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Synagogalmusik erlebt Renaissance

Wiederkehr einer fast verdrängten musikalischen Kultur

Jüdische Renaissance und Barock in der Synagogalmusik – das Berliner Louis Lewandowski Festival etabliert sich zur festen Adresse für die Pflege eines durch die Shoa beinahe ­ausgelöschten Erbes.

Nils Busch-Petersen01.12.2016

Weit mehr als eintausend Choristen, Solisten und Kantoren aus vier Kontinenten waren in den letzten fünf Jahren auf dem Louis Lewandowski Festival zu Gast, das inzwischen eine Institution in der Berliner Kulturlandschaft ist. Benannt nach dem deutsch-jüdischen Komponisten Louis Lewandowski, dessen künstlerisches Schaffen die Synagogalmusik maßgeblich prägte, findet die nunmehr sechste Ausgabe des Festivals in die­sem Jahr vom 15. Dezember bis 18. Dezember 2016 an den verschiedensten Orten Berlins statt – und das unter einem ganz besonderem Motto:

Sakrale hebräische Chorwerke
Im Jahre 1622 veröffentlichte der jüdisch-­italienische Komponist Salamone Rossi (1570–1630) eine Reihe von sakralen he­brä­ischen Chorwerken. Der „Gesang des Salo­mon“ war das erste dieser Art, das zwar geprägt vom madrigalen Stil und der Mo­tet­te war, aber dazu gedacht, in der Synagoge gehört zu werden. Weitere Komponis­ten folgten ihm auf diesem Weg, darunter Carlo Grossi (fl.–1680), Lodovico Saladin (1690), Giuseppe Vita Clave (fl.–1730) und Christiano Giuseppe Lidarti (1730–1794).

Das sechste Lewandowski Festival ist die­sen Pionieren gewidmet. Ihre Kompositio­nen für die jüdischen Gebete, die vorliturgischen Feiern und die jüdische Gemeinschaft haben den Weg bereitet für Louis Lewandowski und seine Zeitgenossen im 19. Jahrhundert.

Unter dem Motto „Jüdische Renaissance und Barock in der Synagogalmusik“ präsentiert das Louis Lewandowski Festival in diesem Jahr internationale Chöre und Ensembles aus Südafrika, Deutschland, Großbritannien und der Schweiz.

„Gastge­ber“ ist das Synagogal Ensemble Berlin – jenes Ensemble, welches welt­weit das ein­zige ist, das an sämtlichen jüdischen Feiertagen sowie Freitagabend und Schabbatmorgen die Liturgie Louis Lewandowskis spielt. Alle Chöre präsentieren neben Stücken aus der Welt des diesjährigen Leit­motivs natürlich auch wieder Lewan­dowskis Werke in verschiedenen Konzerten in zwei Synagogen sowie in einer der derzeit neuesten Kultureinrichtungen der Hauptstadt sowie in anderen kulturellen Institutionen in Berlin und Potsdam.

Zwei Pre-Opening-Konzerte stimmen die Festivalbesucher in diesem Jahr ein. Am 14. Dezember gastiert der Leipziger Synagogalchor im Alten Rathaus von Pots­dam. Dieser renommierte Chor bewahrte das Erbe jüdisch-liturgischer Musik über Jahrzehnte im Osten Deutschlands und wird im Januar 2017 mit dem „Distinguished Service Award“ des Obermayer German Jewish History Awards ausgezeichnet wer­den. Zeitgleich empfangen Berliner Kantoren Kollegen und Freunde aus aller Welt zum Kantorenkonzert in der Wuhletal­kirche in Marzahn-Hellersdorf. Nach dem großen Erfolg des ersten Kantorenkonzertes im vergangenen Jahr werden auch 2016 hier die Solisten ihren besonderen Abend haben.

Internationaler Austausch
Der öffentliche Festivalauftakt findet tra­ditionell am 15. Dezember in der Synagoge Pestalozzistraße in Berlin-Charlottenburg statt. Die Festivalschirmherren Michael Müller, Regierender Bürgermeister von Ber­­lin, und Gideon Joffe, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, werden gemeinsam mit Rabbiner Jonah Sievers und dem Festivaldirektor die Teilnehmer willkommen heißen.

Das Ensemble „Profeti della Quinta“ aus Basel gibt das sich anschließende Eröffnungskonzert. „Profeti della Quinta“ besteht aus fünf Sängern, die nach Bedarf mit weiteren InstrumentalistInnen und SängerInnen zusammenarbeiten und sich auf das Repertoire des 16. und frühen 17. Jahrhunderts spezialisiert haben. Gegründet in Israel, leben seine Mitglieder derzeit in der Schweiz, wo sie an der Schola Cantorum Basiliensis studieren. 2011 gewann das Ensemble den York Early Music Young Artists Competition und war seitdem auf Konzertreisen in Europa, Nordamerika, Japan, China und Israel unterwegs. Mittler­weile ist es bei prestigeträchtigen Festivals und Spielstätten, wie beim Oude Muziek Festival Utrecht, dem Festival d’Ambronay und dem Metropolitan Museum of Art in New York zu Gast. In der „Szene“ gelten die „Profeti“ bereits heute als das Maß der Dinge in der Synagogalmusik der Renaissance und des Barock.

Am 17. Dezember beschreitet das Louis Lewandowski Festival neue Wege. Zum ersten Mal in seiner Geschichte ist es in Oberschöneweide zu Gast und wird dort in den Reinbeckhallen, einst Teil des größ­ten, zusammenhängenden Industriegebie­tes in Europa und heute spannende Szenelocation, mit einer musikalischen Werkstatt zu Gast sein: Die Chöre aus Johannesburg, Leipzig und Berlin werden hier in historisch-industriellem Ambiente nacheinander auftreten und musizieren.

Außer­dem wird das Publikum mit ein­bezogen – mehr soll aber noch nicht ver­raten werden.

Am Sonntag, den 18. Dezember treffen sich alle teilnehmenden Chöre in guter Festival-Tradition in der Synagoge Rykestraße im Prenzlauer Berg zum großen Abschlusskonzert. Das Publikum erwartet an dem Abend Beiträge von „The Lewan­dowski Chorale“ aus Johannesburg, dem Leipziger Synagogalchor, Profeti della Quinta aus Basel, dem Synagogal Ensemble Berlin, dem Jugendchor der Synagoge in der Rykestraße, dem Londoner Jugendchor der Belsize Square Synagoge und wei­teren Gästen.

„Liebe macht das Lied unsterblich“
Jedes bisherige Festival hatte sein Leit­thema. 2011 stand der Namensgeber Louis Lewandowski im Zentrum des Festivals unter dem Motto: „Liebe macht das Lied unsterblich!“, dem Spruch auf dem Grab Lewandowskis auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee. 2012 widmete sich das Festival dem magischen Dreigestirn der Synagogenmusik des 19. Jahrhunderts, Lewandowski aus Berlin, Salomon Sulzer aus Wien und Samuel Naumbourg aus Paris. 2013 gedachte Berlin der in der Nazibarbarei zerstörten Vielfalt. Daher widmete sich das Festival all jenen Komponisten, die in der Shoa verfolgt oder ermordet wurden. Wegen der Vielzahl Betroffener war dann das Festival 2014 ausschließlich den nach Amerika emigrierten Komponisten unter dem Motto „Stars and Stripes“ gewid­met. 2015 ging es um die osteuropäische Tradition und dortige Reflektionen auf das Schaffen Lewandowskis.

Fünf Jahre nach seiner Gründung ist das Louis Lewandowski Festival heute das international bedeutendste Treffen dieses Genres. Berlin, die Stadt, von der aus einst die Nazis die Shoa betrieben, ist auf dem Weg, wieder ein Zentrum jüdisch-liturgischer Musik zu werden. Nach allem, was in dieser Stadt und von ihr ausgehend jüdischen Menschen und der jüdischen Welt angetan wurde, können wir unseren Musikern und dem Publikum des neuen Berlin dafür nur dankbar sein. Vor allem aber danken wir auch den zahlreichen Freunden und Sponsoren, die es uns möglich machen, bisher ohne einen Cent ­öffentlicher Kulturgelder dieses Ereignis zu gestalten.