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Michael Paul über die neue Ordnung von Unternehmen für neue Herausforderungen

Raus aus dem »Irrenhaus«

» Eine zündende Leitidee, hinter der sich das gesamte Unternehmen versammelt, bringt mehr Orientierung als jedes Organisationshandbuch«

Michael Paul15.03.2012

Der Frust vieler hat ein Ventil gefunden. „Ich arbeite in einem Irrenhaus – vom ganz normalen Büroalltag“, das Buch des Personalberaters Martin Wehrle hat inzwischen circa 150.000 Exemplare verkauft und hält sich seit Monaten unter den Top-5 der Spiegel-Bestseller-Liste. Für ein Wirtschaftssachbuch ein ungewöhnlicher Erfolg, zumal das Buch nicht intensiv beworben wurde, sondern sich quasi „viral“ verbreitete, von Geplagter zu Geplagtem, immer mit dem Zusatz „Genauso ist es!“. Auf 280 Seiten schildern Angestellte ihren alltäglichen Frust mit sinnlosen Meetings, überforderten Führungskräften, aufgeblasenen „Change-Projekten“ und all den anderen Energiefressern am Arbeitsplatz, den sie immer mehr als „Irrenhaus“ erleben. Verdankt das Buch seinen Erfolg dem glänzenden, amüsanten Stil oder einer neuen Qualität der Unordnung in Unternehmen?
An dieser Stelle soll gar nicht mit dem wenig klar definierten, aber stark zitierten Modewort „Burnout“ argumentiert werden. Eine Studie der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) unter 10 Millionen deutschen Arbeitnehmern aus dem Herbst 2011 zeigt eine Verdoppelung der psychisch motivierten Krankschreibungen seit 1994. Eine aktuelle Studie der DAK aus dem Februar deutet in eine ähnliche Richtung: 15 Prozent der Befragten sagen, sie hätten eine Verschlechterung der Arbeitssituation erfahren, rund 22 Prozent gaben an, stark unter häufigem Zeitdruck zu leiden. Nicht nur an der Basis, auch an der Spitze scheint es zu knirschen. Die Unternehmensberatung Booz&Company stellt in einer Studie fest, dass innerhalb der vergangenen zehn Jahre die durchschnittliche Amtszeit der CEO deutscher Großunternehmen von 8,1 auf 6,1 Jahre gesunken ist. Fressen die „Irrenhäuser“ ihre „Insassen“? Das wäre ein Befund, der so gar nicht zur momentanen Wahrnehmung der Lage unserer Unternehmen passen würde. Denn während alle Welt das Klagelied der großen Probleme von Griechenland bis Spanien anstimmt, sprechen volle Auftragsbücher deutscher Unternehmen für eine hohe Widerstandskraft gegen ein turbulentes Umfeld, scheint die Krise, wie es ein deutscher Vorstand formulierte, erst abends in den Fernsehnachrichten stattzufinden.

Nachlassende Leistungskraft
Der scheinbare Widerspruch löst sich auf, sieht man genauer hin. Deutsche Unternehmen sind meist stark, wenn sie mit technisch-funktionaler Überlegenheit punkten können, wenn sie auf Märkten agieren, die nach klaren Spielregeln funktionieren, wie dies im Moment etwa bei der Belieferung von aufstrebenden Volkswirtschaften mit industriellen Ausrüstungen oder Autos der Fall ist. In diesem „Standardmodus“ funktionieren selbst Unternehmen, in denen der Wahnsinn schon unter der Oberfläche brodelt, noch einigermaßen. Aber wann ist es z.B. einem DAX-Konzern zuletzt gelungen, ein weltweit erfolgreiches, regelbrechendes Produkt oder gar Geschäftsmodell zu etablieren? Wo stehen unsere Unternehmen im Hinblick auf innovative Dienstleistungs- und Preismodelle? Wie bewähren sie sich in Märkten, die nicht bloß von konjunkturellen Einbrüchen, sondern von echten Strukturveränderungen geprägt sind? Ernst & Young hat jüngst ein Ranking der 300 an den Börsen wertvollsten Unternehmen der Welt erstellt, in dem deutsche Unternehmen weiter zurückgefallen sind. Bereinigt man diese Statistik um Effekte wie die Abschwächung des Euro, den steigenden Wert knapper Rohstoffe etc., fallen Aufsteiger ins Auge, die in den vergangenen Jahren genau dort gepunktet haben, angefangen bei Apple und Google.
Die Irrenhäuser gefährden also die Zukunftsfähigkeit. An fünf Stellhebeln muss neben anderen vor allem angesetzt werden, wenn es um eine Stärkung der dafür notwendigen Grundordnung geht.
1. Die Sinnfrage des Unternehmens ist neu zu beantworten. Zwischen dem reinen Überleben als Unternehmenszweck, mangelndem Realismus bei Zielrenditen und abgedroschenen Phrasen á la „führend in der Welt“ und „profitables Wachstum“ wurden Visionen, Leitbilder, „Mission Statements“ etc. zu Stilübungen ohne Nutzen. Trotzdem: Eine zündende Leitidee, hinter der sich das gesamte Unternehmen versammelt, bringt mehr Orientierung als jedes Organisationshandbuch. Sie wirkt über alle kulturellen Unterschiede, die in international agierenden Unternehmen der Normalfall sind, hinweg und schafft ein gemeinsames Grundverständnis. Das hilft auch im Alltag, stimmige Entscheidungen treffen zu können, speziell in nicht planbaren Situationen. Die beste Leitidee hilft aber nicht weiter, wenn sie nicht bekannt ist. Nach einer aktuellen Umfrage der Jobbörse „StepStone“ geben nur 44 Prozent der Fach- und Führungskräfte in Deutschland an, die Ziele ihres Unternehmens für 2012 zu kennen. Wer die Basis von Entscheidungen nicht kennt, wird sich eher wie in einem ungesteuerten Irrenhaus vorkommen.

Denken in Szenarien

2. Die Renaissance der Strategie. Strategien sind durch massive Umbrüche nicht überflüssig geworden, aber der Anspruch an Strategien hat sich geändert. Die Beobachtung des relevanten Umfelds und das Denken in Szenarien werden wichtiger. Ein besonders plastisches Beispiel sind die deutschen Druckmaschinenbauer. Obwohl immer noch Weltspitze in den angestammten Märkten, hat die Veränderung der Medienlandschaft eine völlig neue Wettbewerbsarena entstehen lassen, in der frühere Vorteile an Bedeutung verloren haben. Die Folge sind enorme Anpassungsschwierigkeiten, mit denen diese Unternehmen jetzt zu kämpfen haben (siehe die Insolvenz von MAN Roland). Allgemein wird die Fähigkeit entscheidend, auf der Basis der genauen Kenntnis der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten bei Strukturveränderungen schnell Modifikationen an Geschäftsmodellen vorzunehmen, Konzept und Umsetzung näher zueinander zu bringen. In diesen Prozess der laufenden strategischen Weiterentwicklung sind stärker als in der Vergangenheit die Führungskräfte der mittleren Ebene einzubeziehen. Sie sind nicht nur näher am Geschehen der Märkte, sondern auch diejenigen, die die größte Last bei der Umsetzung neuer Strategien zu tragen haben. Kommen sie ins Wanken, wird das an der Basis als Erdbeben wahrgenommen.  3. Führung prägt Unternehmenskultur. Wenn Meetings regelmäßig „Woodstock-artige“ Ausmaße annehmen, Entscheidungen in undurchschaubaren Kleinstzirkeln stattfinden, der gegenseitige Umgang nicht mehr konstruktiv ist, Druck einfach nach unten weitergegeben wird, dann kann keine Organisation mehr Höchstleistungen hervorbringen. Die Entwicklung der Unternehmenskultur kann nur von den Führungskräften gesteuert werden. Führung als eigene Aufgabe jenseits der fachlichen Lenkung ist stärker in den Fokus zu rücken und bewusst zu gestalten. Das beginnt mit der Auswahl der Führungskräfte. Deshalb ist das Personalmanagement sehr viel stärker in die Entwicklung von Strategie und Organisation einzubinden.

Effizienz durch Organisation
4. Organisation muss lebbar sein. Verstärktes Prozessmanagement hat in den vergangenen Jahren große Effizienz-Reserven aufgedeckt und vielfach erhebliche Qualitätsverbesserungen ermöglicht. Allerdings ist es wenig hilfreich, wenn beispielsweise ein großes Verkehrsunternehmen auf 15 Seiten im Detail den Prozess des Fahrplanaushangs an Haltestellen regelt. So etwas demotiviert nicht nur, sondern stößt sich vielfach an der bereits mehrfach angeführten abnehmenden Planbarkeit. Wichtiger wird es hingegen, allen im Unternehmen die jeweilige „Rolle“ näherzubringen. Wer seine eigenen und die Aufgaben seiner direkten Kolleginnen und Kollegen „inhaliert“ hat, kann sich flexibel mit diesen verständigen, wenn Außergewöhnliches passiert – und kreativer sein als ein „Prozesssklave“.   5. Ende des Blindflugs in der IT. Gäbe es so etwas wie ein Management-PISA, würde Deutschland in einer Disziplin sicherlich keine Spitzennoten verdienen: die breite Kenntnis über IT. Die Informationstechnologie ist für viele im Management immer noch ein Buch mit sieben Siegeln. Das führt zu einem Eigenleben der IT, das nicht nur viel Geld kostet, sondern die Organisationsentwicklung der IT hinterher hecheln lässt. Gefragt ist mehr gegenseitiges Verständnis – und der Mut, ausbordende IT-Projekte zu beenden, bevor sie den Wahnsinn auf die Spitze treiben.
So positiv „Wutbürger“ für die Wiederbelebung einer demokratischen Gesellschaft sein mögen, in Unternehmen sind sie ein Zeichen für eine fehlende, den Erfolg gefährdende Grundordnung. Massive Klagen über irrenhausähnliche Verhältnisse dürfen uns nicht kalt lassen.
Michael Paul
Dr. Paul ist Gründer und Geschäftsführer von „paul und collegen consulting“ in Wien und Berlin. Er widmet sich schwerpunktmäßig dem Veränderungsmanagement und der Restrukturierung von Unternehmen. Im Februar 2012 erschien sein Buch „Raus aus dem Irrenhaus!“ (Linde International).

www.paulcollegen.com