der Institution hatte Händel die besten Sängerinnen und Sänger des Kontinents auf die Bühnen geholt und mit eigenen Gipfelwerken wie "Giulia Cesare in Egitto","Ottone" oder "Radamisto" zum Erfolg des Projekts beigetragen. Vorliegendes Album der französischen Mezzo-Sopranistin Eva Zaicik spiegelt die Geschichte der Institution in ausgewählten wie exemplarischen Arien der drei Protagonisten. Verhandelt werden kanonische Sujets wie Liebe, Tod, Schmerz, Wut, Schicksal und Trauer. Zaicik und das forciert, luzide und beweglich aufspielende Ensemble wissen die wechselnden, zumeist extremen Gemütslagen der Rollen mit unangestrengter Virtuosität, Präzision und eminenter Verve abzubilden. Mitreißend!

Versehrt von Erinnerungen, gescheiterten Beziehungen, gesellschaftlicher Borniertheit, Tablettensucht, den Herausforderungen des Schreibens und unausgesetztem Kampf mit sich selbst: Das kurze Leben der österreichischen Autorin Ingeborg Bachmann war gezeichnet von Exzess und Ausnahmezustand. Ihr einziger abgeschlossener Roman "Malina", eine Melange aus Briefen, erfundenen Dialogen, extensiven Telefonaten, Alpträumen und Selbstgesprächen skizziert die Aporien einer Dreiecksbeziehung zwischen einer Frau und zwei Männern ungeschönt, rabiat und im Spiegel krudester Abgründe. Die subtil konzipierte Hörspielbearbeitung von Bernadette Sonnenbichler mit Sprecherinnen wie Nina Kunzendorf und Christoph Luser übernimmt Bachmanns kunstvoll gestaltete Collage-Form und ergänzt diese um sinnstiftende akustische Effekte und behutsam integrierte Originalmusik. Das Drama gewinnt an Fahrt und: Authentizität.

2021, romeo und julia, romeo and juliet
© Opus Arte

Gleichermaßen Sergei Prokofjews solitäre Musik, die Choreographie so bedeutender Granden wie Kenneth MacMillan und die hohe Kunst der einschlägigen Tanz-Ensembles machen "Romeo und Julia" nach William Shakespeares Tragödie zu einem der bedeutendsten und markantesten Werke der Ballettgeschichte. MacMillans legendäre Choreographie von 1965 liegt nun auch als Filmfassung (DVD) der Regisseure Michael Nunn und William Trevitt vor. Gedreht in historischem Ambiente mit opulenter Ausstattung und farbenprächtigen (Renaissance-)Kostümen vereint der Streifen (ohne Worte) raumgreifende, belebte Tableaus mit intimen Szenen und filigranen Zwischentönen. Neben dem "Royal Ballet" und der Kompanie "Balletboy" nehmen insbesondere die Protagonisten Francesca Hayward und William Bracewell durch spektakuläre Tanzkunst ein.

Zu den komplexesten Herausforderungen der Fotokunst zählt seit Beginn an das Porträt. Den einschlägigen Protagonisten der Gattung diente es entsprechend nicht nur als vornehmster Beleg ihrer Kunst, sondern auch als Spiel- und Experimentiervorlage für Ausflüge ins Surreale, Groteske, ins Rollenspiel und in die Abstraktion. Aufgeladen von neuen Ideen präsentierte sich etwa die Porträt-Kunst in der Weimarer Republik. Insbesondere Fotografen wie August Sander, Lotte Jacobi, Gertrud Arndt, Franz Roh oder Helmar Lerski wussten mit radikalen Ansätzen zu provozieren, denn das menschliche Gesicht erwies sich als idealtypische Projektionsfläche für die brüchig gewordene Gesellschaft. Mit Fokus auf die Arbeiten von Helmar Lerski verhandelt und zeigt der Band das eminente Spektrum fotografischer Einlassungen aus der Zwischenkriegszeit.


  1. Eva Zaicik, Royal Handel, Le Consort, Alpha Classics Alpha 662, CD
  2. Ingeborg Bachmann, Malina, Hörspiel mit Nina Kunzendorf, Edmund Telgenkämper und Christoph Luser, Der Audio Verlag, 2 CDs
  3. Romeo and Juliet, Beyond Words, A Film by Michael Nunn and William Trevitt, Francesca Hayward, William Bracewell, Original Choreography Kenneth MacMillan, Orchestra of the Royal Opera House, Koen Kessels, Opus Arte OA 1294 D, DVD
  4. Buch/Ausstellung: Hg. Walter Moser, Faces – Die Macht des Gesichts, Helmar Lerski und die Porträtfotografie der Zwischenkriegszeit, Hirmer, 45.- Euro, (Ausstellung: Albertina Wien, 12.02.21–24.05.21)
Martin Hoffmeister

Martin Hoffmeister publiziert regelmäßig in nationalen und internationalen Magazinen und Zeitungen. Als Redakteur im Kulturressort des MDR-Hörfunk beobachtet er die Musik- und Literaturszene seit mittlerweile drei Jahrzehnten. Im Rotary Magazin empfiehlt er Neuerscheinungen aus dem Kulturleben und Fundstücke von seinen Reisen.

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