Gedanken zum Lebensgefühl einer Stadt zwischen gestern und heute
Vorwärts
Vom Westen Europas oftmals ignoriert, hat sich unser östlicher Nachbar in den vergangenen Jahren beachtenswert entwickelt. Vor allem die Hauptstadt Warschau ist längst eine pulsierende Metropole. Die Beiträge des Titelthemas der September-Ausgabe widmen sich einem Land und einer Gesellschaft, über die die Deutschen immer noch zu wenig wissen – obwohl deren Schicksal ganz wesentlich mit dem unsrigen verbunden ist.
Ich verlasse meine Wohnung. Im Fahrstuhl ein altes Ehepaar. Sie sehen „Das Tagebuch des Warschauer Aufstands“, das ich unter dem Arm halte. Sie lächeln sich vielsagend an.
Wo ich mein Auto geparkt habe, stand damals ein Mietshaus, in dem angeblich eine Mutter ihr Kind vor Hunger gegessen hat, während der größten Hungersnot im jüdischen Ghetto. Ich fahre um ein großes Rondeel, dessen Umbau sich um ein Jahr verzögert hat, nachdem man auf alte Keller und Blindgänger getroffen ist. Ich finde einen freien Parkplatz, nicht weit von dem Platz entfernt, wo früher das alte Hollywood-Kino war, in dem einhundert deutsche Kriegsgefangene von Bomben ihrer Landsmänner getötet wurden. Der Parkplatz ist zwar ein ganzes Stück entfernt von dem Produktionsstudio, in dem wir an dem Film „Miasto 44“ (Die Stadt 44) arbeiten, aber einen passenden, näheren Parkplatz kann man im Warschauer Stadtzentrum heute nicht mehr erwarten.
Ich hätte mein Fahrrad nehmen sollen, wie immer mehr Warschauer es tun. Immerhin ist so ein schönes Wetter. Sommer. Am Abend drehen wir ein Interview für das ZDF. Die deutschen Reporter haben einen wilden Strand an der Weichsel gewählt. Eine Menge junger Menschen, Lachen, Musik, der Geruch von gerauchtem Gras. Und das alles an dem Ort, wo vor 70 Jahren Menschen versucht haben, den Fluss zu durchschwimmen, um aus dem brennendem Warschau zu entkommen. Von dem einen Ufer, wo sie von den Nazis niedergemacht wurden, auf das andere Ufer, wo sie von den Sowjets in Haft genommen wurden.
Wozu das alles? Warum sich nicht einfach weiterentwickeln, vorwärts rennen und keinen Moment stehenbleiben? Leben, denken, schaffen. Vorwärts, vorwärts. Wie üblich für meine Generation. Nicht zurückblicken, dort gibt es doch nichts Interessantes. Den Lebenslauf füllen, Sprachen erlernen und die Welt entdecken. Auf Facebook Fotos hochladen von Orten, an die unsere Eltern nicht in Träumen gedacht hätten. Sie konnten es nicht. Ihre Träume waren analog. Eine Reise nach Deutschland war der Gipfel des Luxus. Viele Polen in der Generation meiner Eltern flohen in die USA. „Nichts wird sich hier ändern“, haben sie gemeint. Oder: „Das Leben ist es nicht wert, dass man es hier vergeudet. Man braucht zwei Generationen, damit es hier normal wird“.
Nach Jahren kommen sie wieder zurück. Doch sie erkennen die Stadt nicht wieder. Es ist nicht ihre Welt, diese Welt hat sich ohne ihr Zutun selbst geholfen. Sie steht da, gebaut, glänzend, ehrgeizig. Und fremd. Anders sollte sie werden. Und losgelöst von der Geschichte.
Was zählt ist „heute“ oder „morgen“. Nicht „gestern“. Micha? Kwieci?ski, einer der größten polnischen Filmproduzenten, hat sich das alles verkehrt ausgedacht. „Hier hast du die Tagebücher, schreib“. So wollte ich den Film machen. Ganz einfach. Ich fing an zu lesen. Das Museum des Warschauer Aufstands wurde aufgemacht. Ich bin hingegangen. Fünfmal hintereinander. Ich habe Menschen getroffen, die damals gekämpft hatten. Ich sah ihnen in die Augen, und dann hatte es mich gepackt. Für acht Jahre. Bis zur großen Vorführung für 12.000 Menschen in dem neugebauten Nationalstadion, das es nicht einmal in Plänen gab, als ich anfing. Mittlerweile hat sich alles verändert. Die Grenzen zu Europa sind nicht mehr nur offen, sondern praktisch nicht mehr existent. Englisch wurde zur zweiten Sprache. Freunde haben angefangen, um die Welt zu reisen, zu arbeiten, sie kehrten zurück und fuhren wieder weg. Meine Geschwister sind erfolgreich geworden. Mein Bruder singt in New York in der Metropolitan Opera, meine Schwester hat in Berlin ihre eigene Musikband und fängt gerade an, mit einer der größten Plattenfirmen zu arbeiten. Die jüngste Schwester studiert, und gerade hat sie als Stylistin bei einem Fotoshooting gearbeitet. Sie leben ihr Leben, arbeiten schwer, bis zum umfallen. Ohne Komplexe.
Heute kommen die Ukrainer nach Polen. Genau so, wie die Polen vor 30 Jahren nach Deutschland kamen, auf der Suche nach Arbeit. Wir nehmen sie auf, weil wir wissen, wie es ist. Ungleichheit, Benachteiligung; das Gefühl, betrogen zu werden; die Wut darüber, dass man immer der Zweite ist; an die Seite geschoben, ungerecht behandelt. Wir wissen auch, dass nichts besser motiviert. Riesige, unrealistische Ambitionen – typisch polnisch. Und du mitten drin. Voller Angst und Unsicherheit. Du fängst an zu arbeiten, du verlierst dich darin. Vorwärts, vorwärts. Du fährst weg. Wohin? Vorwärts, vorwärts. Sogar wenn du zurückkommst, gehst du vorwärts. Niemals aufgeben. Immer nach etwas streben. Genug von der Scham. Wir sind ebenso gut. Wir sind ebenso gut.
Der Geschmack der Freiheit. Die ersten zehn Jahre nach dem Ende des Kommunismus haben die Erwachsenen gesagt, dass sie nicht für solch ein Polen gekämpft haben. Die Kinder wollten davon nichts hören. Sie haben ihr Leben gelebt. Heute sind diese Kinder erwachsen. Eine ungewöhnliche Wandlung hat sich getan. Heute sind wir es, die kämpfen. Um eine bessere Welt, um eine freiere Freiheit, um eine größere Freiheit, um eine mehr europäische „Europeanness“. Wir fangen an zu verstehen, dass wir Europa sind. Die Welt ist kleiner geworden. Freunde aus Berlin, London oder Paris bedeuten allein nicht viel. In China gibt es 40 Millionen Pianisten. Heute reicht es nicht aus, nur Warschau oder Polen oder Deutschland zu sein. Man muss Europa sein. Andernfalls gibt es dich nicht.
Was ist Geschichte? Jemand hat gesagt, es ist dasselbe wie heute, nur gestern. Dieselben Menschen, dieselbe Angst, dieselbe Liebe. Wie wird es in der Zukunft sein? Wahrscheinlich genauso wie heute, nur morgen. Jedenfalls hängt es von uns allen ab. Wir sind Europa. Ob wir das wollen oder nicht, wir sitzen zusammen im selben Boot. Lass uns also ruhig fahren, aber mit einem Lächeln. Vorwärts.
Die Übersetzung erfolgte durch Krzysztof Bulski.
Wo ich mein Auto geparkt habe, stand damals ein Mietshaus, in dem angeblich eine Mutter ihr Kind vor Hunger gegessen hat, während der größten Hungersnot im jüdischen Ghetto. Ich fahre um ein großes Rondeel, dessen Umbau sich um ein Jahr verzögert hat, nachdem man auf alte Keller und Blindgänger getroffen ist. Ich finde einen freien Parkplatz, nicht weit von dem Platz entfernt, wo früher das alte Hollywood-Kino war, in dem einhundert deutsche Kriegsgefangene von Bomben ihrer Landsmänner getötet wurden. Der Parkplatz ist zwar ein ganzes Stück entfernt von dem Produktionsstudio, in dem wir an dem Film „Miasto 44“ (Die Stadt 44) arbeiten, aber einen passenden, näheren Parkplatz kann man im Warschauer Stadtzentrum heute nicht mehr erwarten.
Ich hätte mein Fahrrad nehmen sollen, wie immer mehr Warschauer es tun. Immerhin ist so ein schönes Wetter. Sommer. Am Abend drehen wir ein Interview für das ZDF. Die deutschen Reporter haben einen wilden Strand an der Weichsel gewählt. Eine Menge junger Menschen, Lachen, Musik, der Geruch von gerauchtem Gras. Und das alles an dem Ort, wo vor 70 Jahren Menschen versucht haben, den Fluss zu durchschwimmen, um aus dem brennendem Warschau zu entkommen. Von dem einen Ufer, wo sie von den Nazis niedergemacht wurden, auf das andere Ufer, wo sie von den Sowjets in Haft genommen wurden.
Das Unverstehbare begreifen
Wie kann man ohne Geschichte weiterleben in einer Stadt, die mit ihrer Geschichte atmet. Man muss doch leben. Soll und kann man überhaupt versuchen, sie zu verstehen? Ich wollte diesen Film nicht machen. Hätte mir jemand am Anfang gesagt, dass es acht Jahre dauern wird, hätte ich ihn niemals angefangen. Den Film über den Warschauer Aufstand.Wozu das alles? Warum sich nicht einfach weiterentwickeln, vorwärts rennen und keinen Moment stehenbleiben? Leben, denken, schaffen. Vorwärts, vorwärts. Wie üblich für meine Generation. Nicht zurückblicken, dort gibt es doch nichts Interessantes. Den Lebenslauf füllen, Sprachen erlernen und die Welt entdecken. Auf Facebook Fotos hochladen von Orten, an die unsere Eltern nicht in Träumen gedacht hätten. Sie konnten es nicht. Ihre Träume waren analog. Eine Reise nach Deutschland war der Gipfel des Luxus. Viele Polen in der Generation meiner Eltern flohen in die USA. „Nichts wird sich hier ändern“, haben sie gemeint. Oder: „Das Leben ist es nicht wert, dass man es hier vergeudet. Man braucht zwei Generationen, damit es hier normal wird“.
Nach Jahren kommen sie wieder zurück. Doch sie erkennen die Stadt nicht wieder. Es ist nicht ihre Welt, diese Welt hat sich ohne ihr Zutun selbst geholfen. Sie steht da, gebaut, glänzend, ehrgeizig. Und fremd. Anders sollte sie werden. Und losgelöst von der Geschichte.
Was zählt ist „heute“ oder „morgen“. Nicht „gestern“. Micha? Kwieci?ski, einer der größten polnischen Filmproduzenten, hat sich das alles verkehrt ausgedacht. „Hier hast du die Tagebücher, schreib“. So wollte ich den Film machen. Ganz einfach. Ich fing an zu lesen. Das Museum des Warschauer Aufstands wurde aufgemacht. Ich bin hingegangen. Fünfmal hintereinander. Ich habe Menschen getroffen, die damals gekämpft hatten. Ich sah ihnen in die Augen, und dann hatte es mich gepackt. Für acht Jahre. Bis zur großen Vorführung für 12.000 Menschen in dem neugebauten Nationalstadion, das es nicht einmal in Plänen gab, als ich anfing. Mittlerweile hat sich alles verändert. Die Grenzen zu Europa sind nicht mehr nur offen, sondern praktisch nicht mehr existent. Englisch wurde zur zweiten Sprache. Freunde haben angefangen, um die Welt zu reisen, zu arbeiten, sie kehrten zurück und fuhren wieder weg. Meine Geschwister sind erfolgreich geworden. Mein Bruder singt in New York in der Metropolitan Opera, meine Schwester hat in Berlin ihre eigene Musikband und fängt gerade an, mit einer der größten Plattenfirmen zu arbeiten. Die jüngste Schwester studiert, und gerade hat sie als Stylistin bei einem Fotoshooting gearbeitet. Sie leben ihr Leben, arbeiten schwer, bis zum umfallen. Ohne Komplexe.
Polen oder Europa?
In Los Angeles treffe ich einen Filmproduzenten. „I’m from Poland“ – stelle ich mich for. „Say you’re European. Don’t say Poland, Holland, Italy, German. I don’t state. I’m from Oregon. I’m American. You’re European. European cinema – that’s what you do. European director – that’s who you are.” Vielleicht hat er Recht. Vielleicht auch nicht? Bis auf weiteres gebe ich ihm Recht. Ich will es so. Vielleicht wird es sich in ein paar Jahren ändern. Vor 70 Jahren hat niemand von sich als Europäer gesprochen. Jeder hat eifersüchtig um seine Heimat gekämpft. Nachbarn haben sich ermordet. Sie haben sich am Akzent erkannt. Auch heute kann ein Akzent noch stören, vor allem wenn man ein junger Schauspieler ist. Man versucht ihn loszuwerden, um in ausländischen Produktionen eine Rolle zu bekommen. Niemand beschuldigt heute niemanden. Zumindest direkt. Aber vielleicht hinter vorgehaltener Hand? Einige können es fühlen.Heute kommen die Ukrainer nach Polen. Genau so, wie die Polen vor 30 Jahren nach Deutschland kamen, auf der Suche nach Arbeit. Wir nehmen sie auf, weil wir wissen, wie es ist. Ungleichheit, Benachteiligung; das Gefühl, betrogen zu werden; die Wut darüber, dass man immer der Zweite ist; an die Seite geschoben, ungerecht behandelt. Wir wissen auch, dass nichts besser motiviert. Riesige, unrealistische Ambitionen – typisch polnisch. Und du mitten drin. Voller Angst und Unsicherheit. Du fängst an zu arbeiten, du verlierst dich darin. Vorwärts, vorwärts. Du fährst weg. Wohin? Vorwärts, vorwärts. Sogar wenn du zurückkommst, gehst du vorwärts. Niemals aufgeben. Immer nach etwas streben. Genug von der Scham. Wir sind ebenso gut. Wir sind ebenso gut.
Und nun?
Polen ist genau wie Alice im Wunderland auf die richtige Seite des Spiegels gegangen. Welche ist das? Welche ist die richtige? Heute probiert sie noch Kleider an, die für sie von anderen geschnitten wurden. Einige zu groß und einige zu klein. Bald wird sie merken, dass sie auch andere kleiden kann. Sie wird dann eine von vielen bekannten Designern werden. Zeit, es braucht Zeit. Um zu wachsen, um zu fruchten und um sich ausprobieren zu lassen.Der Geschmack der Freiheit. Die ersten zehn Jahre nach dem Ende des Kommunismus haben die Erwachsenen gesagt, dass sie nicht für solch ein Polen gekämpft haben. Die Kinder wollten davon nichts hören. Sie haben ihr Leben gelebt. Heute sind diese Kinder erwachsen. Eine ungewöhnliche Wandlung hat sich getan. Heute sind wir es, die kämpfen. Um eine bessere Welt, um eine freiere Freiheit, um eine größere Freiheit, um eine mehr europäische „Europeanness“. Wir fangen an zu verstehen, dass wir Europa sind. Die Welt ist kleiner geworden. Freunde aus Berlin, London oder Paris bedeuten allein nicht viel. In China gibt es 40 Millionen Pianisten. Heute reicht es nicht aus, nur Warschau oder Polen oder Deutschland zu sein. Man muss Europa sein. Andernfalls gibt es dich nicht.
Was ist Geschichte? Jemand hat gesagt, es ist dasselbe wie heute, nur gestern. Dieselben Menschen, dieselbe Angst, dieselbe Liebe. Wie wird es in der Zukunft sein? Wahrscheinlich genauso wie heute, nur morgen. Jedenfalls hängt es von uns allen ab. Wir sind Europa. Ob wir das wollen oder nicht, wir sitzen zusammen im selben Boot. Lass uns also ruhig fahren, aber mit einem Lächeln. Vorwärts.
Die Übersetzung erfolgte durch Krzysztof Bulski.
Jan Komasa ist Regisseur und Drehbuchautor. Zu seinen Filmen gehören u.a. „Oda do radosci“ (Ode an die Freude) und „Golgota Wrocawska“ (Breslauer Golgatha). Sein Spielfilm „Miasto 44“ (Die Stadt 44) über den Warschauer Aufstand feierte im September 2014 Premiere. Die Serie „Krew z krwi“ (Blut aus dem Blut) erschien 2015. jankomasa.com