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Eiszeit in der Forschung
Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine werden wissenschaftliche Kooperationen gestoppt. Was das für Forscher – in Deutschland und in Russland – bedeutet und warum schon jetzt an eine Post-Putin-Zeit zu denken ist
Seit Samstag, den 26. Februar, schweigt „eRosita“. Das Röntgenteleskop, entwickelt am Max-Planck-Institut für Extraterrestrische Physik in Garching und seit 2019 im All stationiert, schickt keine Daten mehr. Grundlegende Fragen zur Entwicklung von Galaxien, Schwarzen Löchern, Dunkler Materie und Dunkler Energie können nicht in dem Maße beantwortet werden wie erhofft, weil eRosita nicht mehr beobachtet und in einen Ruhemodus versetzt wurde. Der Grund: Das Röntgenteleskop befindet sich auf einer Plattform, die von Russland betrieben wird – die Kooperation wurde gestoppt.
So wie dem eRosita-Team geht es zahlreichen Forscherinnen und Forschern in Deutschland und in Russland. Der Angriffskrieg auf die Ukraine hat zu harten Sanktionen gegen Russland geführt. Sie betreffen die Wirtschaft, aber auch Kultur, Sport und Wissenschaft. Also jene zivilgesellschaftlichen Bereiche, in denen üblicherweise keine oder allenfalls geringe Restriktionen erfolgen, selbst wenn eine Regierung völkerrechtliche Standards erheblich verletzt. Das geschieht auch, um auf diesen Ebenen weiter Kontakte zu ermöglichen, „Gesprächskanäle offenzuhalten“, wie es im Diplomatendeutsch heißt. Dies war zu Zeiten des Kalten Krieges der Fall wie in jüngerer Vergangenheit, etwa nach der Annexion der Krim.
Doch der Überfall auf die Ukraine sei ungleich schwerwiegender, argumentieren Vertreter der deutschen Wissenschaft und haben – in Absprache mit der Bundesregierung – drastische Beschlüsse gefasst.
Am 25. Februar, einen Tag nach dem Beginn der Offensive, erklärte das Bundesforschungsministerium, der Angriff auf die Ukraine sei „ein eklatanter Bruch des Völkerrechts und durch nichts zu rechtfertigen“. Russland habe sich damit selbst aus der internationalen Gemeinschaft verabschiedet. Das bedeute: Die bisherige, langjährige Zusammenarbeit in Wissenschaft und Forschung werde gestoppt, obwohl sie grundsätzlich im beiderseitigen Interesse ist und zur Lösung globaler Herausforderungen wie dem Klimawandel beiträgt. Alle laufenden und geplanten Maßnahmen mit Russland werden eingefroren und kritisch überprüft.
Die Allianz der Wissenschaftsorganisationen folgte und empfahl, wissenschaftliche Kooperationen mit staatlichen Institutionen und Wirtschaftsunternehmen in Russland bis auf weiteres einzufrieren, so dass deutsches Forschungsgeld Russland nicht mehr zu Gute käme und keine gemeinsamen wissenschaftlichen und forschungspolitischen Veranstaltungen mehr stattfinden könnten. Neue Kooperationsprojekte sollten nicht initiiert werden. Zur Erläuterung: In dieser Allianz sind die großen Wissenschaftsorganisationen des Landes zusammengeschlossen. Dazu gehören die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Alexander von Humboldt-Stiftung, der Deutsche Akademische Austauschdienst, die Fraunhofer-Gesellschaft, die Helmholtz-Gemeinschaft, die Hochschulrektorenkonferenz, die Leibniz-Gemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft, die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina und der Wissenschaftsrat.
Was das praktisch bedeutet, ist bei eRosita zu sehen, wo bereits erhobene Daten weiter ausgewertet werden, aber keine neuen mehr hinzukommen. Oder beim Projekt „Agile“ , wo die Entwicklung neuer Flugzeuge mittels Digitalisierung beschleunigt werden sollte – und nun gestoppt wurde. Oder „Icarus“: die Beobachtung von Tierwanderungen mithilfe von Antennen an Bord der Internationalen Raumstation – ein Highlight der verhaltensbiologischen Forschung, das nach jahrelangen Verzögerungen endlich lief und eine Fülle an Daten versprach. Hier war Russland noch schneller und stoppte selbst den Datenstrom nach Deutschland. Oder der europäische Marsroboter, der im September mit einer russischen Rakete starten sollte, um auf dem Roten Planeten nach Hinweisen auf Leben zu suchen. Mehr als eine Milliarde Euro hat die europäische Raumfahrtagentur Esa in das Vorhaben investiert, viele deutsche Forscher haben die Geräte entworfen, gebaut, getestet. Inzwischen hat die Esa die Mission suspendiert, sucht nach anderen Startmöglichkeiten und nach Ersatz für die russische Landeeinheit. Falls es überhaupt weitergeht, ist ein Start erst 2026 wahrscheinlich. Auch bei der Internationalen Raumstation, beim Einwerben von Budget stets als völkerverbindendes Element beschworen, geht es derzeit kaum über das Erfüllen der Verträge hinaus. Eine Trennung wünschen wohl viele, technisch ist sie derzeit nicht möglich.
Neben den millionenschweren Kooperationen existierten viele kleinere Vorhaben – auch um den Austausch zwischen beiden Ländern zu befördern. Sie sollten helfen, dass Forscherinnen und Forscher leichter an Versuchsanlagen im jeweiligen Partnerland gelangen, sol lten Wissenschaftskommunikation stärken, um Ergebnisse in die Gesellschaft zu tragen.
Alles gestoppt.
Damit gibt es keine gemeinsame Projektarbeit mehr, keine gemeinsamen Publikationen. „Eingereichte Fachartikel mit russischen Co-Autoren müssen zurückgezogen werden“, sagt Christian Spiering vom Deutschen Elektronen-Synchrotron (Desy) in Zeuthen bei Berlin. Die Leitung des Zentrums habe den Mitarbeitern empfohlen, persönliche Kontakte zu erhalten. Dafür solle jedoch nicht die Desy-Mail-Adresse verwendet werden, sondern die private.
Spiering arbeitet seit Jahrzehnten in der Astroteilchenphysik, hat bereits zu DDR-Zeiten mit Kollegen in der damaligen Sowjetunion gemeinsam Detektoren für hochenergetische Partikel gebaut, die aus fernen kosmischen Objekten auf die Erde gelangen. Er hält weiterhin Kontakt, schickt einigen Kollegen auch Informationen aus Nachrichtenquellen, zu denen Russen inzwischen keinen Zugang mehr haben. Spiering ist vorsichtig – mit dem, was er an die Kollegen kommuniziert, was er sie fragt und was er davon mit Journalisten bespricht. Es soll keiner in Gefahr gebracht werden.
Viele hätten Verständnis dafür, dass die wissenschaftliche Zusammenarbeit vorerst gestoppt wurde, berichtet er und erinnert an jene mutigen Wissenschaftler, die sogar einen Offenen Brief gegen den Krieg in der Ukraine unterzeichnet haben: immerhin mehrere Tausend. „Die haben große Angst vor den Konsequenzen, aber sie wollen nicht schweigen“, erzählt Spiering. Bislang habe er noch kaum von Repressalien gehört. „Ich fürchte, das kommt noch.“
Auf dieser persönlichen Ebene wird umso deutlicher, welche Folgen ein politisch verständlicher Beschluss im Detail hat. Er trifft Menschen in einer stürzenden Gesellschaft – den Putin-Getreuen ebenso wie den Mitläufer und den Kritiker. Er bestraft Menschen für etwas, das sie nicht getan haben. Menschen, denen es trotz allem aber meist noch besser geht als den Forscherkollegen in der Ukraine, die um ihr Leben fürchten.
Diese Gedanken macht sich auch Joybrato Mukherjee, Präsident des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Für ihn hat die Unterstützung für ukrainische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Studierende daher eindeutig Vorrang. Der DAAD unterstützt Stipendiatinnen und Stipendiaten mit teils verlängerter Förderung sowie umfassenden Informationen, wo sie weitere Hilfen erhalten können. Zudem soll ein Unterstützungsprogramm aufgelegt werden, um bis zu 100.000 Menschen, die vor dem Krieg fliehen, in das hiesige Wissenschaftssystem zu integrieren.
Mukherjee sieht aber ebenso die Bedrängnis mancher Studierender und Forschender in Russland, besonders wenn sie sich kritisch äußern. „Wir haben von Fällen gehört, in denen sie zu Gesprächen vorgeladen wurden, teilweise wurde mit Exmatrikulation gedroht.“ Es bleibe abzuwarten, ob Exempel statuiert werden seit kürzlich ein neues Gesetz verabschiedet wurde, das allein das Verwenden von Begriffen wie „Krieg“ unter Strafe stellt. „Ich fürchte, dass viele Kolleginnen und Kollegen darunter leiden werden“, sagt Mukherjee.
Der DAAD versuche zu helfen, indem er weiterhin Mobilität von Russland nach Deutschland ermöglicht und Stipendiatinnen und Stipendiaten in Deutschland bleiben können. „Wir kommunizieren sehr klar, unterscheiden zwischen den staatlichen Institutionen, die zu Recht von Sanktionen betroffen sind, und unseren Freundinnen und Freunden, die genau wie wir hoffen, dass sich die Situation wieder verbessert“, sagt der DAAD-Präsident.
„Wir müssen uns schon heute vorbereiten auf den Tag, an dem der Krieg endet – hoffentlich bald! – und auf eine Post-Putin-Zeit in Russland.“ Für den DAAD bedeutet das, wo immer möglich im Gespräch zu bleiben: zunächst auf persönlicher Ebene, später möglicherweise auch wieder institutionell. „Aber das wird nicht von heute auf morgen gehen“, macht er klar. „Wir können nicht ignorieren, dass dies der erste Angriffskrieg auf ein eigenständiges Land in Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist.“
Ähnlich äußert sich der Desy-Foscher Spiering. Er hält es für richtig, dass die Forschungsorganisationen schnell reagiert und so ein klares Signal gesetzt haben. „Abhängig von der weiteren Entwicklung müssen diese Maßnahmen mit besserer „Trennschärfe“ modifiziert werden“, sagt er. Bei kleineren Projekten zwischen wenigen Wissenschaftlern sollte der Vorhang eher wieder hochgehen als bei den Großprojekten, bei denen viel Geld fließt und auch teure Gerätschaften von West nach Ost oder umgekehrt transportiert werden. Das begründet der Forscher nicht allein mit dem Budget, sondern auch damit, dass bei den kleinen Projekten die persönlich-menschlichen Kontakte stärker dominieren als bei den großen Vorhaben.
So deutlich die Reaktion der deutschen Wissenschaftsorganisationen ist, so gibt es doch Ausnahmen. Bei den Großprojekten Facility for Antiproton and Ion Research (FAIR) in Darmstadt und European X-Ray Free-Electron Laser Facility (European XFEL) in Hamburg ist Russland weiter Partner gemäß völkerrechtlicher Verträge. Allerdings wird geprüft, diese Verbindungen zu lösen. Auch am Kernfusionsexperiment ITER, das derzeit in Frankreich gebaut wird, ist Russland beteiligt. „Die Ereignisse, die wir in den letzten Tagen miterlebt haben, sind beispiellos“, sagte ITER-Sprecher Laban Coblentz der Neuen Zürcher Zeitung . Man wisse noch nicht, welche Auswirkungen sie auf das Großprojekt haben werden. Am Kernforschungszentrum CERN bei Genf hat der Rat beschlossen, Russland den Status als „Beobachter“ abzuerkennen. Die rund 1000 russischen Forscher, die am CERN involviert sind, werden jedoch vorerst nicht ausgeschlossen. Auch der Zusammenschluss der Universitäten im Vereinigten Königreich geht abwägend vor. Kooperationen mit dem Land sollten von Fall zu Fall überprüft werden, berichtet das Fachmagazin „Science“. „Einen pauschalen Boykott unterstützen wir nicht“, teilte Universities UK mit.
Noch ist Hoffnung, dass der Krieg bald beendet wird und Wissenschaft helfen kann, die Menschen wieder näher zusammen zu bringen. Viele Projekte können erneut belebt werden – auch eRosita. Der Satellit braucht nur einige Steuerbefehle und würde seine Arbeit fortsetzen. Wenn das gewünscht wird.
Ralf Nestler
Hinweis: Dieser Artikel wurde am 15. Juni 2022 aktualisiert.
Ralf Nestler (Jahrgang 1978) ist Wissenschaftsjournalist mit den Schwerpunkten Weltraum und Geowissenschaften. Er arbeitet vorrangig für "Tagesspiegel", "NZZ am Sonntag" sowie "Spektrum der Wissenschaft" und lebt im Berliner Umland.