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Interview

Sieben magere Jahre

Interview - Sieben magere Jahre
Trotz düsterer Aussichten verhalten optimistisch: „Wir haben noch immer die Kurve gekriegt“, sagt Michael Hüther © Antje Berghäuser

Deutschland steckt in der Rezession und hat ein handfestes Demografieproblem. Ein Gespräch mit Michael Hüther über Wege aus der Krise.

Michael Hüther01.10.2023

Die volkswirtschaftlichen Kennzahlen Deutschlands sind mies. Wir befinden uns als einzige westliche Nation in der Rezession. Durchschreiten wir nur ein Tal oder ist das erst der Anfang einer viel längeren Durststrecke?

Letzteres ist wahrscheinlicher. Denn anders als bei konjunkturellen Schwankungen entsteht bei einer Seitwärtsbewegung, wie wir sie seit Jahresbeginn erleben, keine Fantasie für dynamische Verbesserungen. Das hat etwas mit Orientierungslosigkeit und fehlenden, nicht zu erkennenden Impulsen zu tun. Bis zum Ende des Jahrzehnts halte ich eine Stagflation für recht wahrscheinlich, also nur ein leichtes Wachstum von 0,5 bis 0,75 Prozent, gleichzeitig aber eine höhere Inflation, als es die EZB für hinnehmbar hält, also etwa drei Prozent.

Das sind harte Worte: Orientierungslosigkeit, Fantasielosigkeit. Wen sprechen Sie damit an?

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Angesichts der großen Transformation „dürfen wir keine Angst haben vor Effizenz“, so Hüther © Antje Berghäuser

Das ist die Situation, die die Unternehmen vorfinden angesichts einer großen wirtschaftspolitischen Ankündigung: Wir wollen die Transformation der Volkswirtschaft zur Klimaneutralität bis 2045 schaffen. Dabei ist der Regierung nicht alles zum Vorwurf zu machen. Denn sie muss nun viel nachholen, was vorher versäumt wurde. Der Umbau muss jetzt forciert werden, es ist weniger als ein Vierteljahrhundert Zeit. Aber Fantasie muss durch irgendwas angetrieben sein. Für neue Geschäftsmodelle oder Wachstumsmöglichkeiten braucht man klare Rahmenbedingungen, eine gute und schnelle Verwaltung, eine funktionierende Infrastruktur und eine Verlässlichkeit des internationalen politischen Rahmens. Aber bei allen binnen- und außenwirtschaftlichen Themen haben wir eigentlich nur Fragezeichen statt Ausrufezeichen.

Was heißt das konkret?

Wir haben im ungünstigsten Fall sieben magere Jahre vor uns. 2030, so sagt die Regierung, sind wir bei dem Ausbau der erneuerbaren Energien bei 80 Prozent. 2030, sagt der Bundesverkehrsminister, ist ein Großteil der 4000 Autobahnbrücken saniert. Bis dahin sollen auch die wichtigsten Bahntrassen grundsaniert sein, und bis dahin wird die Digitalisierung entscheidend vorangekommen sein. Aber bis dahin gehen wir durch ein Tal der Tränen.

Folgen nach den mageren Jahren dann die fetten Jahre? Trauen Sie es der Politik und Wirtschaft zu, die anstehenden Aufgaben zu bewältigen? Haben wir die Innovationskraft?

Ja, wenn die Infrastrukturversprechen eingehalten werden. Das setzt voraus, dass wir in der Zwischenzeit die Industrie am Standort stabilisieren und deren Umbau fördern. Jetzt muss die Transformation von der Politik zum festen Bestandteil der Wirtschafts- und Wachstumspolitik gemacht werden. Wir brauchen eine Öffnung der Regulierungssysteme, eine Verbesserung der Verwaltung sowie eine Entlastung bei den Steuern und Abgaben. Und wir brauchen einen Industriestrompreis. Aus solch einem Paket könnte etwas werden, das über diese sieben Jahre doch einigermaßen hinwegführt.

Sie halten also eine politische Senkung des Industriestrompreises für sinnvoll?

Ja, aus mehreren Gründen. Erstens haben wir eine Situation, die die Politik herbeigeführt hat: Wir haben eine Lücke im Angebot gegenüber der Nachfrage. Darum kostet der Industriestrom in Deutschland ein Vielfaches mehr als in anderen Ländern. Der Preis lag bei neun Cent im Jahr 2019, jetzt liegt er bei 24 Cent, in Frankreich und anderen Ländern bei vier oder fünf Cent. Das ist ein Versagen der Politik. Denn sie hat die Atomkraftwerke abgeschaltet und den Ausbau der Erneuerbaren nicht so forciert, wie sie es hätte tun müssen. Und sie hat den Netzausbau nicht ausreichend vorangetrieben.

Eine Senkung des Industriestrompreises könnte an den Ausgleichsregelungen der alten EEG-Umlage ansetzen. Das ist der Vorschlag von Habeck. Da geht es nicht um Groß und Klein, sondern um die Energiekostenanteile, die man hat. Dabei wird nicht die Differenz von sechs Cent zum individuellen Vertrag, sondern zum Börsenstrompreis angelegt. Damit würde sich die Politik selbst einen Anreiz zum Ausbau der Erneuerbaren setzen. Denn je schneller der Ausbau, desto schneller sinkt der Börsenstrompreis, und desto weniger Subvention braucht es. Zudem haben wir hohe Durchwirkungseffekte der energieintensiven Branchen. Spezialchemie, Glas, Stahl, das sind ja alles Branchen, die hierzulande wettbewerbsfähig sind und wichtige Produkte herstellen, die wir dann auch für den Transformationsprozess benötigen. Damit halten wir auch die Wertschöpfungsketten stabil. Darum brauchen wir einen Industriestrompreis. Das sollte nicht isoliert geschehen. Sondern die Stromsteuer sollte auf europäisches Niveau abgesenkt und die Netzentgelte entsprechend angepasst werden. In diesem Gesamtpaket halte ich das für dringend geboten.

Kann das gelingen? Wir stecken in Deutschland mitten in der Energiewende, die ihrerseits selbst viel Energie erfordert. Wir müssen einen großen Teil der benötigten Energie zukaufen, um den Umbau überhaupt vorantreiben zu können.

Wir haben große Potentiale an Offshore-Wind, aber wir müssen auch den europäischen Energieverbund stärken. Denn so wie wir zu bestimmten Zeiten Strom importieren, werden andere Strom exportieren, weil sie auf unterschiedliche Weise im Jahresverlauf Strom produzieren. Die Franzosen lassen ihre alten Atomkraftwerke am Netz. Man muss sich klar machen: Die Energiewende wäre um ein Vielfaches einfacher, wenn wir ein echtes europäisches Energiesystem hätten, um Schwankungen auszugleichen. Also, ja, es ist möglich, aber wir müssen es auch tun. Der Ausbau der Netzinfrastruktur dauert aber zu lange. Wir reden von der großen Transformation, weil sie wirklich groß ist. Wir steigen nach 200 Jahren aus der Nutzung fossiler Energien aus. Das Industriezeitalter fußt bald auf einer anderen energetischen Grundlage. Das ist kein Sonntagsspaziergang. Und deshalb muss das auch in allen anderen Politiksystemen gespiegelt werden. Wir können dort nicht weitermachen, wie bisher und uns Ineffizienzen leisten. Ein Beispiel: Den Energieeffizienzstandard 40 nicht umzusetzen, halte ich für richtig. Denn das kostet enorm viel, verteuert das Bauen noch einmal massiv und würde dazu beitragen, dass die Mieten weiter steigen. Man kann es effizienter machen, es gibt andere Möglichkeiten. Am stärksten irritiert mich, dass das, was über große Transformation und Zeitenwende gesagt wird, sich nicht wirklich im Mindset der Politik spiegelt. Die tut immer noch so, als könnte sie so weitermachen wie bisher.

Wenn Deutschland seine Klimaziele erreichen will, müssen bundesweit Millionen von Gebäuden gedämmt und Heizungen erneuert werden. Gleichzeitig mangelt es an Material und Fachkräften. Was halten Sie vor diesem Hintergrund vom neuen Gebäudeenergiegesetz, das demnächst verabschiedet werden soll?

Dass wir im Baubereich etwas tun müssen, ist unstrittig. Aber zuerst hätte man eine Wärmeplanung der Kommunen setzen müssen. In der Übergangszeit werden wir auch noch alte Gasthermen nutzen, denn wir haben ein weit verzweigtes Netz an Gaspipelines. Und ob es für Wasserstoff zu nutzen ist und woher der Wasserstoff kommen soll, ist eine andere Frage. Einfacher sind andere Dinge: Statt überall Dämmplatten verbauen, kann man über Preissignale in Echtzeit das Verhalten der Verbraucher beeinflussen. Man könnte auf Basis intelligenter Zähler über eine App auf dem Handy tagesgenau den Wasser-, Strom- und Gasverbrauch in Euro übermittelt bekommen. In Rumänien gibt's das schon. Bei uns ist das nur monatlich möglich, was natürlich absurd ist, weil ich nicht in Echtzeit reagieren kann. Die Regierung lässt das aus Datenschutzgründen nicht zu, was ich nicht verstehen kann. In den meisten Fällen haben die Mieter ihre Verträge direkt mit den Versorgern. Der Datenschutz ist deshalb ein albernes Gegenargument! Wenn es die große Transformation ist, muss ich jedes effiziente Instrument nutzen. Das ist ein Beispiel dafür, dass die Politik die Augen verschließt. Jede Partei tut so, als könnte sie noch ihren Traditionsbestand weiterfahren: die SPD die Sozialpolitik, die Grünen Regulatorik, Datenschutz und sonstige teure Kosten der Energiewende, die FDP, die glaubt, dass man mit der Schuldenbremse in die Zukunft kommt. Und von der Union brauchen wir ja gar nicht zu reden.

Sie haben gerade die fortschrittliche App aus Rumänien genannt. Gibt es andere Beispiele aus dem europäischen Ausland, von denen wir lernen können?

Da ist zum Beispiel die Frage, warum wir als einzige so militant aus den letzten sechs Atomkraftwerken aussteigen mussten. Hätte man den Übergangsbeschluss von Herbst 2010, den modifizierten Beschluss zur Verlängerung der Nutzungsdauer, umgesetzt, dann würde der Energiesektor heute fast ein Drittel weniger CO2 emittieren. Ich hätte geraten, diese letzten sechs Kraftwerke länger laufen zu lassen beziehungsweise zu reaktivieren. Zu allem Überfluss sind wir nicht nur aus der Atomenergie ausgestiegen, sondern auch aus der dafür relevanten Forschung. Es gibt leider ideologische Verblendungen, die man zur Kenntnis nehmen muss.

Weniger Wachstum, weniger Ressourcenverbrauch, weniger Erderwärmung, weniger Stress durch weniger Arbeit. Ulrike Hermann fragt in ihrem Bestseller "Das Ende des Kapitalismus": "Könnte es nicht auch befreiend sein, dem permanenten Wachstum zu entkommen?" Was halten Sie von der Degrowth-Bewegung, die auf eine bewusste Schrumpfung der Volkswirtschaft setzt?

Wenn wir diesen Weg alle zusammen auf der Welt beschließen, ist das eine interessante Möglichkeit. Aber da das nicht der Fall ist, bleibt das einfach dummes Zeug. Die Idee der Wachstumsrückgabe gibt's ja schon länger: Man arbeitet nur zwei Wochen im Monat. Und die anderen zwei Wochen macht man dann Landbau oder so. Ich habe dazu schon die lustigsten Diskussionen geführt. Denn man bekommt nie eine Antwort auf die Frage, wie man das umsetzt ohne Freiheitsentzug. Denn die marktwirtschaftliche Ordnung und Demokratie kommen aus der gleichen Revolutionsphase: Nach der Aufklärung gab es die Französische Revolution, dann die US-amerikanische. Daraus ging die Selbstermächtigung des Menschen in allen Lebensbezügen hervor. Der Mensch darf frei entscheiden, haftet aber auch für seine Entscheidungen. Das ist die Ausgangsstruktur für unsere freie westliche Gesellschaft, die ich unverändert für bedeutsam und zentral halte. Es gibt auch kein anderes System, das dieser Idee dauerhaft das Wasser abgraben kann. Das sieht man zunehmend an China, dessen Systeme ans Ende ihrer Entwicklungsdynamik gekommen sind. Die Degrowth-Gesellschaft wäre eine Gesellschaft der Unfreiheit. Das ist das erste Argument. Das zweite ist, dass es keine Innovationen mehr gäbe. Innovationen sind in hohem Maße dezentral, kapitalträchtig und abhängig von der Freiheit, Wissen und Prozesse weiterzuentwickeln. Gott sei Dank haben zum Beispiel in Mainz bei BioNTech kluge Köpfe vorausgedacht und den mRNA-Impfstoff entwickelt.

Bekannte Persönlichkeiten, darunter Unternehmensberater Hermann Simon, fordern eine Deindustrialisierung. Hat Deutschlands Deindustrialisierung bereits begonnen? Und wenn ja, wie schlimm ist das?

In Deutschland ist der Industrieanteil ohne Bau und Energie mit gut 20 Prozent rund doppelt so groß wie in Frankreich, Großbritannien und den USA. Dahinter steht ein Geschäftsmodell, in dem Industrieunternehmen mit Dienstleistern zusammen kundenorientierte Produkte mit hohem Technologiegehalt, hohem Servicegehalt und hoher Anpassungsfähigkeit anbieten – mit dem Ergebnis, dass zwei Drittel der Hidden Champions und Weltmarktführer in Deutschland sitzen. Vor diesem Hintergrund halte ich es für gewagt, die Deindustrialisierung zu fordern. Die Frage ist doch: Wen und was brauche ich in einem Transformationsprozess? Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Elektrolyseure sind Geräte, mit denen man grünen Wasserstoff herstellt. Das Unternehmen Sunfire aus Dresden hat seit zwei Jahren großen Erfolg und die Beschäftigung verdoppelt. Aber nicht, indem es selbst Beschäftigung aufgebaut hat, sondern indem es Unternehmen übernommen hat, deren Transformationsfähigkeit sehr viel geringer ist. Dazu zählt etwa ein Galvanik-Werk in der Nähe von Solingen, weil man Galvanik für die Beschichtung braucht, um Elektrolyseure herzustellen. Hier werden Menschen mit den gleichen Kompetenzen in eine andere industrielle Verwendung überführt. Jetzt hat Sunfire eine Kooperation mit einem ehemaligen Automobilzulieferer in Westsachsen, der hauptsächlich für den Dieselantrieb zugeliefert hat. Das Werk wird so nicht mehr lange gebraucht. Aber die Beschäftigten werden überführt in den Bau von Elektrolyseuren, weil dafür exakt ihre Kompetenzen gebraucht werden. Wir sehen, es gibt ganz viele Anschlussfähigkeiten, die aus der bestehenden Industrie eine neue machen. Nicht im Sinne einer Deindustrialisierung, sondern im Sinne einer Transformation.

Das sind schöne Beispiele. Aber ist Deutschland wirklich so wandlungsfähig? Es scheint zum Beispiel so, als ob etwa Deutschlands Automobilbranche den Trend zur E-Mobilität verschlafen habe und den Konkurrenten aus Asien und den USA mittlerweile technologisch hinterherhinkt. Ähnlich sieht es beim Thema Künstliche Intelligenz aus.

Beim Thema KI, tja, das müssen wir abwarten. Neue Technologien müssen immer auch einen Nutzen abwerfen. Beim Thema E-Mobilität würde ich manche Kritik an der deutschen Automobilindustrie teilen, aber wenn man auf die jüngsten Gewinnzahlen schaut, stehen die deutschen Hersteller mit 19 Prozent noch gut da. Die chinesischen Elektroautohersteller sind alle defizitär. Es wird einen enormen Preiskampf und eine Marktbereinigung geben. In Deutschland haben wir durch eine Prämie einen Kaufanreiz geschaffen. Aber wenn die Prämie wegfällt, bricht der Markt sofort ein. Das haben wir bei Hybridautos gesehen. Also was soll man den Automobilisten sagen? Fakt ist, dass immer noch sehr viele klassische Antriebe gekauft werden.

Aber liegt das nicht daran, dass deutsche Verbraucher fortschrittsfeindlicher sind als andere, und dass sich die deutschen Autohersteller immer noch zu sehr am deutschen Markt orientieren?

Das kann nicht sein. Schauen Sie sich mal die Auslandsmarktanteile an. Der Volkswagen-Konzern verkauft 40 Prozent seiner Autos in China. Es gibt wohl keine zweite Automobilwirtschaft, die so stark internationalisiert ist und es geschafft hat, aus ihren Stammmarken in die Welt hineinzuwirken. Dahinter stehen ein Qualitäts- und ein Technikversprechen. In China ist die ganze Elektromobilitätswirtschaft subventionsgetragen. Die großen Mengen machen die nur mit impliziten Stücksubventionen. Das ist kein stabiler Dauerzustand. So bekommt man den Wandel nicht hin. Man braucht Unternehmen, die die Transformation auch durchhalten.

Wo sehen Sie Deutschlands Zukunftsbranchen?

Das Wachstumschancengesetz sieht zurecht eine steuerlich verbesserte Förderung für Forschung und Entwicklung vor. Das ist aber eine allgemeine Förderung, keine branchenspezifische. Und gleichzeitig gibt es Investitionsprämien, die themenspezifisch, aber ebenfalls nicht branchenspezifisch sind, etwa Investitionsprämien in die Dekarbonisierung und die digitale Transformation. Das findet in allen Branchen statt. Welche Branchen sich im Moment gut schlagen, sind die Elektrotechnik, Mess- und Regeltechnik, Maschinen- und Anlagenbau. Ich halte die Spezialchemie im Kern für besonders zukunftsfähig, auch wenn sie derzeit unter den hohen Energiepreisen leidet. Wenn die Automobilwirtschaft es mit der Produktpalette hinbekommt, bin ich wieder zuversichtlicher. Immerhin findet nach wie vor ein Großteil der Ausgaben für Forscchung und Entwicklung und der Investitionen in der deutschen Wirtschaft in der Automobilwirtschaft statt.

Deutschland hat ein Demographieproblem. Der Nachwuchs fehlt von der Bedienung im Bistro über das Handwerk bis in die Universitäten. Wie können wir dieses Dilemma bewältigen?

Das ist ein ganz wichtiges Thema. Denn zur digitalen Transformation, zur Dekarbonisierung und zur Energiewende kommt natürlich auch die demographische Alterung. Die trifft uns erheblich. Ab 2025 wird das Erwerbspersonenpotential schrumpfen. Ende des Jahrzehnts werden wir etwa 3,1 Millionen Erwerbstätige weniger haben, selbst wenn jedes Jahr netto 200.000 Zuwanderer kommen. Die Industrialisierung hatte es möglich gemacht, dass Bevölkerungswachstum und Pro-Kopf-Einkommenswachstum parallel möglich wurden, durch Kapitalbildung und Produktivität. In den letzten 200 Jahren konnten immer mehr Menschen in Erwerbsprozesse integriert werden. Jetzt stehen wir vor der Herausforderung, dass in allen OECD-Ländern die Altenquotienten steigen und die Jugendquotienten sinken. In China wird das Erwerbspotential im Jahr 2100 halb so hoch sein wie jetzt, eine Folge der lange prägenden Ein-Kind-Politik. Daran sehen wir, dass die Lösung unseres Demographieproblems nicht allein in der Zuwanderung liegen kann, weil letztlich alle etablierten Volkswirtschaften vor der gleichen Verknappung stehen. Deshalb muss man auch über eine weitere Anpassung der Jahresarbeitszeit reden. Ob das über Wochenarbeitszeit geht, über andere Urlaubsregelungen oder Lebensarbeitszeit, muss man diskutieren. Dazu passt aber nicht, dass wir in Deutschland das geringste Arbeitsvolumen für Vollerwerbstätige haben.

Können uns KI und Automatisierung bei der Bewältigung des Fachkräftemangels helfen?

Ganz allgemein müssten Rationalisierungsinvestitionen an Bedeutung gewinnen. Die KI kann da ein Baustein sein. Wir wissen, dass bei textbasierten, hochqualifizierten Tätigkeiten ein Drittel der Zeit eingespart werden kann, in der Wirtschaftsprüfung, Dokumentation, im Gerichtswesen, in den Rechtswissenschaften. Ein zweiter Baustein ist, dass wir die Effizienz erhöhen müssen. Man wird auch über Pflegeroboter nachdenken müssen, da führt kaum ein Weg dran vorbei. Und die heimische Bevölkerung wird ein höheres Arbeitsvolumen im Jahr leisten müssen.

Dazu kommt die Azubi-Krise: Zahlreiche Ausbildungsplätze konnten nicht besetzt werden, und jeder vierte Ausbildungsvertrag wird vorzeitig aufgelöst. Woran liegt das? Und was kann man dagegen tun?

Zum einen müssen wir die Qualität der Ausbildung weiter anpassen. Zum anderen sollten sich Auszubildende besser informieren. Wir sehen aber auch, dass diese Generation sehr viel mehr Optionen hat als frühere Generationen.

Oder weniger Durchhaltevermögen?

Wenn ich bei uns ins Institut schaue, kann ich das nicht erkennen.

In Ihrem Institut gibt es wahrscheinlich gute Arbeitsbedingungen. Und die Jugend muss nicht um fünf Uhr morgens aufstehen.

Das war schon immer ein Problem. Der Bäckerberuf ist ein Sonderfall, aber auch andere Unternehmen, die Sie damit ansprechen, müssen einfach in ihre Attraktivität investieren.

Deutsche Unternehmen brauchen nicht nur innen-, sondern auch außenwirtschaftlich und außenpolitisch klare Linien. Deutschland und Europa geraten politisch und wirtschaftlich immer mehr zwischen die Mühlsteine im Konflikt Chinas mit den USA. Wie sollten sich Politik und Unternehmen in Deutschland hier positionieren?

Dass wir Außenpolitik und Außenwirtschaftspolitik zusammendenken, ist klug und richtig. Dass Exporte und internationale Arbeitsteilung Abhängigkeiten erzeugen, ist auch keine Neuigkeit. Das ist sogar Sinn und Zweck der Globalisierung, wir bilden Netzwerke. Die Frage ist, wie hoch darf eine Abhängigkeit sein. Wenn wir uns die Vorleistungsimporte aus China angucken, ist das nicht auffälliger als in anderen Ländern des Westens. China hat einfach eine Position bei bestimmten Rohstoffen, die ausgeprägt ist. Taiwan hält 90 Prozent der relevanten Halbleiterproduktion, das hat sich über zwei Jahrzehnte so ergeben. Wichtig ist, dass man ein hohes Commitment zur Globalisierung hat. Die Degrowth-Bewegung dagegen ist eine Antiglobalisierungsbewegung. Ich glaube, Europa wird immer attraktiver, je genauer man hinschaut. Das ist ein Club unberechenbarer Demokratien. Etwas Besseres kann man doch nicht haben. Bei allen Schwierigkeiten und Unterschieden ist das dem kommunistischen Staatsdiktaturzentralismus in China weit überlegen und hat durchaus robustere Perspektiven als die gespaltene Gesellschaft in den USA. Wo will man denn sein, wo findet man Möglichkeiten? Damit müsste Europa spielen und weniger mit seinen Normvorstellungen auf die anderen zugehen. Die Politik muss erkennen, dass die Globalisierung einen hohen Wert hat, und dass andere aber anders sind.

Immer wenn es der Wirtschaft schlecht geht, geht es den Populisten gut. Sie sprechen von einer gespaltenen Gesellschaft in den USA, aber die haben wir doch auch längst in Ländern Europas.

Überall erkennen wir Tendenzen zu den Extremen, selbst in den eigentlich entspannten Gesellschaften in Skandinavien. Das ist wohl auch ein kulturelles Phänomen. Nach all den Jahren des Wohlstands steht man vor großen Herausforderungen. Wo sich Zweifel in Protestwahlverhalten äußert, kann man nur mit Gespräch entgegenwirken. Europa ist vielgestaltiger als China oder Indien und bietet mehr Optionen als die USA, wo die ganz eigene Logik eines Zweiparteiensystems nicht mehr funktioniert, wenn im Weißen Haus alles auf eine Karte gesetzt wird.

Nach allem, worüber wir gesprochen haben: Was lässt Sie optimistisch auf die Zukunft Deutschlands blicken?

Das Wissen, dass wir bisher immer noch die Kurve gekriegt haben. Viele Weichen wurden bereits gestellt. Und wenn wir jetzt begreifen, dass die demographische Alterung nicht an uns vorbeigeht, sondern dass wir sie gestalten müssen, dann wäre ich noch etwas optimistischer trotz meiner etwas düsteren Eingangsbewertung. Wir brauchen ein gesellschaftliches Bewusstsein, dass es kein normaler Strukturwandel ist, den wir vor uns haben, sondern einer mit Termin: Dekarbonisierung zur Mitte des Jahrhunderts. Allein das macht deutlich, dass wir vor Effizienz keine Angst haben dürfen.

Was bedeutet Ihnen Rotary?

Ich erlebe Rotary vor allem als Gelegenheit zu vielen spannenden Gesprächen mit Menschen aus unterschiedlichen beruflichen und kulturellen Herkünften. Ich glaube, das ist der Kern dessen, was wir als Gesellschaft brauchen – diese offenen Gesprächssituationen.

Das Gespräch führten Björn Lange und Matthias von Arnim.

Michael Hüther
Prof. Dr. Michael Hüther, RC Köln am Rhein ist Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW Köln) und stellvertretender Vorsitzender der Atlantik-Brücke.

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