Titelthema
Beim Zeus!
Die griechische Mythologie erzählt von einer frühen Verehrung der Biene. Von Nektar, Ambrosia und berauschender Süße
Beim Stichwort „Honigbienen“ fallen dem Verbraucher die Erzeugnisse Honig und Wachs ein. Der Landwirt denkt an die Dienstleistung „Nutzpflanzenbestäubung“. Dem Naturkundler gelten Bienenvölker als Superorganismen, perfekt organisiert in einer hocheffizienten, arbeitsteiligen Gesellschaft, ausgestattet mit einer komplexen Kommunikation, einem erstaunlichen Orientierungsvermögen und unvermuteter Lernfähigkeit. Ein Insekt mit einem Gehirn, das kleiner ist als ein Stecknadelkopf, erkennt und unterscheidet im Detail visuelle Muster, eignet sich bei nur wenigen Orientierungsflügen eine innere Landkarte an, löst sogar einfache mathematische Aufgaben und kann darauf trainiert werden, Drogen oder Sprengstoff zu finden. Honigbienen gelten heute als die am besten erforschten Tiere mit einer abendländischen Wissenschaftsgeschichte von mehr als 2000 Jahren. Je mehr wir über diese sozialen Insekten wissen, desto faszinierender werden sie.
Doch neben wissenschaftlichen Erkenntnissen, Pflanzenbestäubung, Kerzenschein und Honigbrötchen verdanken wir den Insekten auch einen üppigen kulturellen Schatz. In der Philosophie gibt es eine lange Tradition, die Gesellschaft der Bienen mit menschlichen Staaten und Gruppen zu vergleichen. Ihr Fleiß, ihre sozialen Eigenschaften und ihre Anpassungsfähigkeit werden seit je in der Moralphilosophie und in politischen Theorien als beispielhaft gelobt. Der amerikanische Bienenforscher Thomas Seeley glaubt sogar, „Bienendemokratie“ im Verhalten der Insekten feststellen zu können.
In der Mythologie der Völker haben diese Insekten markante Spuren hinterlassen, die eine tiefe Verehrung dokumentieren. Bei den germanischen Stämmen des Nordens führten die „Sigewif“ in Gestalt von Bienen gefallene Krieger nach Walhalla. In den Schöpfungsmythen des alten Ägyptens galten Bienen als die Tränen des Sonnengottes Ra und wurden zum Symboltier der Pharaos. Die Römer widmeten den Bienen sogar eine eigene Göttin, Mellonia. Noch der Franzosenkaiser Napoleon I. erhob Bienen in Erinnerung an den Merowingerkönig Childerich zu seinem Wappentier, um symbolisch den Sieg der französischen Revolution über die verhassten Bourbonen zu feiern – Bienen statt Lilien.
Zum Dank die Gestalt einer Biene
Besonders viele Belege für die Verehrung der Bienen finden sich in der griechischen Mythologie. Zeus wäre ohne die Honigbienen vermutlich verhungert, als seine Mutter Rhea den Titanensprössling vor seinem Vater Kronos in einer Höhle versteckte, wo ihn mitleidige Bienen ernährten. Der neugeborene Zeus stand unter dem Schutz des kretischen Königs Melisseos. Sein Name ist ein deutlicher Hinweis auf die Honigbienen. Melisseos heißt wörtlich übersetzt „Mann der Bienen“, wenn man so will, also der erste Imker in der griechischen Mythologie. Sein Rang in der Götterwelt Griechenlands war der eines „Dämons“. Für die alten Griechen bedeutete das so viel wie „Naturgeist“ oder „Schutzgeist“. Die heutige negative Konnotation des Wortes stammt aus der Zeit der frühchristlichen Verteufelung der Vielgötterei.
Die Töchter des Melisseos, die Nymphen Amanthea und Melissa, waren die Ammen des Zeus. Die Namen der beiden Prinzessinnen heißen wörtlich übersetzt „die Ziege“ und „die Biene“. Kronos, der dem neugeborenen Zeus nach dem Leben trachtete, verwandelte Melissa zur Strafe für ihre Hilfe in einen Wurm. Erst als Zeus seinen Vater entmachtet hatte, gab er seiner Lebensretterin aus Dankbarkeit die Gestalt einer Biene.
Honig war nicht nur die Babynahrung des Göttervaters. Nektar war das Lieblingsgetränk der Olympier. Auch das unsterblich machende Ambrosia lässt sich mit dem Honig der Bienen in Verbindung bringen. Das olympische Superfood war einem griechischen Dichter zufolge „neunmal süßer als Honig“.
Wir Menschen verdanken der Nymphe Melissa und ihrem Honig wichtige Kultivierungsschritte. Der Sage nach schenkte sie uns ein Getränk aus Honig und Wasser, das Männer kultivierte und friedlich machte. Indem sie uns den süßen Honig des Waldes als Alternativkost zugänglich gemacht hat, hat sie uns auch vom Kannibalismus befreit.
Für die Entstehung der Imkerei gibt es ebenfalls eine mythologische Erklärung: Melissa unterwies Aristaeus, den griechischen Gott der Landbevölkerung, in der Kunst der Bienenhaltung, damit er seine Kenntnisse dann an die Bauern weitergebe.
Auch bei anderen griechischen Göttern lässt sich eine Verbindung zu den Bienen nachweisen. Die jungfräulichen Priesterinnen der Göttinnen Artemis, Demeter und Aphrodite hießen Melissae. Die Hohe Priesterin des Orakels von Delphi, Sprachrohr von Gaia und Apoll, wurde „Delphische Biene“ genannt. Die prophetischen Gaben der Tempeldienerinnen bringt man in Zusammenhang mit dem Pontischen Honig. Das ist ein halluzinogener Honig, der entsteht, wenn die Bienen zu viel vom Nektar des Pontischen Rhododendrons eingetragen haben.
Die Reinkarnationslehre des Platon
In den Jenseitskonzepten der antiken Griechen nimmt die Biene eine Schlüsselstellung ein. Neben der von Homer inspirierten Vorstellung, wonach Bösewichter nach ihrem Ableben auf ewig in den Tartaros verbannt werden, während die guten Seelen für immer in Elysium, der Insel der Glückseligkeit, verweilen dürfen, gab es die Idee von der Reinkarnation der Seele.
Bienen galten als Mittlerinnen zwischen dem Göttlichen und dem Irdischen. Noch im dritten Jahrhundert nach Christus erzählt der Philosoph Porphyrios, dass die Göttin Demeter die von ihr erschaffenen seelenlosen irdischen Körper mit der Hilfe von Bienen animiert. In der Vorstellung des Griechen steigen die Seelen nach dem Tod eines Lebewesens als Bienen in den Olymp auf, um später in neuen Schöpfungen wieder als Lebensgeister Verwendung zu finden.
In der 700 Jahre älteren Reinkarnationslehre Platons finden die Bienen ebenfalls Erwähnung. Für den Lieblingsschüler des Sokrates steht der Philosoph, der nach Einsicht und Vollkommenheit strebt, auf der höchsten körperlichen Inkarnationsstufe. Nur er darf auf Erlösung vom körperlichen Dasein hoffen. Menschen mit rein körperlichen Begierden wie zum Beispiel Säufer oder Schlemmer werden dagegen als Esel wiedergeboren, Kriminelle aller Art als Wölfe, Falken oder Geier. Tugendhafte Personen ohne ein Faible für die Philosophie werden dagegen in ihrem nächsten Leben zu Bienen. Ob das jetzt ein Abstieg oder ein Aufstieg auf der Reinkarnationsleiter ist, lässt Platon offen. Wenn man allerdings bedenkt, dass Frauen für den Philosophen die körperliche Wiedergeburt feiger oder unredlicher Männer sind, siedelt Platon die Biene offensichtlich auf einer höheren Inkarnationsstufe an als die weibliche Hälfte der Menschheit.
Wie Platon zu einer solchen Wertung gekommen ist, lässt sich aus heutiger Sicht nicht mehr klären. Aber lassen wir trotz so viel offenkundiger Frauenfeindlichkeit Milde walten: De mortuis nihil nisi bene – sage nichts Schlechtes über die Toten.
Marzellus Boos ist Lehrer im Ruhestand, Hobbyimker, Bienen-Blogger, Autor zu den Themen Bienen und Natur und schreibt eigene Geschichten. Er lebt in der Eifel.
mellonia.de