https://rotary.de/titelthema/thema-des-monats/das-unwort-des-jahres-a-1199.html
Eine Erwiderung auf das Buch »Kulturinfarkt«

Das Unwort des Jahres?

Olaf Zimmermann18.06.2012

Sachlich unangemessene oder inhumane Formulierungen werden einmal im Jahr von einer unabhängigen Jury zum Unwort des Jahres gewählt. Das Wort „Kulturinfarkt“ ist ein heißer Anwärter für den Titel.
„Der Kulturinfarkt. Von Allem zu viel und überall das Gleiche“, so betitelten Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knüsel und Stephan Opitz ihr im März 2012 erschienenes Buch und präsentierten fünf Therapien gegen den „Kultur-infarkt“. Viele Fragen, die sie in dem Buch gestellt haben, sind richtig und wichtig, ihre Antworten sind aber eher sonderlich. Eine Polemik soll das Buch sein, und wie es sich für eine richtige Polemik gehört, wird ordentlich und vor allem undifferenziert ausgeteilt: In den vergangenen 40 Jahren hätte es eine kulturelle Flutung gegeben, der Kulturbereich sei Dank öffentlicher Förderung bequem und verfettet geworden, der Kulturinfarkt drohe, so die Autoren. Wer das Buch liest, gewinnt eher den Eindruck, die Autoren litten an Bulimie, als dass eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den kulturpolitischen Realitäten erfolgen soll. Alles wird einmal so richtig ausgekotzt.

Polemik gegen die Väter

Wie es sich für eine richtige Polemik gehört, muss als erstes ein Vatermord erfolgen. Hilmar Hoffmann, legendärer Frankfurter Kulturdezernent, der die Debatten zu Beginn der 1970er-Jahre über die erforderliche Öffnung des Kulturbetriebs in der Formel „Kultur für alle“ auf den Punkt brachte, ist der erste, der dran glauben muss. Zunächst wird ihm attestiert, dass „Kultur für alle“ nur ein müder Abklatsch der politischen Forderung nach „Bildung für alle“ sei, und dann wird das gesamte Konzept als gescheitert beurteilt. Das Publikum hat sich, so die Autoren, keineswegs vergrößert, sondern nach wie vor besucht vor allem das Bildungsbürgertum die Kultureinrichtungen. Da dieses aber zahlenmäßig immer mehr schrumpft, wird die Gruppe an Kulturnutzern immer kleiner.

Ich bin fest davon überzeugt, dass das mitnichten der Fall ist. Der Slogan „Kultur für alle“ kann in die allgemeine Bildungsexpansion der 1970er-Jahre eingeordnet werden. Dazu gehören u.a. die Gründung einer Reihe von Universitäten im Ruhrgebiet und anderswo, der vermehrte Zugang von Kindern aus – wie man heute sagt – „bildungsfernen Schichten“ zum Gymnasium, die Expansion der Weiterbildung und vieles mehr. Sicher: So mancher Traum der kühnen Planer hat sich nicht erfüllt; insgesamt ist jedoch festzustellen, dass ein viel größerer Teil der Bevölkerung Zugang zu Bildung und Kultur gefunden hat als es noch in den 1950er- oder 1960er- Jahren der Fall war. Gut ausgebildete Menschen werden gerade heute dringend benötigt, will Deutschland nicht den Anschluss in der zunehmend durch Wissen und Digitalisierung geprägten Welt verlieren.

Und haben sich die Kultureinrichtungen nicht unglaublich gewandelt, wenden Ausstellungsmacher und Verantwortliche in Museen nicht viel Mühe darauf, Ausstellungen so zu präsentieren, dass ganz verschiedene Besuchergruppen mit einem sehr unterschiedlichen Hintergrundwissen Spaß am Besuch der Einrichtung haben? Selbstverständlich gibt es Einrichtungen, die vor sich hindümpeln nach dem Motto: Am besten, mich stört keiner. Doch diese stellen eher die Ausnahme als die Regel dar. Viele Einrichtungen beforschen ihre Besucher, erfragen, was ankommt und was nicht. Sogar Nicht-Nutzer-Befragungen werden in Auftrag gegeben, um zu ergründen, warum Teile der Bevölkerung wegbleiben. In den kulturpolitischen Zeitungen und Zeitschriften finden rege Debatten und Diskussionen zur kulturellen Bildung, zur Kulturvermittlung, zum Publikum, zur Besucherforschung usw. statt. Die Einrichtungen selbst debattieren in den Fachkreisen neue Wege zur Öffnung gegenüber neuen Nutzergruppen. Dies alles zu ignorieren und dem Kulturbereich als Ganzem zu unterstellen, er habe es sich auf dem Sofa der Kulturförderung bequem gemacht und warte nur auf den allfälligen Scheck, der stetig nach dem Gießkannenprinzip verteilten Kulturförderung, ist schlichtweg falsch und zeugt von einer Ignoranz gegenüber den Reflexionen des Kulturbetriebs.

Doch zurück zum Vatermord. Der zweite Vater, der dran glauben musste, ist Theodor W. Adorno. Das Alter der Autoren legt nahe, dass in ihrer Studienzeit die Schriften von Adorno zum Kanon gehören mussten. Die Schriften von Adorno werden von ihnen als eine der Ursachen gesehen, dass sich in Deutschland und in Europa keine der US-amerikanischen vergleichbare Kulturindustrie entwickeln konnte. Haselbach, Klein, Knüsel und Opitz machen nun Schluss mit den Vorurteilen und fordern eine marktorientierte Kulturindustrie, die endlich erkennt, dass Kunst auch Ware ist. Endlich aufgewacht, möchte man den Autoren zurufen. Jeder, der in der Kulturwirtschaft tätig war und ist, weiß, dass Kunst auch Ware ist. Ich selbst habe den größten Teil meines Berufslebens im Kunsthandel gearbeitet und weiß daher aus eigener Anschauung, dass die Kulturwirtschaft auf die Nachfrage der Kunden reagiert. Ebenso klar ist aber auch, dass Nachfrage oftmals erst generiert werden muss. So gehört es zur Kunst eines Galeristen, Menschen etwas zu verkaufen, das sie bislang noch nicht nachgefragt haben. Übrigens: Die Debatte um den Doppelcharakter von Kulturgütern als Kultur- und Wirtschaftsgut ist spätestens seit den GATS-Verhandlungen in Seattle in den 1990er-Jahren in der Kulturpolitik angekommen und hat letztlich zur immerhin schon fünf Jahre alten „UNESCO-Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen“ geführt.

Merkwürdige Sehnsucht nach Lichtgestalten

Neben dem Vatermord herrscht in dem Buch „Der Kulturinfarkt“ eine merkwürdige Sehnsucht nach Lichtgestalten. Es wird beklagt, dass zu viele Entscheidungen in Jurys und in Gremien getroffen werden, statt einer Person autokratisch auf Zeit die Möglichkeit zu geben, Kultur zu gestalten. Die vordemokratischen Attitüden, die immer wieder durchscheinen, stehen in einem merkwürdigen Kontrast zu der immer wieder eingeforderten Nachfrage- und Marktorientierung.

Tragisch ist aber vor allem, dass aus dem offenkundig vorhandenen Bedürfnis, endlich einmal alles sagen zu wollen, was sonst heruntergeschluckt wurde, letztlich ein inkonsistenter, unverdaulicher Brei voller Widersprüche herausgekommen ist. Das ist schade, denn viele einzelne Aussagen sind durchaus richtig, wenn auch keineswegs neu. Dass beispielsweise das Zuwendungsrecht ein Hemmnis für die Entwicklung sowohl des Kulturbereiches als auch der öffentlich-geförderten Institutionen der Zivilgesellschaft ist, ist ein alter Hut. Zwei Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages haben hierzu entsprechende Änderungsvorschläge vorgebracht, die leider bislang ungehört verhallt sind.

Schade ist ebenfalls, dass die eigentlichen Diskurse, die in der Kulturpolitik gegenwärtig geführt werden, kaum angesprochen werden. Fragen danach, wie nämlich mit der Herausforderung der Digitalisierung umgegangen werden soll, und wie in einer älter werdenden Gesellschaft mit einer schrumpfenden Bevölkerung und einem prozentual höheren Bevölkerungsanteil von Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte die kulturelle Infrastruktur aussehen muss. Beide Herausforderungen werden innerhalb und außerhalb des Kulturbetriebs heftig und teils äußerst kontrovers diskutiert. Insbesondere zwischen der sogenannten Netzpolitik und der Kulturpolitik findet aktuell ein Generationenkonflikt statt. Und das ist auch gut so. Jede Generation muss ihren Platz in den kulturpolitischen Debatten finden und behaupten.
Polemiken, wie Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knüsel und Stephan Opitz sie in ihrem Buch präsentiert haben, helfen bei diesen teils existentiellen Debatten aber nicht weiter. Der Umbau des Kulturbereiches findet schon seit vielen Jahren in Deutschland statt; es ist eine Tragik für die Autoren, dass sie diese Entwicklungen nicht wahrnehmen wollen.

Es steht zu befürchten, dass die steilen Thesen der Autoren nicht folgenlos bleiben. Der Vorschlag, die Zahl der Kultureinrichtungen auf die Hälfte zu reduzieren, wird von Haushaltspolitikern, jetzt vermeintlich wissenschaftlich sanktioniert, wohl in Zukunft öfter zu hören sein. Der nachgeschobene Halbsatz der Autoren, dass die freiwerdenden Mittel den verbleibenden Einrichtungen und neuen Förderschwerpunkten zu Gute kommen sollten, wird aber, so ist zu befürchten, keinen Widerhall finden. Er ist, ehrlich gesagt, auch naiv. Das Wort „Kulturinfarkt“ entwickelt sich gerade zum geflügelten Wort für alle, die Kulturabbau betreiben wollen. Weil der Begriff sachlich vollkommen unangemessen ist, habe ich ihn für das Unwort des Jahres vorgeschlagen.