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Zukunft in trister Gegenwart: Am Brüsseler Werk warten Audi-E-Trons auf ihre Auslieferung. © Olivier Matthys/Bloomberg/Getty Images

Soll es wieder vorwärtsgehen in Deutschlands Automobilindustrie, braucht es keinen Sparkurs, sondern Mut zu Innovationen und Investitionen.

Willi Diez01.09.2020

Wir haben es mit der bislang schwersten Krise der Autoindustrie seit Beginn der Bundesrepublik zu tun“, erklärte die Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) Hildegard Müller auf ihrer Halbjahrespressekonferenz Anfang Juli dieses Jahres. Wenn die Lageeinschätzung der obersten Chefin des vielleicht mächtigsten deutschen Branchenverbandes derart in Moll gestimmt ist, lässt das aufhorchen. Die Vorzeigebranche der deutschen Wirtschaft mit dem Rücken zur Wand?

Im Grunde durchlebt und durchleidet die Autobranche nicht eine, sondern mittlerweile gleich drei Krisen: die Coronakrise, die Konjunkturkrise und die Technologiekrise. Für die beiden ersten Krisen, die natürlich eng miteinander zusammenhängen, kann kein Hersteller etwas. Anders sieht es bei der Technologiekrise aus: Da werden mittlerweile Defizite sichtbar, die zu ernsthafter Sorge um den Automobilstandort Deutschland Anlass geben. Wenn das Börsengewicht von einem Unternehmen wie Tesla ein Vielfaches von dem ist, was die deutschen Automobilhersteller alle zusammen auf die Waage bringen, dann ist das nicht einfach ein Misstrauensvotum überdrehter Börsianer, sondern ein Zeichen dafür, wie wenig der deutschen Automobilindustrie in Sachen Transformation zugetraut wird. An der Börse wird bekanntlich die Zukunft gehandelt: Ist die deutsche Automobilindustrie – so muss man daher fragen – tatsächlich so schwach, wie es die aktuellen Börsenkurse ausdrücken?

Gefährliche Wette auf die Zukunft

Dass die deutschen Automobilhersteller die Dynamik in Richtung Elektromobilität unterschätzt haben, ist bekannt. VW hat den Hebel am konsequentesten umgelegt und setzt nun voll auf die batterieelektrische Mobilität. Aber es ist wie bei einem Schnellboot und dem großen Tanker: Tesla ist das Schnellboot, den Kurs eines großen Tankers zu verändern, erfordert Zeit. So kommen die dringend benötigten Elektroautos erst allmählich auf den Markt, und dann läuft auch mancher Produktanlauf nicht wie geplant.

Vor allem die deutschen Premiumhersteller setzen auf Plug-in-Hybride, also Fahrzeuge, die über 50 bis 60 Kilometer rein elektrisch fahren und an einer Stromtankstelle betankt werden können, ansonsten aber mit einem Verbrennungsmotor unterwegs sind. Plug-in-Hybride sind eine gefährliche Wette auf die Zukunft: Sie bringen nämlich auf den Prüfständen auch für schwere und leistungsstarke Fahrzeuge sensationell niedrige Verbrauchs- und CO2-Werte. Was aber, wenn der Käufer eines solchen Fahrzeugs überwiegend auf Langstrecken unterwegs ist? Und was ist, wenn jemand die Kaufprämie und Steuervergünstigung für seinen als E-Auto deklarierten Hybrid mitnimmt, dann aber aus Bequemlichkeit nicht an der Steckdose tankt, sondern ausschließlich mit dem Verbrenner fährt?

Die Gefahr, dass hier ein neuer Konflikt um Test- und Realwerte aufbricht, ist groß. Denn mittlerweile werden ja auch die Emissionen im Realbetrieb gemessen, und das könnte für die Plug-in-Technologie schon bald zum Problem werden. Bereits heute beklagen sich nicht wenige Käufer über die Differenz zwischen dem tatsächlichen und dem von den Herstellern angegebenen Verbrauch. Wenn die Plug-in-Technologie in Misskredit geraten sollte, dann wird es für die deutschen Hersteller in Sachen CO2-Minimierung eng – sehr eng. 

Auch bei einem anderen strategischen Thema tut sich die deutsche Automobilindustrie schwer: dem autonomen Fahren. Galt sie und speziell die Marke Daimler noch Anfang des letzten Jahrzehnts in diesem Bereich als technologisch führend, so sind sie mittlerweile von den großen amerikanischen IT-Konzernen auf die Plätze verwiesen worden. Das ist nicht ganz überraschend, denn beim automatisierten Fahren spielt nicht die Hardware, sondern die Software eine Schlüsselrolle.

Daimlers Partnerschaft mit Nvidia

Daimler hat sich nun in eine sehr weitreichende Allianz mit dem amerikanischen Spezialisten für Grafikprozessoren, Nvidia, begeben. Muss man das als eine Kapitulation im Hinblick auf die Software-Entwicklung für autonome Fahrzeuge interpretieren? Fakt ist, dass Nvidia eine ausgesprochen innovative und spannende Technologie hat, wie Autos intelligenter und damit auch automatisierter Fahren können. Das Konzept erlaubt es auch, die Software über den gesamten Lebenszyklus des Autos  Over the Air“ zu aktualisieren und zu optimieren. Darin liegt zweifellos die Chance, einen Wettbewerbsvorsprung zu erreichen. Andererseits bedeutet aber die Übernahme der Software-Architektur von Nvidia, dass man sich in die Abhängigkeit von einem IT-Konzern begibt, der bekanntlich auch für andere Automobilhersteller arbeitet. In einem strategisch so wichtigen Technologiebereich ist das nicht unproblematisch.

Viel kurzfristiger und drängender sind die Probleme in der Automobilzulieferindustrie, insbesondere den vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen der Branche. Anders als die großen, global agierenden Hersteller sind diese Unternehmen davon abhängig, was in Deutschland und Europa passiert. So konnten die Automobilhersteller nach dem Ausbruch der Pandemie schon bald wieder in China Umsätze und damit Liquidität generieren. Viele Automobilzulieferer konnten das nicht. Es trifft sie besonders hart, weil der europäische Markt mit einem Minus von fast 40 Prozent im ersten Halbjahr 2020 am stärksten zurückgegangen ist.

Es ist wie bei der Pandemie selbst: Wer vorher schon krank war, den trifft es als Erstes und am härtesten. Viele Zulieferer kämpfen mittlerweile trotz staatlicher Hilfen um ihre Existenz. Es ist daher davon auszugehen, dass wir im Laufe der nächsten zwei Jahre eine Insolvenz- und Übernahmewelle in der deutschen Zulieferindustrie sehen werden. Jetzt, wo der Technologiewandel auch bei den deutschen Herstellern an Fahrt aufnimmt, wird der Zwang zur Anpassung und Neuausrichtung noch drängender, als er es schon vor Corona war. Viele Unternehmen werden diesen Belastungen nicht gewachsen sein, zumal es ja nicht allein darum geht, die Liquidität zu sichern, sondern auch drum, die Unternehmen zukunftsfähig zu machen. Kosten zu senken und gleichzeitig zu investieren ist ein Spagat, den viele Zulieferer nicht schaffen werden.

Wie geht es weiter?

Zunächst einmal hängt natürlich auch in der Automobilindustrie viel davon ab, ob es eine „zweite Welle“ des Virus gibt oder nicht. Kann ein nochmaliger Ausbruch der Pandemie vermieden werden, sind die konjunkturellen Aussichten gar nicht so schlecht. Denn wenn die Konsumneigung der Verbraucher steigt und die Investitionsbereitschaft der Unternehmen wieder nach oben geht, dann ist die Automobilindustrie meist unter den Gewinnern eines allgemeinen konjunkturellen Aufschwungs. Das werden zuerst die Automobilhersteller, dann auch die Zulieferer spüren.

Doch selbst wenn diese optimistische Annahme zum Verlauf der Pandemie eintritt, ist das noch keine Voraussetzung für einen ungetrübten Aufschwung. Sollte im Vorfeld des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfes der Handelsstreit zwischen den USA und China wieder aufflammen, wäre das Gift für die Autokonjunktur im Allgemeinen und für die deutsche Automobilindustrie im Besonderen. Kaum eine andere Branche ist so abhängig von guten trilateralen Beziehungen zwischen Europa, den USA und China.

Nicht zuletzt müssen aber die deutschen Automobilhersteller selbst ihre Hausaufgaben machen. Der jetzt eingeschlagene Weg, die Kosten zu senken, ist richtig, weil alternativlos. Aber Kostensenkung ist noch keine Strategie. Es ist notwendig, die Elektrifizierung schnell voranzubringen und mit einem Feuerwerk an neuen, innovativen Modellen die starke Marktposition im Premiumsegment zu verteidigen.

Wasserstoff und Brennstoffzelle bleiben aus technischer Sicht eine Option. Aber aufgrund des zeitlichen Drucks, die CO2-Grenzwerte zu reduzieren, geht es – man mag das bedauern – nicht mehr um die beste, sondern um die schnellste Lösung. Und die ist, angesichts der mangelnden Infrastruktur für Wasserstoff, ganz ohne Zweifel der batterieelektrische Antrieb. Bei Lkw stellt sich die Situation anders dar und deshalb müssen die Nutzfahrzeughersteller hier ihre Anstrengungen in Sachen Brennstoffzelle verstärken. Der amerikanische Hersteller Nikola, der ganz auf Wasserstoff setzt, könnte sonst sehr schnell zu dem werden, was Tesla heute im Pkw-Markt ist: Innovationsführer und ein unangenehmer Wettbewerber.

Vorsichtiger Optimismus ist erlaubt

Die deutschen Automobilhersteller haben in der Vergangenheit schon oft bewiesen, dass sie aus einer schwierigen Lage wieder auf den Erfolgspfad zurückkommen können. Fundamental gibt es keinen Grund, daran zu zweifeln, dass ihnen das auch dieses Mal gelingen wird. Aber noch nie waren die Märkte und das politische Umfeld so schwierig wie heute, um eine technische und wirtschaftliche Transformation zu schaffen.

Auf der Halbjahrespressekonferenz hat VDA-Präsidentin Müller zur Frage, wie schnell es wieder aufwärtsgehen wird, eine klare Aussage getroffen: Der Weg aus der großen Krise werde „lang und steinig“. Dem wird man wohl auch als notorischer Optimist, wie es der Verfasser einer ist, zustimmen müssen.