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Nach der Olympiade

Klasse Leistungen in prekärer Umgebung

Jörg Ulrich Hahn über die enttäuschten Medaillen-Hoffnungen in London und die Frage, was schief läuft im deutschen Sport

Jörg Ulrich Hahn12.09.2012

Eines vorab: Das Wort von den enttäuschten Medaillenhoffnungen wird vielen Ergebnissen der deutschen Olympia-Mannschaft nicht gerecht. Allein für Olympia qualifiziert zu sein ist schon die erste Weltklasseleistung. Leistung lässt sich planen, Erfolg nicht. Oft entscheiden Winzigkeiten, Millimeter, Tausendstel. Am Ende standen 44 Medaillen für unser Land, drei mehr als 2008 in Peking.

Und dennoch war die Enttäuschung hierzulande groß. Der frühere Automobilmanager Hans Wilhelm Gäb, als ehemaliger Tischtennis-Nationalspieler und hochrangiger Sportfunktionär Kenner des deutschen Sportsystems, forderte schon vor der Schlussfeier der Spiele der XXX. Olympiade in London in einem Zeitungsinterview: „Im deutschen Leistungssport muss professioneller gearbeitet werden. Aber das allein wird nicht genügen. Schulen und Universitäten, Wirtschaft und politische Institutionen sollten ein koordiniertes System formen, das die Pflege des Hochleistungssports als eine nationale Aufgabe betrachtet. Hier wartet eine große Herausforderung für den Deutschen Olympischen Sportbund und die Politik.“

Mit einer ungeahnten Erfolgswelle begeisterte hingegen Team GB zunächst das Vereinte Königreich und dann den Rest der Welt. Schon schauen alle auf das Modell von UK Sports. Das ist eine staatsnahe Agentur, zu einem guten Teil aus sprudelnden Lotteriemitteln gespeist. Der deutsche Sport verfolgt einen anderen Weg, schreibt seine Autonomie groß, wenngleich ein Hauptteil seiner Mittel von Bundesinnenministerium und aus dem Verteidigungsetat (Sportfördergruppen der Bundeswehr) kommt. Über zweihundert Millionen Euro an Steuergeldern fließen pro Jahr in die Spitzensportförderung der Verbände hierzulande. Aber Geld allein macht keine Medaillen.

Doch nochmals: Die deutsche London-Bilanz kann sich mehr als sehen lassen. Die, die am Start waren, konnten überzeugen. Die deutschen Olympia-Teilnehmer waren auf jeden Fall glänzende Botschafter dieses Landes. 

Förderung des Spitzensports

Ein Großteil unserer Olympiasieger war oder ist auf die monatliche Unterstützung durch die Deutsche Sporthilfe angewiesen. Das ist eine sehr persönliche Förderung. Über 90 Prozent aller unserer Medaillen gehen auf das Konto sporthilfe-geförderter Athleten. Seit ihrer Gründung vor über 45 Jahren hat die Sporthilfe rund 375 Millionen Euro zur Förderung von rund 45.000 jungen Talenten und Spitzensportlern eingesetzt.

Deutsche Spitzensportler wenden durchschnittlich 60 Stunden pro Woche für ihr hauptsächlich sportliches, aber auch berufliches Weiterkommen auf. Aber sie liegen nach einer Studie der Sporthochschule Köln bei einem Monatseinkommen von gerade einmal 626 Euro, ein Wert weit unterhalb des bundesdeutschen Durchschnittseinkommens. Dies steht in keinem Verhältnis zur Bedeutung, die erfolgreiche Athleten für Deutschland haben. Das unterstreichen zwei Ergebnisse eine Studie aus dem Sommer 2011: Demnach empfinden zwei von drei Deutschen Glück und Stolz, wenn heimische Athleten Erfolge bei internationalen Wettkämpfen erzielen. Und vielleicht noch wichtiger: Für 93 Prozent der jungen Deutschen sind Spitzensportler hinsichtlich ihres Leistungswillens und ihrer Leistungsbereitschaft Hoffnungsträger und Vorbilder.

Wirtschaft gefragt

Anders als Wirtschaftsunternehmen steht die Sporthilfe unabhängig von Vermarktungserfolgen, von Popularität und Marktmechanismen zu den Sportlern, oft über lange Jahre. Im Schnitt wird ein Athlet länger als acht Jahre gefördert, bevor Olympiamedaillen für ihn erreichbar sind. Die Sporthilfe bietet aber kein Rund-um-sorglos-Paket. Ihre Philosophie ist, ein verlässlicher Karrierebegleiter zu sein, gerade in der Verbindung von Schule, Studium, Berufsausbildung und Spitzensport. Auch ohne die Bundeswehr muss hierzulande einem jungen Menschen eine duale Karriere – mit Sport und Ausbildung also – möglich sein, ohne dass er in eine finanziell prekäre Lage rutscht. 


„Die Diskrepanz zwischen den im Sport investierten Werbegeldern und den Mitteln, die aus der Wirtschaft in die Förderung von Sport und Sportlern geht, ist einfach schrecklich“, sagte Hans Wilhelm Gäb in dem schon zitierten Interview. „Verwerflich ist, dass die Jungs im Deutschland-Achter, über die das ganze Land jubelt und dessen Werbewert im Ausland unschätzbar hoch ist, sich praktisch allein von den Zahlungen der Sporthilfe finanzieren müssen und nach der Laufbahn auf sich allein gestellt sind.“

Die Sporthilfe verzichtet auf staatliche Mittel, sucht aber die Partnerschaft mit staatlichen Stellen. Die Erlöse aus dem Verkauf von Sportbriefmarken und aus der Glücksspirale sind keine feste Größe, derzeit erbringen sie etwa dreißig Prozent des Etats. Deshalb muss man nach anderen Wegen suchen, um zunächst das derzeitige Förderniveau abzusichern und später auszubauen. Gegenwärtig werden etwa zwölf Millionen Euro im Jahr für fast 3800 Athleten vom Jugendalter an ausgeschüttet, aus fast allen olympischen Disziplinen, traditionsreichen nicht-olympischen Sportarten sowie dem Behinderten- und Gehörlosensport. Die Stiftung hat große Dax-Unternehmen als Förderer und andere namhafte Firmen als Partner. Sie konkurriert aber mit zahlreichen anderen Organisationen um Gelder. Es geht um Leistung und Gegenleistung, auch wenn die Sporthilfe Fundraising betreibt und nicht Sponsoring-Mittel einwirbt. Traditionell und seriös zu sein reicht da nicht mehr aus. Auch ist es mit einem höflichen Brief und der Bitte um Zuwendungen, anders als zu Zeit des ersten Vorsitzenden, Josef Neckermann, nicht mehr getan.

„Wir Deutschen wären tausendmal besser dran, wenn sich die Liebe zu unseren Leistungsträgern ebenso leicht in uns wecken lassen würde wie der Neid“, hat der Sportpublizist Oskar Beck noch vor den Spielen geschrieben. Man könnte Neid vielleicht auch ersetzen durch Häme. „Hier bei uns kann man sich den Mund fusselig reden mit der These, dass sich eine Gesellschaft den eigenen Ast absägt, wenn sie über die Erfolge ihrer Leistungselite die Nase rümpft“, schreibt Beck. „Im Moment jedenfalls ist es noch viel zu riskant, als deutscher Sportler zu sagen: ‚Es ist mir ein Vergnügen, Leistung zu bringen‘ – denn garantiert sagt in seinem Rücken sofort einer verächtlich und angewidert: ‚Sind wir zum Vergnügen auf der Welt?‘“ 

Konsequenzen

Zwei zentrale Fragen nach den Spielen lauten: Braucht ein Land wie Deutschland sportliche Erfolge und Medaillen? Müssen Athleten für ihre Leistungen besser entlohnt und in sowie nach ihrer Laufbahn besser abgesichert werden?
Im Vorfeld der nächsten Spiele in Rio 2016 und die Zeit danach können die nachfolgenden Thesen diese Debatte beleben:

  • Wir müssen das Schulfach Sport stärken, mit mehr Unterrichtsstunden und mit mehr Personal.
  • Wir brauchen ein Konzept vom Kindergarten bis zur Uni, auch zur Entlastung der Eltern, die häufig der erste und einzige „Sponsor“ eines Sporttalents sind und die sich oft sorgen machen, wenn durch Leistungssport-Training und Wettkämpfe, vor allem beim G 8, die schulische Leistung nachlässt.
  • Vereine und Schulen müssen wieder stärker vernetzt werden; in Norwegen und Finnland etwa bekommt die Schule eine Förderung, wenn sie eine erfolgreiche Vereinsmannschaft stellt. Deshalb muss man gar nicht neidisch nach England und Amerika blicken, wo sich Schulen und Unis über Sport-Teams definieren.
  • Das Bachelor-Studium sollte für Spitzensportler zeitlich streckbar sein. Zudem brauchen wir flexible Studienmöglichkeiten in einer Vielzahl von Fächern sowie auch Sportkoordinatoren an den Hochschulen, die zwischen Lehrkräften und Studierenden vermitteln.
  • Wir brauchen mehr Bereitschaft in Unternehmen, Spitzensportlern Praktika zu ermöglichen und sie überhaupt in den normalen Bewerberprozess aufzunehmen, auch wenn diese wegen des Sports eine lange Studiendauer oder schwächere Noten und Abschlüsse haben.
  • Die bisherige Finanzierung muss gesichert und ausgebaut werden.
  • Ganz besonders wichtig ist die Pflege des Kulturguts Sports in den meinungsbildenden Medien (insbesondere ARD/ZDF). Die Dominanz des Fußballs gefährdet die Vielfalt, die Anerkennung für andere Sportarten sinkt, Vorbilder gehen verloren. Das Wichtigste ist, eine Kultur zu schaffen, die Verständnis für die Leistung der Sportler aufbringt. Es geht nicht darum, einem jungen Sportler einen Olympiaerfolg so zu honorieren, dass er ausgesorgt hat.
Jörg Ulrich Hahn
Jörg Ulrich Hahn (RC Frankfurt/Main-Alte Oper) war seit den achtziger Jahren Sportredakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und von 2004 bis 2012 Sportchef. Von 2012 bis 2017 war er Direktor Kommunikation der Stiftung Deutsche Sporthilfe. Heute ist er als freier Journalist und Berater tätig.

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