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Planet Michelangelo

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Detail aus Michelangelos Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle: die Delphische Sibylle (1509) © Verlag Klaus Wagenbach

Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp hat eine monumentale Monografie zu Michelangelo vorgelegt, in der Text und Bild zu einem intellektuellen und sinnlichen Erlebnis verschmelzen.

Andreas Beyer01.08.2021

Das Dreigestirn der Renaissance, unter welchem die europäische Kunst viele Epochen hindurch navigiert hat, bilden drei sehr unterschiedliche künstlerische Temperamente. Raffael hat ein aus vielen Impulsen gefiltertes Schönheitsideal etabliert, das bis weit ins 19. Jahrhundert verpflichtend geblieben ist; Leonardo da Vinci hat zwar kaum ein Werk je vollendet, gilt aber seiner vielfältigen Interessen und allen voran seiner naturkundlichen Studien wegen stets als Inkarnation des universalistischen Wissensdrangs der Künste seit der Neuzeit, und Michelangelo endlich, der in allen drei Hauptgattungen der Kunst gearbeitet hat, als Bildhauer, Maler und Architekt, verkörpert die Durchsetzung, die Selbstbehauptung des Künstlerindividuums schlechthin.


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Dass der Planet Michelangelo an Strahlkraft die beiden anderen übertreffen würde, zeichnete sich schon zu dessen Lebzeiten ab; die Zeitgenossen haben Michelangelo buchstäblich vergöttert. Entscheidend beigetragen zu seinem Ruhm hat der Kunsthistoriograf Giorgio Vasari mit seinen 1550 erstmals erschienenen, 1568 dann erheblich erweitert erneut gedruckten Lebensbeschreibungen der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister, den sogenannten Vite. Dabei handelt es sich um eine Entwicklungsgeschichte der Kunst vom späten 13. bis ins ausgehende 16. Jahrhundert, die Florenz zum Zentrum aller künstlerischen Innovationen und Kräfte deklariert, und Michelangelo zum Vollender der Kunstgeschichte: Seine Vita ist der eigentliche Fluchtpunkt dieses enorm folgenreichen Werks, das die Kunstgeschichte als historische Disziplin recht eigentlich begründet hat – und das in 45 Einzelbänden als Edition Giorgio Vasari seit Kurzem vollständig übersetzt und kommentiert im Berliner Wagenbach Verlag vorliegt.

Eine Geschichte der Werkformen

Vasari attestiert Michelangelo zwar, die Künste von der Verpflichtung auf hinderliche Formvorgaben befreit, also gleichsam entfesselt zu haben, sieht ihn aber vor allem souverän aus dem Haushalt der Kunst schöpfen. Die nachfolgende Geschichtsschreibung ist diesem Modell weitgehend gefolgt; und sie hat Michelangelos Werk meist als eine Geschichte seines Lebens beschrieben, das tatsächlich biblisch lange gewährt hat – der Künstler starb 1564 fast 90-jährig in Rom, bis zuletzt hatte er den Meißel in der Hand. Die Literatur zu Michelangelo ist polyglott und kaum mehr zu überblicken; wahrscheinlich ist zu keinem anderen Künstler so intensiv geforscht worden. Dabei ist er immer wieder auch zur Projektionsfigur geworden. Mal galt er als Idealgestalt eines in Florenz sich realisiert habenden freiheitlichen Gemeinwesens, dann wieder als Held des Ichs und der Befreiung des Einzelnen aus sämtlichen Bindungen, oder auch als das Gegenteil, nämlich als das verwerfliche Beispiel von menschenverachtender Selbstbezüglichkeit und Egozentrik. 

Der Berliner Kunsthistoriker Horst Bredekamp, der sich mit Michelangelo seit seinen frühen Studienjahren in den Siebzigern befasst hat, geht in seiner jetzt vorgelegten, monumentalen Monografie – die man als die Summe dieser lebenslangen Beschäftigung und zugleich als das Hauptwerk dieses ebenso vielseitigen wie produktiven Gelehrten betrachten muss – einen anderen Weg. Er nimmt sämtliche Gattungen und Schaffensphasen in den Blick, schreibt aber keine Biografie im herkömmlichen Sinne, sondern eine Geschichte der Werkformen. Sein Buch gliedert sich chronologisch, geht also aus von Michelangelos Herkunft und Ausbildung, seiner ersten Florentiner Zeit, folgt ihm nach Rom, wo der Mittzwanzigjährige mit der Pietà in Sankt Peter eine Skulptur schafft, die die gesamte Apenninenhalbinsel auf ihn aufmerksam macht, und sieht ihn, zurück in Florenz, mit dem David eine der Inkunabeln der Renaissancekunst schlechthin aus dem Stein hauen. Der päpstliche Auftrag, das Grab Julius’ II. zu entwerfen, erreicht ihn 1505 – das Projekt wird in der ursprünglich konzipierten Form nicht realisiert, beschäftigt Michelangelo aber sein gesamtes Leben; mit der an dessen Stelle getretenen Ausmalung der Decke der Sixtinischen Kapelle verwirklicht er – der sich gleichwohl eher als Bildhauer verstanden und die Malerei immer als Fron wahrgenommen hat – einen Gemäldezyklus, der das Menschenbild der Kunst revolutioniert. Michelangelo, immer dem republikanischen Florenz verbunden und erbitterter Feind der Machtgier der aristokratisierten Medici, hat, bis er der Stadt 1534 auf immer den Rücken kehrte, auch weiter für seine Heimat gearbeitet; in der Kirche von San Lorenzo ebenso wie für die Befestigungsanlagen zur Verteidigung gegen die die Stadt bedrohenden exilierten Medici. In Rom entsteht Ende der 1530er Jahre als Altarwand der Sixtinischen Kapelle das „Jüngste Gericht“, und es beginnt Michelangelo mit der Neugestaltung des Kapitolsplatzes, ist mit Palastbau befasst und übernimmt die Herkulesaufgabe, den Neubau von Sankt Peter zu vollenden. Daneben ist er unausgesetzt als Bildhauer tätig; immer wieder wendet er sich dem Thema der Pietà zu. Damit sind nur die Hauptwerke erwähnt, aber schon die reichten aus, gleich mehrere Künstlerleben zu füllen.

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Brügger Madonna, 1501–1505, Marmor, Brügge, Onze Lieve Vrouwekerk. Entgegen der Florentiner Tradition sitzt der Jesusknabe nicht auf dem Schoß seiner Mutter, sondern steht zwischen ihren Knien © Verlag Klaus Wagenbach

Bredekamps neuer Blick auf dieses Werk ist nun jener, der Michelangelo nicht mit großer Freiheit aus dem Repertoire der künstlerischen Formen schöpfen sieht, vielmehr begreift Bredekamp dessen Arbeit als eine fortwährende Auseinandersetzung mit der Materie, als Anerkennung der Eigenkraft der Kunst, in deren Dienst sich Michelangelo gleichsam stellt. In immer neuen Verwandlungen, auch Anverwandlungen, geht er sein Werk an, das aber zugleich Besitz ergreift von ihm. Als Schlüsselbegriff dient Bredekamp dabei die „Panempathie“, eine Kombination aus dem antiken Gott Pan, Sinnbild einer in ihrer Gesamtheit begehrten Natur, und der Empathie, Mitgefühl also oder Einfühlung. Damit wird hier eine auf alle Phänomene reagierende Empfänglichkeit, ein sinnlicher Weltbezug beschrieben, der ebenso wenig beherrschbar wie abschließbar ist. Es ist nach Bredekamp diese Erfahrung Michelangelos, von Menschen wie von Dingen gleichermaßen überwältigt zu werden, die ihm letztlich zu einer Unabhängigkeit gegenüber Manipulationen aller Art verholfen hat: Normen, Interessen, politischer oder persönlicher Natur, Zeitstimmungen, ästhetische oder religiöse Verbindlichkeiten – all dem hat Michelangelo nicht nachgegeben: „Als Getriebener wurde er autonom.“

Das Prinzip der Inversion

Ein weiterer, äußerst hilfreicher Begriff, mit dem Bredekamp dieses Œuvre zu fassen versucht, ist jener der „Inversion“, Verkehrung also, Umkehrung, Anerkennung des Anderen und Fremden, Zugeständnis an eine strukturelle Offenheit. Er sieht das gesamte Werk beherrscht von diesem Prinzip, ausgehend von den frühesten Zeichnungen bis zum letzten Bildwerk, der „Pietà Rondanini“. In den mit stupender Sprachvirtuosität hier entfalteten Werkanalysen wird diese „Unfähigkeit“ Michelangelos, irgendwelche letztgültigen Formen oder Gewissheiten zu setzen, nachgezeichnet. Bei ihm werden Innen- und Außenräume verkehrt, besonders spektakulär etwa in der Biblioteca Laurenziana in Florenz; die Fortifikationsanlagen in Florenz denken den Feind mit, weshalb sie eine Dynamik entwickeln, die Angriff und Verteidigung zugleich physisch erfahrbar macht; die Voluten des (als Fragment nur) letztlich realisierten Julius-Grabmals, tragen nicht, sondern rollen sich gleichsam empor und funktionieren nicht mehr statisch, sondern skulptural: Es ist, als stelle Michelangelo das Grabmal auf den Kopf; in der Pietà Rondanini endlich ist selbst noch der Akt der Zerstörung Teil der Reflexion über die Bestimmung der Kunst bis hin zu deren Aufhebung.

In der Unbedingtheit seiner Formen, in seiner Weigerung, Erwartungen zu entsprechen, sieht Bredekamp die Ursache dafür, dass dieser Künstler seinen Zeitgenossen unbegreiflich war; unbegreiflich und zugleich vorbildlich. Vielleicht ist auch seine Modernität gerade darin begründet. Die postmoderne Architektur etwa hat Michelangelos Regelverstöße begierig aufgegriffen. Dazu gehört auch sein Insistieren auf dem Infiniten, des nicht Abschließbaren der Kunst – der mit seinem Werk verbundene Begriff des „non-finito“ ist tatsächlich nicht nur der Vielzahl an kaum zu bewältigenden Aufträgen geschuldet, sondern benennt das philosophische Prinzip seiner Arbeit, die der Form unterworfen ist und niemals aufhört, weiterzutreiben. Die heute uns so selbstverständlich erscheinende Eigenlogik und -dynamik des künstlerischen Prozesses ist bei Michelangelo, das macht Bredekamp einsichtig, vorweggenommen. Selten ist Kunst so empathisch beschrieben und analysiert worden wie in diesem Buch. Unterstützt durch eine geschickte „Bildregie“, die sämtliche Werke unmittelbar dort vor Augen stellt, wo sie verhandelt werden, verdichtet sich diese Kunstanalyse zu einem intellektuellen und sinnlichen Erlebnis, das nicht nur die Kunst Michelangelos kongenial erfahrbar macht, sondern ganz allgemein eine überaus verführerische Hinführung zum Umgang mit künstlerischen Formen darstellt. Exquisit aufgemacht, scheut dieses Buch nicht den „coffee table“ und gehört zugleich ins Regal jedes Gelehrten und Kunstliebhabers.

Andreas Beyer
Prof. Dr. Andreas Beyer lehrt Kunstgeschichte der Neuzeit an der Universität Basel. Von 2009 bis 2014 war er Direktor des Deutschen Forums für Kunstgeschichte in Paris.