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Über das Altern und die Erwartungshaltung an alte Menschen

Das letzte Tabu

Dana Horáková09.06.2012

Neulich fragte mich ein Mensch von 33 Jahren, wie alt ich bin. Entsetzt klärte ich ihn auf, dass es sich nicht schickt, solche Fragen zu stellen. „Wieso?“, erwiderte er munter, „du bist doch fit wie ein Turnschuh!“ Nun, eine Dame meines Jahrgangs ist romantischere Komplimente gewohnt. Doch da (oh holde Eitelkeit!) geschmeichelt, fragte ich mich plötzlich selbst: Wieso ziemt es sich eigentlich nicht?

Wir alle werden bekannterweise immer älter, bleiben länger vitaler und (nicht nur finanziell) potenter, und passen in Jeans, die schon ein paar Dekaden auf dem Buckel haben. Außerdem hat mittlerweile niemand ein Problem zu bekennen: Ich bin pleite, Alkoholiker, arbeitslos, Kaninchenzüchter, schwul, habe mich liften lassen, habe Aids, habe Alzheimer… Aber war sagt schon: Ich bin alt? Keiner. In Zeiten eines aggressiven Jugendwahns und subversiver, systematischer Altendiskriminierung ist das Alter unser letztes Tabu. Die Alten, heißt es, gehören entweder abgestellt – z.B. in den Keller wie ausgedientes Zeugs und Souvenirs, an die man sich nicht erinnern möchte – oder in den Ruhestand (was für ein Unwort!) entsorgt. Angesichts solcher Aussichten müsste man sich, um das letzte Quäntchen Würde bewahren zu können, anstandshalber selbst in eine „Altmenschen-Sammlung“ entsorgen.

Tatsächlich verschwinden die Alten ja auch! Und zwar in „Altenteil“ genannten, von den Verwandten kaum erreichbaren Pflegeheimen – oder in einer Art inneren Exils.

Doch was erzähle ich da! Eigentlich gibt es hierzulande doch gar keine Alten, lediglich „junggebliebene“ Master-Consumer, Senior-Citizens, Silver-Shopper, Best-Ager usw. Vom Alter spricht man heute wie einst die Frommen vom Teufel: Sie nannten den Unaussprechlichen den „Gottseibeiuns“. Und auch diese Schonsprache und Schönfärberei verrät unser verklemmtes Verhältnis zu Falten, entlarvt das infantile Grauen vor den grauen Haaren und stärkt die Furcht vor dem Altern, das doch vom Moment der Zeugung an zur Conditio humana gehört. Der Jugendkult der Gegenwart – in welcher Verkleidung auch immer – ist eine Wette, die der Mensch niemals gewinnen kann. Und doch ignoriert er nichts so sehr, wie den lautlosen, unaufhaltsamen Schritt der Zeit.

Verweigerung der Realität
Man nehme z.B. den Begriff „Anti-Aging“. Suggeriert er nicht, dass es irgendwo, in einem geheimen Depot, eine allmächtige Waffe gibt, die die Arthrose, den Grauen Star usw. bezwingen kann? Wen wundert es, dass auch die Prospekte der Altenstifte ihre eher schlichten Häuser als „Senioren-Residenzen“ anpreisen, und eine heile, sprich: jugendliche Welt versprechen. Die letzte Bleibe wird zum Alljahres-Urlaub stilisiert, und wer mit 50 wie 50 aussieht, ist selbst schuld.

Das Problem dabei ist, das viele Alte die mit ihrem Lebensabschnitt verbundenen Klischees und Erwartungshaltungen vielzu oft einfach hinnehmen – und folgerichtig ihre Lebensenergie früher als notwendig ausschalten. Aus Angst, in natura von der Gesellschaft abgelehnt zu werden, unterziehen sich die Senioren sinnlosen, kostspieligen und ergebnisarmen Verjüngungskuren. Aber früher oder später geben sie – da enttäuscht – auf und formieren sich – da erschöpft – zur „Generation vergeudet“.
Das gefährlichste dieser Klischees lautet: Der Alte ist eine nimmersatte Raupe, die den Jungen das Haar vom Kopf frisst, da er Nichts mehr bringt, zu keiner vernünftigen Arbeit mehr fähig ist. (Tatsächlich sind nur 30 Prozent der Ü-60- Männer und lediglich 10 Prozent der Ü-60-Frauen noch erwerbstätig.) Diese Gleichstellung von Altern mit nachlassender Arbeitslust in einer ums Materielle kreisenden Gesellschaft, in der allein bezahlte Arbeit das Selbstwertgefühl stiftet, ist fatal: Hat man Arbeit – ist man Wer. Hat man keine – ist man Ausschuss. „Oldies“ sind arbeits-arm, ergo: nutzlos und überflüssig.
Durch die Abschiebung der Alten ins Reich der (ach so putzigen!) Hobbys bzw. ins Ehrenamt gehen der Gemeinschaft wertvolle „Rohstoffe“ verloren, zum Beispiel jene Werte und Tugenden, die eine Lebenszeit brauchen, um zu reifen: „Nicht durch Kraft oder körperliche Behändigkeit und Schnelligkeit werden große Leistungen vollbracht, sondern durch besonnenen Rat, das Gewicht der Person, gereiftes Urteil: Eigenschaften, die im Alter nicht verloren gehen, sondern sogar noch zuzuwachsen pflegen“, schreibt schon Cicero um 50 v. Chr. in seinem Traktat „Über das Alter“.

Wie produktiv das Alter sein kann, zeigt der Blick in die Geschichte, in deren Verlauf so manches „Spätwerk“ entstanden ist: Coco Chanel präsentiert ihre revolutionäre Mode-Collection mit 71; Verdi komponiert seinen „Falstaff“mit 80; Michelangelo ist 86, als er das Holzmodell der Petersdom-Kuppel fertigt; Kant schreibt „Zum ewigen Frieden“ mit 76; Platon schreibt seine „Gesetze“ mit über 80; Sophokles den „Ödipus auf Kolonos“ mit 90 Jahren; Beate Uhse führt 80-jährig ihr Unternehmen an die Börse; Galileo, völlig erblindet, diktiert „Zwei neue Wissenszweige“, das erste Werk der modernen Physik, mit 74; Chaplin dreht seinen ersten Farbfilm mit 77; 77 ist auch Churchill, als er zum zweiten Mal britischer Premier wird; Adenauer wird 86-jährig wird zum dritten Mal zum Kanzler; Astrid Lindgren klettert mit 80 noch auf Bäume; Mutter Teresa schuftet bis zu ihrem Tod mit 87 in den Slums; Picasso arbeitet mi 85 an neuen Bildern für eine Retrospektive: „Ich habe nur noch einen Gedanken. Arbeit. Ich male so, wie ich atme. Beim Arbeiten finde ich Entspannung“; und Fontane – „Effi Briest“ entsteht, als er 76 ist – gesteht seiner Frau: „Du hast ganz Recht: Das Beste im Leben ist Arbeit, man kann fast sagen: das Einzige“.

Wie es scheint, ist für die Oldies ausgerechnet die Arbeit jener Jungbrunnen, der ihr Selbstvertrauen festigt und ihre Lebensgeister aktiviert. Verlieren sie das Gefühl, gebraucht zu werden, geht auch der Sinn des Lebens verloren, sie geben sich auf, werden depressiv und krank – und ihre Pflege teuer. Oder sie werden kriminell: Die Zahl der betagten Verbrecher explodiert, auch wenn es sich in 75 Prozent der Fälle um Kavaliersdelikte handelt – als würden die Alten wie böse Kinder durch „Lärm“ um Aufmerksamkeit buhlen.
Andererseits, warum leugnen? Keiner ist wirklich gern alt. Man wird ja darauf auch nicht vorbereitet. Das Altern ist (frei nach Goethe) eine „so harte Arbeit“, weil es dafür weder zeitgerechte seelische Navigationssysteme gibt noch Rituale. Was rückblickend wiederum verständlich ist: Wozu sollte man früher auch aufwendige Festivitäten für die geringe Zahl an Greisen ersinnen, die es schafften, 50 zu werden? Zelebriert wurden immer nur jene Zäsuren, die von der Mehrheit erlebt wurden: Taufe, Konfirmation, Vermählung. Beim einzigen altersrelevanten Ritual ist man zwar dabei, sogar als Protagonist, aber erleben kann man es kaum, da tot: das Begräbnis.

Fehlende Vorbilder
Doch da ist noch etwas, was wir Oldies benötigen: Vorbilder. Ich wäre ganz bestimmt viel lieber alt, wenn ich nur wüsste, wie man es am besten hinbekommt! Mangels Helden vergleicht man sich viel zu sehr mit den Leistungen und dem Äußeren der eigenen Jugend – oder mit den Scharen wirklich Jüngerer. Das Ergebnis? Frust. Denn die meisten Anti-Aging-Methoden und -Mittel konzentrieren sich auf den „Body“, der heute in der Tat mehr oder weniger reparierbar ist: Pillen, Prothesen, künstliche Gelenke.
Der eigentliche Kampf um die letzte Lebensphase aber findet im Kopf statt. Es geht nicht nur darum, dem Leben mehr Jahre abzugewinnen, sondern den Jahren mehr Leben zu geben. Wie gesagt ist es keineswegs einfach, das Alter anzunehmen. Es ist ja auch unheimlich, was da mit einem passiert. Man verändert sich und bleibt doch man selbst: „Aber wie kann das wirklich sein, dass ich die kleine Resi war, und dass ich auch einmal die alte Frau sein werd?“, fragt sich die 30-jährige Marschallin aus dem „Rosenkavalier“, kaum, dass sie nach einer Liebesnacht ihren 17-jährigen Geliebten nach Hause schickt: „Wie macht denn das der liebe Gott? Wo ich doch immer die Gleiche bin… Das alles ist geheim, so viel geheim. Und man ist dazu da, dass man‘s erträgt.“ Apropos Gott: Den um Rat zu bitten, hat wenig Sinn, da der alte Herr zeitlos ist.

Wohlgemerkt, dieses ist kein Wehklagen, eher eine Feststellung. Es ist ja (meines Wissens jedenfalls) keiner da, der für die Alten so spricht, dass ihre Nachkommen sie freudig einladen würden, in ihren Welten mitzuwirken. Es ist auch keiner da, mit dem sie über sich selbst lachen, lästern, jammern können! Ich kann mich doch beim besten Willen mit keiner der 40-Jährigen identifizieren, die mich vom Bildschirm oder den Titelblättern anlachen. Mögen sie knackiger und mit Millionen auf Facebook „befreundet“ sein – sie haben nicht genug gelebt! Auch dies ist keine Anklage. Gegen den Drang der Jungen, die Alten auszuschalten, ist nichts einzuwenden. Der Generationenwechsel verlief nie anders und ist die Muttermilch des Weiterkommens.

Problem erkannt, und nun? Wie meinte Martin Buber: „Alt sein ist ja ein herrliches Ding, wenn man nicht verlernt hat, was anfangen heißt.“ Also gut. Dann fange ich mal an. Ich beschließe, das Alter zur Prime-Time meines Lebens zu machen (so wahr mir mein Body helfe). Ich werde mich nicht schämen, als wäre mein Geburtsjahr eine Sünde. Ich werde nicht verzweifeln, weil ich für mein Hochzeitskleid zu „weiblich“ geworden bin. Ich werde mich nicht ducken, nur weil ich für die männliche Hälfte der Bevölkerung durchsichtig geworden bin.

Und ich werde, falls gefragt, die Wahrheit sagen: Ich bin 65. Jawohl! Ich bin alt, na und?
Dana Horáková
Dana Horáková war von 2000–2001 stellv. Chefredakteurin der „Welt am Sonntag“ und 2002–2004 Hamburger Kultursenatorin. Zuletzt erschien „101 Top-Dogs - Von verkannten Hunden bekannter Menschen und umgekehrt“ (Kynos-Verlag 2015).

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