Titelthema
Das Ende der goldenen Dekade
Die deutsche Wirtschaft muss sich neu ausrichten. Das deutsche „Exportwundermodell“ war abhängig vom billigen russischen Gas und vom Handel mit China.
Das Jahrzehnt nach der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise von 2009 war für die deutsche Volkswirtschaft eine „goldene Dekade“. Die Erholung aus dem tiefen Produktionseinbruch vollzog sich schnell und stetig, das deutsche Geschäftsmodell – industriebasiert, dienstleistungsergänzt, regional balanciert, global integriert – erwies sich als erfolgreich. Die Belastungen durch die Staatsschuldenkrise in der Europäischen Währungsunion im Jahr 2015 und die Folgen der Fluchtkrise waren vergleichsweise gut verkraftbar. Die Beschäftigung erhöhte sich kontinuierlich, sodass vor dem Ausbruch der Pandemie 2020 die Erwerbsbeteiligung der Menschen im Alter von 20 bis 64 Jahren bei 80 Prozent lag, die Arbeitslosigkeit deutlich reduziert und selbst die Langzeitarbeitslosigkeit spürbar verringert worden war. Auf dieser Basis konnten der Staatshaushalt ausgeglichen und ab 2012 Überschüsse erwirtschaftet werden.
Unterstützt wurde diese Entwicklung durch einen makroökonomischen Politikmix, der weitgehend konfliktfrei war. Da die Lohnpolitik sich überwiegend beschäftigungsorientiert verhielt, führte der fortlaufende Rückgang der Arbeitslosenrate nicht zu einem Anstieg der Lohnstückkosten und einem Inflationsantrieb. Die Geldpolitik erlebte von daher keine Einschränkung und konnte so – vor allem ab Anfang 2015 – ihrem expansiven Kurs mit unkonventionellen Maßnahmen ungestört folgen. Zudem baute die Finanzpolitik ihrerseits durch den Rückgang der Schuldenstandquote von 80 Prozent nach der Krise auf knapp unter 60 Prozent im Jahr 2019 keinen inflationären Druck auf. Die niedrigen geldpolitischen Zinsen waren für die Europäische Zentralbank auch deshalb vertretbar.
Wie der Welthandel an Fahrt verlor
Diese Dekade fand mit dem Ausbruch der Coronapandemie und der im Frühjahr 2020 nahezu weltweit als notwendig erachteten Stillstandsökonomie ein abruptes Ende. Das Stilllegen ganzer Produktionseinrichtungen, das Unterbrechen von Logistiksystemen, der Lockdown des öffentlichen Raums, das Schließen von Grenzen – all das waren gänzlich neue Erfahrungen. Im weiteren Verlauf der Pandemie wurde immer deutlicher, dass zwar ein zügiges Herunterfahren der Volkswirtschaften gelingen kann, nicht aber im Gegenzug ein konsistentes und spannungsfreies Wiederhochfahren aller Wertschöpfungszusammenhänge. Die Globalisierung der Lieferketten und der damit verbundene kräftige Anstieg des Handels mit Vorprodukten seit über 30 Jahren haben die offenen Volkswirtschaften netzwerkartig miteinander verbunden. Das erwies sich nun als besondere Herausforderung, sodass trotz wirtschaftlicher Erholung ab dem dritten Quartal 2020 angebotsseitige Störungen anhielten und zu Teuerungseffekten führten.
Dabei sollte nicht übersehen werden: Bereits in der zweiten Hälfte der goldenen Dekade war das deutsche exportorientierte Geschäftsmodell unter Druck geraten. So zeigte die Globalisierung zunehmende Erschöpfungserscheinungen. Während der Welthandel lange Jahre nach 1990 jährlich stärker expandierte als die Weltproduktion, war dies seit 2012 nicht mehr der Fall; ein Fortschritt bei der Vertiefung der grenzüberschreitenden Arbeitsteilung konnte nicht mehr verzeichnet werden. Die Anzahl der Volkswirtschaften mit einem besonders dynamischen Wachstum nahm in der gleichen Zeit ab. Vor allem aber zeigten sich die politischen Reflexe einer zunehmenden Kritik an der wirtschaftlichen Globalisierung: Das Brexit-Votum der Briten und die Wahl von Donald Trump im Jahr 2016 waren dafür Symptome, aber auch Verstärker. Der Systemwettbewerb des transatlantischen Westens mit dem staatskapitalistischen China verschärfte sich gleichzeitig zur „Great Power Competition“.
Dann kam der russische Angriffskrieg
Das und die Herausforderungen im Strukturwandel zur klimaneutralen Produktion hatten dazu geführt, dass bereits im Jahr 2019 die Industrie in eine rezessive Entwicklung geraten war, die durch die stabile Bauwirtschaft und den dynamischen Konsum überdeckt wurde, sodass die öffentliche und mediale Wahrnehmung darauf nicht reagierte. Tatsächlich verhießen dann die Prognosen für das Jahr 2022 Hoffnung, die eine dynamische Konjunktur mit einem Zuwachs des Bruttoinlandsproduktes um vier Prozent und eine Dämpfung der Inflationsrate auf 2,3 Prozent vorhersagten. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat der kurzfristigen Prognose ebenso wie den mittelfristigen Aussichten für die deutsche Volkswirtschaft die Basis entzogen.
Zusätzlich zu den Unsicherheiten über die weitere Entwicklung der Weltwirtschaft und den Megatrends im Strukturwandel sind durch den Krieg die energetischen Grundlagen des deutschen Geschäftsmodells in Zweifel gezogen worden. Zugleich müssen volkswirtschaftlich mehr Ressourcen für Verteidigung und unternehmerische Sicherheit (Cybersecurity) aufgewendet werden, und zwar nachhaltig. Die Institutionen der globalen Ordnung – ob im Bereich des Völkerrechts (Vereinte Nationen), im Bereich der Währungsordnung (Zerklüftung der Währungsfonds) oder im Bereich der Handelsordnung (Welthandelsorganisation) – sind seit geraumer Zeit geschwächt. Und zu alledem hat die russische Aggression die Frage aufgeworfen, inwieweit China ein dauerhaft verlässlicher Partner ist. Dabei fordern die USA, ohne deren militärische Präsenz Europa absehbar seine eigene Sicherheit nicht gewährleisten kann, unverhohlen eine Abkopplung von China.
Die neue Forderung nach Reziprozität
In dieser Kulisse scheint das deutsche volkswirtschaftliche Geschäftsmodell – industriebasiert, dienstleistungsergänzt, regional balanciert, global integriert – unterzugehen, indem seine Wettbewerbsfähigkeit fundamental gefährdet wird. Zentrale Bedingungen seines Erfolgs drohen zu erodieren: offene Märkte und Investitionssicherheit, multilaterale und regelbasierte Ordnung, wettbewerbsfähige und sichere Energieversorgung. Hinzu kommen als heimische, das heißt selbst zu gestaltende Herausforderungen die technologische Offenheit im transformativen Strukturwandel sowie die demografische Alterung und der Arbeitskräftemangel. Die deutsche Wirtschaft war bisher einer der großen Globalisierungsgewinner und dabei mit der chinesischen Volkswirtschaft in besonders intensiver Weise verwoben.
In jedem Fall macht dies eine Klärung erforderlich, was außenwirtschaftliche Abhängigkeit meint und welche Perspektiven für die deutsche Wirtschaft neu zu formulieren sind. Ökonomisch muss man zwischen der einzelwirtschaftlichen und der volkswirtschaftlichen Abhängigkeit unterscheiden. Unternehmen gestalten ihre Lieferketten sowie die Beschaffung von Rohstoffen und Vorprodukten nach betriebswirtschaftlicher Abwägung der Kosten und Risiken. Die Verlässlichkeit der Lieferbeziehungen hängt von den vertraglichen Bedingungen ab, die das Unternehmen aufgrund der Marktsituation und seiner Verhandlungsmacht erzielen kann. Gleichermaßen sind Auslandsinvestitionen zu würdigen, vor allem mit Blick auf den Investitionsschutz vor Ort.
Im volkswirtschaftlichen Aggregat bündeln sich die Kalküle der Unternehmen. Darin spiegeln sich die politischen Rahmenbedingungen, die sich aus Freihandels- und Investitionsabkommen, ebenso aus spezifischen Absicherungsangeboten für Auslandsinvestitionen ergeben. Das gesamte Netz der globalen Lieferketten einer Volkswirtschaft ist aber nicht nur Ausdruck der betriebswirtschaftlichen Optimierung, sondern der Spezialisierungsvorteile der beteiligten Ökonomien, der jeweiligen Standortbedingungen und der Regeln der internationalen Ordnung. Mit dem Beitritt Chinas zur Welt han delsorga ni sa tion im Jahr 2001 haben sich die Bedingungen verändert, und die Unternehmen haben reagiert. China hat damit nicht nur als Absatzmarkt und Rohstofflieferant massiv an Bedeutung gewonnen, sondern ebenso als Investitionsstandort.
Diese wachsende Bedeutung Chinas ist politisch mit einer Akzentverschiebung beantwortet worden: von der Forderung nach vergleichbaren Bedingungen für Unternehmen hin zur Forderung der Reziprozität der Möglichkeiten. Dennoch bleibt jede betriebswirtschaftliche Entscheidung ein unternehmerisches Risiko, nur so wird das Kapital sorgsam eingesetzt, indem bei der Beschaffung und der Standortwahl diversifiziert wird sowie Klumpenrisiken vermieden werden. Eine außenwirtschaftliche Abhängigkeit kann aus den unternehmerischen Positionen dann resultieren, wenn es politisch so bewertet wird. Vor allem führen die politische Ächtung eines Landes und die Etablierung eines Sanktionsmechanismus dazu; das ist der Fall Russland. Nun wird von den Unternehmen auch in China erwartet, dass sie Standorte meiden oder schließen, deren Bedingungen nicht unseren Vorstellungen entsprechen.
Menschenrechtsverstöße deutlich ansprechen
Unternehmen sind für ihre Ergebnisse ebenso verantwortlich wie für ihre Reputation – Kunden, Mitarbeiter und Anteilseigner sind dafür die wesentlichen Akteure. Die Politik muss den Mut aufbringen, Menschenrechtsverstöße direkt und deutlich auch dort zu adressieren, wo es politisch heikel sein mag. Unternehmensstrategien sind kein Ersatz für eine mutige Außenwirtschaftspolitik. Wandel durch Handel mag vielfach gescheitert sein, Wandel ohne Handel ist aber erst recht kein Selbstläufer. So sollte Deutschland einerseits alles daransetzen, klar und unmissverständlich für die globale Ordnung zu arbeiten sowie andererseits durch eine konsequente strategische Stärkung der Europäischen Union den eigenen Handlungsrahmen zu stärken. Dann wird dem deutschen Geschäftsmodell die Anpassung ermöglicht.
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