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Hoffmeisters Fundstücke

Vorsicht, intellektuelle Vakua

Hoffmeisters Fundstücke - Vorsicht, intellektuelle Vakua
© Illustration: Jessine Hein/Illustratoren

Sind Streamingdienste eine Alternative für herkömmliche TV-Angebote?

Martin Hoffmeister01.03.2023

Das Versprechen auf grenzenlosen Zugriff und sekundenschnelle Verfügbarkeit von Information und Unterhaltungsangeboten klingt ebenso verführerisch, wie es in der Alltagssphäre von den entsprechenden Dienstleistern weitgehend eingelöst wird. Was möglich ist, findet auch statt, denn dem Kunden gelten in narzisstisch aufgeladenen Zeiten mentale und emotionale Allmachtsfantasien und -tableaus ohnehin als linderndes Mittel gegen intellektuelle Vakua und geschundene Egos. Rezeptfrei bereitgestellt und ohne Hinweise auf Nebenwirkungen lässt sich lesen, hören und sehen, was bildet, ablenkt und/oder Spaß macht. Filmklassiker, Horror-, Fiction-, Action- Streifen, Serien, Animationsfilme, Reality-TV, Sport, Kinderformate oder Dokus: Insbesondere das weitspektrierte Angebot der Videostreamingdienste stieß in den vergangenen Jahren bei den Verbrauchern auf steigende Akzeptanz. Ob und wie sehr sich die durchwachsenen, bisweilen austauschbaren oder redundanten Offerten allerdings beim Kunden dauerhaft werden durchsetzen können, bleibt einstweilen offen. Als ernsthafte Alternative zu herkömmlichen TVTableaus samt opulenten Mediatheken taugen insbesondere die anspruchsvollen Original-Serien von Netflix und Co.

Die 80er Jahre in Hamburg. Die Amüsiermeile der Hafenmetropole ist durchkriminalisiert. Partys, Drogen, Gewalt und Prostitution bestimmen die Szene: gemanagt von Banden und Zuhältern, die gutes Geld verdienen an der Sehnsucht nach dem Exzess. So fungiert die Reeperbahn nicht nur als Zufluchtsort für gescheiterte Existenzen, halbseidenes Personal, Paradiesvögel und Sextouristen, sondern avanciert ebenso zum Epizentrum zahlloser Anekdoten, Geschichten und Drehbücher. Mit dem sechsteiligen Kiez-Drama Luden nimmt Amazon Prime die Tradition wieder auf. Auf Drängen der Prostituierten Jutta (Jeanette Hain) schlägt Protagonist Barkowski (Aaron Hilmer) die Zuhälterlaufbahn ein, gründet mit Gleichgesinnten einen Ring und träumt von Reichtum. Doch die Blase der schillernden Parallelwelt implodiert. Machtkämpfe mit konkurrierenden Luden und die aufziehende Aids-Krise kratzen an Image und Selbstwertgefühl des Sonnyboys.

Durchaus lustvoll vermag der zweifache Oscar-Gewinner Christoph Waltz seine Rollen als zynischer Bösewicht, undurchsichtiger Schurke oder Psychopath zu zelebrieren. Im Thriller The Consultant spielt er einen Unternehmensberater, der eine marode IT-Firma wieder auf Erfolgskurs bringen soll und dabei auf sämtliche Mittel von Machtmissbrauch, Desavouierung und Mobbing setzt. „Mein Job ist es, zu beobachten, zu rationalisieren, zu verbessern“, lässt Regus Patoff sein Team wissen und lanciert mit befremdlichen Invektiven eine Atmosphäre von Angst, Misstrauen und Aggression. Ein Plot, der über acht Episoden trägt.

Kaum seriös auszumachen bleibt, ob Wellness, Fitnessprogramme, Yoga, vegane Ernährung oder die angestrebte Work-LifeBalance tatsächlich Gesundheit und das ersehnte Glück herbeiführen, wie es Zeitgeist, Marketing und introspektives Selbstmanagement optimistisch verheißen. Den steinigen, bisweilen bizarr-skurrilen Weg zu Körperoptimierung und Daseinsheil nimmt die australische Netflix-Dramedy Wellmania in den Blick. Protagonistin Liv beschließt aufgrund gesundheitlicher Probleme, ihr Leben zu ändern. Die zuvor umtriebige und genuss affine Frau verordnet sich einen grundlegenden Ernährungswandel, Diäten, Gruppentherapien und Aufenthalte in Wellness-Retreats. Doch nicht nur bleibt die erwünschte Wirkung aus, Liv verstrickt sich überdies in ein Netz absonderlich-surrealer Erfahrungen.

Geht es nach der Filmgeschichte, sind insbesondere New York und London immer eine „romantische Komödie“ wert, denn sowohl für Verrücktheiten wie für Pragmatismus bieten die Metropolen die entsprechenden (Handlungs-)Räume im Übermaß. London ist teuer, Wohnraum kaum bezahlbar. Tiffys Beziehung ist gescheitert. Sie muss die gemeinsame Wohnung verlassen. Leon, der Krankenpfleger mit Nachtschichten, braucht Geld und will sein Apartment – samt Bett – tagsüber vermieten. Es kommt zum „Flatshare“ der Protagonisten ohne vorheriges Treffen. Nachrichten und Zettelbotschaften nähren im Laufe der Zeit den Wunsch, sich persönlich zu begegnen …


 

  1. Amazon Prime: Luden, ab 3. 3., sechs Episoden à 42 Min.
  2. Amazon Prime: The Consultant, acht Episoden à 35 Min.
  3. Netflix: Wellmania, acht Episoden à 42 Min.
  4. Paramount: The Flatshare, sechs Episoden à 45 Min.
Martin Hoffmeister

Martin Hoffmeister publiziert regelmäßig in nationalen und internationalen Magazinen und Zeitungen. Als Redakteur im Kulturressort des MDR-Hörfunk beobachtet er die Musik- und Literaturszene seit mittlerweile drei Jahrzehnten. Im Rotary Magazin empfiehlt er Neuerscheinungen aus dem Kulturleben und Fundstücke von seinen Reisen.

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