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Umgang mit der Geschichte

Deutsche Hemmnisse und britische Vorlieben

Während sich die großen Arbeiten deutscher Historiker in jüngster Zeit der allgemeinen Weltgeschichte widmeten, legten ihre britischen und amerikanischen Kollegen immer wieder neue impulsgebende Werke zur deutschen Geschichte vor. Anmerkungen zu einer nachdenklich stimmenden Entwicklung

Patricia Clough31.10.2015

Der Gedanke, dass es einen Unterschied zwischen dem britischen und dem deutschen Ansatz zur Betrachtung von Geschichte – und insbesondere der Geschichte des „Dritten Reiches“ – geben könnte, kam mir erstmalig, als ich 2004 ein Gespräch mit einem Verleger über den Inhalt meines kurz vor der Veröffentlichung stehenden Buches über die Flucht der Trakehner-Pferde aus Ostpreußen 1944/45 führte. Ich hatte salopp angemerkt, dass ich Erich Koch, den Gauleiter in Königsberg und eine zentrale Figur in der Geschichte, als „ein tolle Figur” betrachtete. Als einen Schurken natürlich: Das war uns beiden klar. Der Verleger machte jedoch eine nachdenkliche Pause, dann sagte er: „Kein Deutscher würde das jemals so darstellen”.

Natürlich waren mir die von Koch – sicherlich einer der abscheulichsten unter allen von Hitlers entsetzlichen Gauleitern – begangenen Verbrechen mit den unzähligen Toten und dem von ihm verursachten Leid, seine totale Missachtung der von ihm regierten Bevölkerung, seine schamlose Korruption, sein Lügen und Betrügen nur zu bewusst – all dies fand sich im Buch. Ich sprach jedoch in technischer Hinsicht, als Autorin. Dies hilft beim Schreiben von Sachliteratur – und mein Buch basiert vollständig auf Fakten – wenn das eigene Thema Elemente enthält, die seit jeher eine gute Story ausgemacht haben: Die Schlechten gegen die Guten oder zumindest die Schwachen; Gefahr, Spannung und so weiter. In diesem Sinne, war Koch ein „perfekter” Schurke, der zahlreiche wehrlose ostpreußische Bauern und Züchter und ihr wertvollstes Gut, ihre unvergleichlichen Pferde, die Trakehner, in fürchterliche Gefahr brachte.

Das Glück der Distanz zum Thema

Würde ein deutscher Autor dies so darstellen? Wahrscheinlich nicht, vermute ich, zumindest nicht zu dieser Zeit. Denn englischsprachige Historiker und Autoren haben das Glück, bzw. das Privileg, einen gewissen Abstand zu ihrem Thema zu haben, insbesondere wenn es um das „Dritte Reich“ und den Zweiten Weltkrieg geht. Eine klarere und objektivere Betrachtung ist vielleicht einfacher, wenn man sich nicht irgendwie, egal wie kritisch und ungewollt, einer Seite biologisch verbunden fühlt. Vor allem gibt es jedoch die Tatsache, dass sich ihre Länder auf der „richtigen” Seite in diesem Krieg befanden und dass daher das ganze riesige Spektrum der Ereignisse ein reizvolles Thema für die historische Forschung, für die Analyse und unzählige Bücher, Filme, Theaterstücke, Spiele und Geschichten bietet.

Ein positives Ergebnis ist, dass angelsächsische Historiker einige – wenn auch beileibe nicht alle – der führenden Darstellungen dieses Bereichs hervorgebracht haben. Ein bedauernswerteres Ergebnis ist, dass die gewöhnlichen Briten zumindest dazu neigen, das Interesse daran, was in Deutschland sowohl vor und nach diesem Zeitraum passiert ist, in den Hintergrund zu drängen. Es hat Beschwerden gegeben, dass das „Dritte Reich“ und der Krieg bei Kindern so populär ist, dass es eines der Haupt-Geschichtsthemen ist, das in der Schule unter Ausschluss von vielem anderen gelehrt wird. Ich selbst musste, als langjährige Zeitungskorrespondentin in Deutschland, nicht nur einige Male dem Druck, auch seitens seriöser Verleger, im Hinblick auf unnötige Geschichten widerstehen, die mit Nazis oder Neo-Nazis zu tun haben. Somit war es letztes Jahr ein riesengroßer Schritt in die richtige Richtung, als Neil MacGregor, der brillante Direktor des British Museum, seine äußerst populäre Ausstellung „Memories of a Nation – Erinnerungen einer Nation” ansetzte, die 600 Jahre deutscher Geschichte abdeckte und von einem Buch und einer BBC-Radioserie zum gleichen Thema begleitet wurde.


Notwendige Dammbrüche


Es ist eine Tatsache, dass das Berichten von Geschichte in jedem Land stark von psychologischen Verhaltensweisen und Wahrnehmungen beeinflusst wird, wie so vieles andere in unserem öffentlichen Diskurs. Jeder kennt das Tabu, das für mehr als 30 Jahre das ganze Thema des „Dritten Reichs“ umgab. Natürlich gab es löbliche Versuche, die Öffentlichkeit darüber zu informieren, aber dennoch schien die westdeutsche Öffentlichkeit psychologisch nicht in der Lage, dem Horror ins Auge zu sehen, bis 1978 im Fernsehen die Mini-Reihe „Holocaust” – natürlich amerikanisch – ausgestrahlt wurde und der Damm schließlich brach. Oder zumindest ein Großteil davon: Dies geschah Jahre, bevor andere Aspekte aufgegriffen werden konnten wie z.B. die Flucht und die Vertreibung von Millionen Deutschen aus ihrem Zuhause im Osten. Es schien als ob – nachdem man der Tatsache ins Auge gesehen hatte, dass die Deutschen Täter gewesen waren – sie sich selbst dadurch verzeihen würden, dass sie anerkennen, auch Opfer gewesen zu sein.

Ich persönlich realisierte erst 2002, als Günter Grass’ Novelle „Im Krebsgang” erschien, die Geschichte des Sinkens der Wilhelm Gustloff mit Tausenden von Flüchtlingen an Bord, dass auch dieses Tabu am Fallen und die Zeit nun reif war, über die Flucht der Trakehner zu schreiben.

Und es blieben immer noch Themen offen wie z.B. die Not der deutschen vor dem Nazismus geflohenen Exilanten, wie sie Herta Müller, 2009 Literaturnobelpreis-Gewinnerin und selbst Exilantin, deutlich gemacht hat. Darüber hinaus erschien es mir in meinen Jahren als Korrespondentin, dass die Probleme bei der Bewältigung der jüngeren Vergangenheit das Interesse der Menschen an der weiter entfernten Vergangenheit sinken ließen; mit anderen Worten, dass das Trauma des „Dritten Reiches“ und des Krieges praktisch alles ausradiert hatte, das zuvor passiert war. (Ich muss sagen, dass ich selbst diese Lücke nutzte, um langvergessene historische Ereignisse und Zusammenhänge in meinem Buch über die ehemalige Reichsstraße 1 und in meiner Biographie von Emin Pasha, dem deutschen Abenteurer im Zentrum eines kolossalen europäischen Machtkampfs im Afrika des 19. Jahrhunderts, wiederauferstehen zu lassen.)

Langsamer Wandel in England

Die Dinge ändern sich derzeit, aber wiederum scheint das Interesse selektiv zu sein: Wie viele Schulkinder lernen, dass Deutschland einst die viertgrößte Kolonialmacht der Welt war, bzw. lesen darüber, was in dieser Zeit passiert ist? Die Briten haben ein völlig anderes Verhalten zum Thema der Kolonialzeit als Deutsche, wenngleich auch nicht mehr den Stolz oder das Triumphieren des späten 19. bzw. frühen 20. Jahrhunderts oder die romantische Nostalgie der 1980er. Heutzutage versuchen Autoren oder Moderatoren unparteiischer zu sein, indem die negativen gleichermaßen wie die positiveren Aspekte diskutiert werden, aber dennoch wird das Thema immer noch sehr stark durch den britischen Blickwinkel betrachtet. „Das Betrachten von Filmen und Dokumentationen über Indien im britischen Fernsehen ist für den indischen Zuschauer schon immer eine Qual gewesen“, kommentierte kürzlich Amit Chaudhuri, ein angesehener indischstämmiger Autor und Professor, der in England lebt. In einem Land, in dem das, was Inder ihren „Ersten Unabhängigkeitskrieg” bzw. ihre „Große Rebellion” nennen, immer noch einfach als die „Indische Meuterei” bekannt ist, als wäre es lediglich ein Streik von unzufriedenen Sepoys, werden nur wenige Anstrengungen unternommen, die Dinge aus dem Blickwinkel der Einheimischen zu sehen. Um die echten Konsequenzen der Kolonialzeit in Indien beurteilen zu können, „muss man sich damit vertraut machen, wie die Inder ihre Geschichte verstehen – eine Investition, die britische TV-Historiker nicht zu machen gewillt sind,” fügte Chaudhuri hinzu.

Aber zurück nach Deutschland. Wenn es wahr ist, dass bedeutende deutsche Historiker dazu neigen, mehr von der Weltgeschichte als von der Geschichte der eigenen Nation angezogen zu werden, erscheint es mir allerdings auch wahr, dass andere deutsche Autoren diese ehemalig mit einem Tabu belegte Zeit entdeckt haben und in brillanter Weise für diese Zeit mit Arbeiten in Form von sowohl Fiktion als auch Sachliteratur menschliche Einzelschicksale und spezifische Ereignisse ans Licht bringen. Während wissenschaftliche Erkenntnisse von großer Bedeutung für unser Verständnis der Vergangenheit sind, sind es doch die Literatur, Filme und andere Arten von Medien, die den Menschen, lebendig und bildlich, die Lebensrealität dieser Zeit nahebringen. Und daran, scheint es mir, fehlt es nicht.

Patricia Clough
Patricia Clough war viele Jahre Deutschland-Korrespondentin der „Times“ und später des „Independent“. Zu ihren Büchern gehören u.a. „Aachen – Berlin – Königsberg. Eine Zeitreise entlang der alten Reichsstraße 1“ (2007) und „In langer Reihe über das Haff. Die Flucht der Trakehner aus Ostpreußen“ (2014).