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Zum Titelthema Meer

Mittelmeer, Mittlermeer

Zum Titelthema Meer - Mittelmeer, Mittlermeer
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Trennend, verbindend, lebenspendend, tödlich oder hoffnungfördernd? Dieter Richter beleuchtet das Meer zwischen Europa, Asien und Afrika näher.

Dieter Richter01.07.2022

I

An der Grenze zweier Kontinentalplatten, der eurasischen und der afrikanischen, gelegen, ist das Mittelmeer ein marines Becken in beständiger Unruhe. Erdgeschichtlich erst in sehr junger Zeit entstanden, dann wieder zur Gänze ausgetrocknet, zur Salzwüste erstarrt und durch den atlantischen Einbruch erneut zu Meer geworden, ist auch seine jüngere Geschichte geprägt durch zahlreiche marine und terrestrische Katastrophen: Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen, Hebungen und Senkungen des Meeresspiegels. Ein Meer der Katastrophen also. Auf die terraferma, das feste Land, ist hier wenig Verlass, sie kann brüchig sein, schwankender Boden. Auch politisch ist die Méditerranée bis heute ein Raum beständiger Krisen und Konflikte.

In düsteren Farben haben die Alten dieses Meer gesehen: grau, schwarz, dunkelbraun oder weinfarben nennt es Homer, für die alten Ägypter war es "das große Schwarze", auch "das große Grüne". "Schönes blaues Mittelmeer…" wird es erst sehr spät, in der europäischen Romantik.

II

Mare mediterraneum: In seinem alten Namen offenbart es am schönsten seinen Charakter, das Meer "zwischen den Ländern". Mittler-Meer also, vermittelnd zwischen den Küsten dreier Kontinente, und das nicht nur im geographischen, sondern auch im kulturellen Sinn. Von seiner geomorphologischen Struktur her zerfranst und zerklüftet wie kein anderes, bestückt mit Halbinseln, Vorgebirgen und Landzungen, ausufernd in Buchten, Syrten, Lagunen und Engen, übersät mit Inseln und Inselgruppen, die wie Trittsteine im Wasser zum Sprung einladen, war dieses Meer fluides Medium eines permanenten Austauschs zwischen Völkern und Kulturen, Gütern, Sprachen, Religionen und Ideen. Hegel, der es selber nie gesehen hat, nennt es in seinen Berliner Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte das "Herz der Alten Welt", "das Bedingende und Belebende derselben". Und er fährt fort: "Ohne dasselbe (= das Mittelmeer) ließe sich die Weltgeschichte nicht vorstellen, sie wäre wie das alte Rom oder Athen ohne das Forum, wo alles zusammenkam."

Wo alles zusammenkam: Ein kosmopolitisches Meer also, nach den frühen Flusskulturen um Nil, Euphrat und Tigris die Wiege einer "Meerkultur", die mit dem Imperium Romanum auch politische Gestalt annahm und mit dem Ausgreifen dieses Imperiums in den Norden auch die Länder jenseits der Ölbaumgrenze integriert und zur Entstehung Europas geführt hat. Der Monotheismus, das Alphabet, die Idee der Demokratie und das Lateinische sind vier Grundelemente dieser Mittelmeerkultur, jeweils lokale Schöpfungen der ägyptisch-hebräischen, der phönizischen, der griechischen und der römischen Zivilisationen, aber universalisiert durch das Mittler-Meer.

Ein frühes Vorbild also dessen, was Europa gerade erst zu werden verspricht: Forum (mit Hegels Begriff), Ort des Austauschs von Ideen, Gütern und Diensten, Raum vielfältiger Reisebewegungen ohne nationale Grenzen, verbunden durch technische Infrastrukturen, die Idee der Toleranz und eine universale Verkehrssprache, die Begegnungen auch zwischen Fremden ermöglicht.

III

Im hohen Mittelalter vermittelt dieses Meer eine Begegnung besonderer Art: zwischen der christlich-lateinischen Welt im Norden und der arabisch-muslimischen Welt im Süden. Der Kanal von Sizilien mit seinen Inseln und die Enge von Gibraltar werden zu See-Brücken einer Verbindung, durch die das Abendland einen einzigartigen wirtschaftlichen, kulturellen und geistigen Modernisierungsschub erhält — durch eine hochentwickelte islamische Zivilisation, die auch in Fragen der religiösen Toleranz den Praktiken des Christentums weit überlegen war. Technische Innovationen wie der Kompaß, das Papier, die Majolica oder die Terrassierung, Luxusgüter wie der Zucker, der Kaffee oder das Sorbet dringen aus der arabischen Welt im alten Europa ein. Muslimische Autoren vermitteln Kenntnisse der Mathematik, der Medizin, der Naturwissenschaften und der Schriften der griechisch-römischen Philosophie. Eine interkulturelle Begegnung, die auf vielen Gebieten Bereicherung und Fortschritt für die Entwicklung Europas war, wird allerdings von den Europäern als Kulturkampf und Religionskrieg verstanden und entsprechend beantwortet. Auch das Mittler-Meer wird zum Kriegsschauplatz, zur Landschaft, die nicht mehr Verbindung stiften, sondern Grenzen ziehen soll – bis heute.

IV

Eine besondere Beziehung verbindet die Deutschen mit dem Mittelmeer. Es ist das Sehnsuchts-Meer in der Ferne. Die europäische Geschichte ist seit dem Mittelalter um eine geographische Nord-Süd-Achse zentriert, und das Mittelmeer ist Teil des fernen, lockenden Südens. Im Mittelalter rüsteten sich Pilger und Kreuzfahrer zur "Meerfahrt" ins Heilige Land, "über Meer das Kreuz nehmen" lautete die Formel für den Aufbruch zum Heiligen Grab, und das Wort "Meer" war dabei synonym mit dem "Mittelmeer". In den Jahrhunderten der Neuzeit war es dann die Grand Tour, war es die aus ihr sich entwickelnde Bildungs- und Künstler-Reise, die den Bewohnern der Binnenländer nördlich der Alpen die Wunder und die Schrecken des Mittelmeers nahebrachte. Während die marinen Staaten von Portugal bis Großbritannien über alle sieben Meere die Erde erobern, zieht es die Deutschen ans Mittelmeer: zur Bildung, zur Erholung, zum Vergnügen. Italien spielte dabei von Anfang an die wichtigste Rolle. Die marinen Landschaften in Venedig, in Ligurien und am Golf von Neapel wurden  zu Quellen vielfältiger künstlerischer Inspiration für Schriftsteller, Maler und Musiker. "Hat man sich nicht ringsum vom Meere umgeben gesehen, so hat man keinen Begriff von Welt und von seinem Verhältnis zur Welt", notiert Goethe 1787 nach seiner viertägigen, turbulenten Seereise von Neapel nach Palermo. Der Weimarer Dichter hat Ostsee oder Nordsee nie gesehen, seine Meer-Erfahrung war ausschließlich mediterran. Und damit war er in seiner Epoche unter den Deutschen keine Ausnahme.

Dass das Meer, in früheren Zeiten eher ein Ort des Schreckens, im 18. Jahrhundert zur großen ästhetischen Erfahrung zahlreicher Reisender wird, hat seinen Grund in der Entstehung einer neuen Auffassung der Natur, die bis heute weiterwirkt. Die einsame, leere Landschaft wird zum Spiegel des Ich, das Meer zum Erfahrungsort von Unendlichkeit, Wagnis und Freiheit. "Meerluft, unentbehrlich für meinen Kopf", schreibt Friedrich Nietzsche 1880 aus Genua nach Deutschland, und er meint damit nicht nur seine physische Gesundheit, sondern versteht das Meer zugleich als Sinnbild eines neuen, unkonventionellen, alle Grenzen sprengenden Denkens. Auch für Komponisten wie Felix Mendelssohn-Bartholdy oder Richard Wagner war das Mittelmeer eine große künstlerische Erfahrung. "Das Meer ist und bleibt doch für mich das Schönste in der Natur. Ich habe es fast noch lieber als den Himmel", schreibt Mendelssohn 1830 aus Neapel an die Familie in Berlin.

Im modernen Tourismus lebt, wie versteckt und reduziert auch immer, die Sehnsucht weiter, in der Begegnung mit dem Meer einen Hauch von Freiheit und Unendlichkeit zu spüren, und das Mittelmeer ist dabei noch immer die erste Option im Reiseverhalten der Deutschen. Dort ist, in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, ein neuer Typus der Urlaubs- und Freizeitgesellschaft entstanden, die man mit den Worten des französischen Soziologen Jean-Didier Urbain als societé de plage, als "Strandgesellschaft" definieren kann. An keinem anderen Ort konzentrieren sich heute die Wünsche nach Freiheit, Glück, einem paradiesischen, unentfremdeten Leben intensiver als am Meer.

V

Mare nostrum nannten es die Römer, "unser Meer", und die Ambivalenz des Begriffs ist unverkennbar. Er könnte die schönste Umschreibung jenes Kosmopolitismus sein, den dieses Meer geradzu erzwingt. Tatsächlich war das besitzanzeigende Fürwort immer auch offen für hegemoniale und imperiale Bestrebungen, etwa während des italienischen Faschismus. Auch die Deutschen hatten in dieser Zeit das "unser" im ideologischen Sinn interpretiert: Die völkische Rassenlehre hatte den Versuch unternommen, die Méditerranée (oder jedenfalls das, was sympathisch an ihr schien) zu germanisieren: Es seien Völker "nordischen Blutes" gewesen, die nach ihrer frühgeschichtlichen Einwanderung in den Mittelmeerraum dort die antiken Hochkulturen begründet hätten. Nach dem deutschen Überfall auf Griechenland 1941, der Beteiligung am Afrikafeldzug und der Besetzung Italiens 1943 wird das Mittelmeer dann "deutsches" Meer im schrecklichsten Sinn; die dort an Zivilisten verübten Bluttaten sind zum Teil bis heute in Deutschland juristisch ungesühnt, ohnehin kaum bekannt. Es ist erstaunlich, wie rasch nach 1945 die Untaten der deutschen Besatzer im Mittelmeerraum nicht nur von den Deutschen selber verdrängt wurden, sondern auch unter den Angehörigen der betroffenen Völker kaum zu Ressentiments gegen die nun in Massen einströmenden deutschen Urlauber geführt haben.

VI

Mare Nostrum: So lautete auch der hoffnungsvolle Name eines 2013 von der zweiten Nach-Berlusconi-Regierung unter Enrico Letta eingerichteten militärischen und humanitären Programms zur "Überwachung und Hilfeleistung auf hoher See" im Kanal von Sizilien. Von Januar bis Ende Mai 2014 haben die beteiligten italienischen Schiffe rund 39.000 Bootsflüchtlinge auf ihrem Weg von Afrika nach Europa gerettet ("Die Zeit" Online 31.5.2014). Und wenn auch die Medien in Deutschland nur bei besonders dramatischen Ereignissen darüber berichten: Jeden Tag, jede Nacht versuchen mehrere Hundert Menschen die Überfahrt von Afrika nach Europa – bis heute. Im Jahr 2017 haben hier 728.000 in Europa Asylantrag gestellt ("Corriere della Sera", 20.6.2018). Und schätzungsweise 25.000 Menschen sind seit 1990 auf der Überfahrt im Mittelmeer ertrunken ("Die Zeit", Nr.42/2013).

Denn das Mittelmeer ist heute auf ganz neue Weise zum Mittler-Meer geworden. Die mediterranen Migrationswege verlaufen nicht mehr von Norden nach Süden, sondern von Süden nach Norden. Und wieder ist es die geomorphologische Besonderheit der Méditerranée, sind es die Meerengen und Inseln, die diese Wanderung begünstigen. Und da für die Emigranten aus dem Süden der Weg nicht auf Lampedusa oder Malta, in Trapani oder Porto Empedocle endet, sondern weiter in den Norden führt, ist das Mittelmeer in besonderer Weise zu "unserem Meer" geworden. Damit bedarf das besitzanzeigende Fürwort einer entschiedenen Definition. Degradieren wir das Mittelmeer zum Burggraben um die Festung Europa (wohl wissend, daß letzten Endes noch kein Burggraben einem klugen und intensiven Ansturm standgehalten hat). Oder verstehen wir die Méditerranée als offenen Raum, als Schleusentor der Hoffnung für Menschen aus dem Süden, die in unserem gemeinsamen Norden das suchen, was doch auch unser Streben ist: Arbeit, Gerechtigkeit, Freiheit und Glück? Dafür brauchen wir eine großherzige Flüchtlings- und Asylpolitik auf der Grundlage der europäischen Menschenrechte und des christlichen Ethos der Barmherzigkeit, beide geboren im euromediterranen Raum. In diesem Sinne könnte die Rede vom Mare nostrum eine große Zukunft haben.


Dieser Artikel erschien zuerst in "Südlink" (das Nord-Süd-Magazin von INKOTA, Netzwerk für Engagierte aus verschiedenen sozialen Bewegungen). Ausgabe 186 "Das Mittelmeer: Zwischen Austausch und Abgrenzung", Dezember 2018

Dieter Richter

Dieter Richter wurde 1938 in Hof/Bayern geboren, studierte Germanistik, Altphilologie und Theologie. Von 1972 bis 2004 lehrte er als Professor für Kritische Literaturgeschichte an der Universität Bremen. Er ist Verfasser zahlreicher kulturwissenschaftlicher Bücher.