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Wirtschaft

Das Auto wird künftig Büro und Lounge sein

Die Digitalisierung verändert die gesamte Fahrzeugbranche voraussichtlich stärker als ein Wandel in der Antriebstechnik

Willi Diez31.10.2015

Was ist los in der Automobilindustrie? Gerade eben erst ging die Internationale Automobilausstellung (IAA) in Frankfurt mit deutlich gestiegenen Besucherzahlen zu Ende, was zeigt, dass das Auto noch immer seine Fans hat. Und dann das: VW-Abgasskandal und eine heftige Diskussion über den Diesel-Motor und unrealistische Prüfzyklen. Die Automobilindustrie plötzlich nicht mehr auf dem Thron, sondern auf der Anklagebank! Um in der Gemengelage von Nachrichten, Thesen und Spekulationen den Überblick zu behalten empfiehlt sich wie immer ein Blick auf die Fakten.


Fakt Nummer 1: Ja, es wurde betrogen und das auf eine ebenso perfide wie naive Weise. Denn wer konnte glauben, dass der Trick mit manipulierter Software auf Dauer unentdeckt bleiben würde? Wer die amerikanischen Umweltbehörden kennt, der weiß, dass dort Hardliner sitzen, die den Diesel-Motor noch nie geliebt haben und wahrscheinlich auch nie lieben werden. Der Schaden ist immens – nicht nur für VW. Denn in einer Art von Sippenhaft sind nun auch die anderen Automobilhersteller auf der Anklagebank wegen angeblich falscher (nicht gefälschter) Emissionswerte.


Damit sind wir bei Fakt Nummer 2: Die Verbrauchs- und Emissionswerte werden anhand von Testzyklen ermittelt, um damit eine Vergleichbarkeit zwischen den verschiedenen Fabrikaten und Modellen herzustellen. Das Problem ist: Diese Testzyklen entsprechen nicht der Realität. Sie werden auch nie der Realität entsprechen, denn jeder fährt anders Auto und dementsprechend werden seine individuellen Verbrauchs- und Emissionswerte immer von denen eines standardisierten Testzyklus abweichen. Die Tatsache, dass dies so ist und immer so sein wird, darf jedoch nicht davon abhalten, diese Testzyklen realitätsnäher zu gestalten und auch direkt Messungen „im Feld“ durchzuführen. Hier müssen Politiker und Automobilmanager schnell handeln, wenn man wieder glaubwürdig werden will.


Diesel hilft gegen den Klimawandel
Fakt Nummer 3: Der Diesel-Motor ist in der Summe seiner Eigenschaften aus Wirtschaftlichkeit, Langlebigkeit und auch Umweltverträglichkeit eine weiterhin hoch attraktive Antriebsquelle. Der Verbrauchsvorteil und damit die niedrigeren CO2-Emissionen des Diesels sind unbestritten. Wer es mit dem Kampf gegen den Klimawandel ernst meint, kann den Diesel nicht verdammen. Der Diesel ist aber auch sauber – vorausgesetzt man setzt die verfügbaren Nachbehandlungstechnologien konsequent ein. Die aber kosten Geld. Deshalb wird der Dieselmotor für Kleinwagen immer weniger attraktiv und wird dort auch keine Zukunft haben. Bei größeren und hubraumstärkeren Fahrzeuge wird der Diesel jedoch auch künftig eine wichtige Rolle spielen – zumindest so lange bis der Elektroantrieb jenen Grad an Alltagstauglichkeit erreicht, dass er für Otto-Normalverbraucher erschwinglich und von den Reichweiten her akzeptabel sein wird.


Die Wellen um den VW-Skandal schlagen im Augenblick so hoch, dass die anderen großen Herausforderungen und vor allem auch Chancen in der Automobilindustrie überdeckt werden. Da ist vor allem das große Thema der Digitalisierung und des autonomen Fahrens. Das wird die Branche möglicherweise mehr verändern als die Veränderungen im Bereich der Antriebstechnik. Denn das autonome Fahren wird die Art und Weise, wie wir das Auto nutzen, revolutionieren. Künftig wird das Auto immer weniger eine Fahrmaschine sein, sondern Büro, Wohnraum und Lounge sein. Das autonome Auto verbindet den Vorteil der Bahn, dass man sich während der Fahrt mit anderen Dingen beschäftigen kann, mit dem Vorteil der Individualität und Privacy, wie sie kein öffentliches Verkehrsmittel bieten kann.


Welche Rolle im Zeitalter des autonomen Fahrens dann noch Fahrleistungen und Fahrverhalten eines Autos beim Kauf spielen werden, ist eine Frage, mit der sich die Automobilhersteller sehr intensiv auseinandersetzen müssen. Denn möglicherweise verschieben sich die Kernkompetenzen, die heute noch beim Motor, Antriebsstrang und Fahrwerk angesiedelt sind, auf ganz neue Felder: die Gestaltung des Interieurs, die Vernetzung der Fahrzeuge und deren Ausstattung mit Infotainment-Systemen. Dass sich daher mittlerweile auch Unternehmen wie Apple und Google für die vermeintlich altmodische Automobil­branche interessieren, verwundert vor diesem Hintergrund nicht und sollte im Hinblick auf die Zukunft des Autos doch eher optimistisch als pessimistisch stimmen.


Letztlich gilt grönemeyers strophe
Wird VW diese Zukunft noch erleben? Ja, ganz sicher. Im August versandt der ADAC eine Mitteilung mit dem Hinweis, dass er mittlerweile mehr als 19 Millionen Mitglieder habe und damit einen neuen Rekord aufweise – und das kaum zwölf Monate nach dem ADAC-Skandal, den viele schon für das Ende dieses Automobilclubs hielten. Wenn VW den Skandal konsequent aufarbeitet und großzügige Kulanzregelungen  einräumt, wird die Marke das Vertrauen wieder herstellen können, das sie über viele Jahrzehnte genossen hat. Dass es dabei auch um viel Geld gehen wird, ist allerdings ebenso klar. Aber letztlich gilt auch hier die schöne Strophe aus Herbert Grönemeyers Song „Mensch“: „Der Mensch heißt Mensch, weil er vergisst“.