Einig oder ohnmächtig
Das außenpolitische Erwachen der Europäischen Union
Der Anschluss der Krim an Russland hat gezeigt, dass die Europäische Union gegenwärtig kaum in der Lage ist, auf eine ernste äußere Krise entschieden zu reagieren. Gleiches gilt für die Flüchtlingswelle aus Afrika oder den Bürgerkrieg in Syrien. Die Beiträge auf den folgenden Seiten widmen sich der Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik. Sie erörtern, wie diese aussehen könnte und welche Voraussetzungen dabei eine Rolle spielen. Nicht zuletzt hinterfragen sie, ob Deutschland, von dem in jüngster Zeit immer wieder Führung verlangt wird, dazu bereit ist, seine Aufgaben zu erfüllen.
Seit dem Beginn der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) 1970 ist Europa in der außenpolitischen Gemeinsamkeit erheblich vorangekommen. In Reaktion auf den Nahostkonflikt und die Energieabhängigkeit der Westeuropäer wurde in der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) die EPZ begonnen. Zunächst wurden sechs Fax-Geräte in den Büros der Politischen Direktoren der beteiligten sechs Außenministerien eingerichtet. Politische Erklärungen sollten auf diesem Wege abgestimmt werden. Aus dem ersten, zaghaften Treffen der EU-Außenminister 1970 entwickelten sich regelmäßigere Strukturen.
Mit dem Vertrag von Maastricht 1992 wurde die Zielsetzung einer gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik der zur EU umbenannten Gemeinschaft eingeführt. Unter dem Druck des Zusammenbruchs von Jugoslawien wurde diese Idee in der breiteren Öffentlichkeit zunehmend gefordert, doch zugleich stieß die agierende Politik in den Mitgliedstaaten an die Grenzen ihrer Kooperationsbereitschaft: Zu weit lagen die Vorstellungen über die künftige Gestalt des jugoslawischen Raums zwischen Briten, Franzosen, Deutschen und Italienern auseinander. Mit dem Vertrag von Amsterdam 1999 wurde das Amt eines Hohen Beauftragten für die gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik installiert. Der erste Amtsinhaber war der ehemalige NATO-Generalsekretär Javier Solana.
Bis der Vertrag von Lissabon im Dezember 2009 in Kraft trat, hatte sich die Europäische Union schon in 21 militärischen und polizeilichen Missionen rund um den Globus engagiert. Die breitere Öffentlichkeit nahm davon faktisch ebenso wenig Kenntnis wie von der Arbeit der seit 2010 amtierenden Hohen Beauftragten Catherine Ashton, den Europäischen Außenpolitischen Dienst aufzubauen. Seit 2009 tagen die Außenminister der EU immer unter der Leitung des Hohen Beauftragten, der auch die Tagesordnung festlegt. Die EU verfügt über ein Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee, ein Militärisches Komitee, einen Militärstab und ein EU-Operationszentrum.
Insgesamt werden nach Beendigung der noch immer laufenden Aufbauarbeiten 7000 Menschen für den Europäischen Außenpolitischen Dienst arbeiten, das sind nicht weniger als in den großen Außenministerien in London, Paris oder Berlin tätig sind. Siebzig Prozent des Personals werden aus dem bisherigen und aufgestockten Personal der Europäischen Kommission und des Europäischen Rates in Brüssel gebildet, dreißig Prozent der Mitarbeiter sind nationale Diplomaten, die von den EU-Mitgliedstaaten entsandt werden. Die EU verfügt heute in so gut wie jedem Land der Erde über eine Delegation, faktisch die jeweilige Botschaft der Union. Diese globale Präsenz der EU ist nicht gering zu schätzen, denn viele, zumal der kleineren Mitgliedsländer verfügen überhaupt nicht über eine eigene Botschaft in den meisten Staaten der Erde außerhalb der Großmächte.
Gründe zur Unzufriedenheit
Neben dieser globalen Präsenz hat sich die EU mit einer Kaskade von Papieren als außenpolitischer Akteur positioniert. Besonders hervorzuheben sind die Europäische Sicherheitsstrategie von 2003 und eine Reihe von Strategischen Partnerschaften. Unterdessen gibt es zu viele und inhaltlich zu unbestimmte Perspektiverklärungen für die Beziehungen der EU mit ihren wichtigsten regionalen und bilateralen Partnern.Soweit die Faktenlage, die eine beachtliche Entwicklung des außen- und sicherheitspolitischen Profils der Europäischen Union in über vier Jahrzehnten zeigt. Gleichwohl gibt es allen Grund zur Unzufriedenheit mit dem Erreichten. Denn der Aufbau außenpolitischer Kapazitäten vollzog sich im Schatten der ökonomischen und politischen Einigung der EU und hielt mit der Logik dieser Einigung bisher nicht Schritt.
So verfügt die Europäische Union noch immer nicht über eine gemeinsame strategische außen- und sicherheitspolitische Kultur, unter Einbezug aller Fragen aus dem Bereich der weltwirtschaftlichen Handelsbeziehungen und der Entwicklungspolitik. Es fehlt auf der EU-Ebene und im Verbund über alle EU-Mitgliedsstaaten hinweg an einer kompetenten und interessierten Beteiligung der europäischen Bürger, aber auch der europäischen Wissenschaftler, Wirtschaftsexperten und Publizisten in außen- und sicherheitspolitischen Fragen, die den Diskussionen im Europäischen Parlament und vor allem den vielen exekutiven Aktivitäten im Bereich der Europäischen Kommission und des EU-Ministerrates ein öffentliches Gesicht geben und öffentliche Rechenschaftspflicht für das, was angestrebt wird und über das, was tatsächlich erreicht wurde, einfordern würden. Thematisch zerfallen die so oft miteinander verwobenen Diskussionen und Entscheidungsprozesse. Dies geschieht auf Kosten von Profil und Stimmigkeit.
Die Europäische Union verfügt im exekutiven Bereich über Kompetenzen und Instrumente einer gemeinsamen, aber nicht über Kompetenzen und Instrumente einer einheitlichen Außen- und Sicherheitspolitik. Faktisch macht es enorme Mühen, die unterschiedlichen nationalen Interessen und Prioritäten zu einer von allen EU-Mitgliedsstaaten und den EU-Organen gemeinsam vertretenen Position zu verknüpfen. Die Erarbeitung einer solchen gemeinsamen Position zwingt regelmäßig zu einem komplexen Koordinations- und Kompromissfindungsbedarf, der von der Öffentlichkeit dann rasch als zeitraubendes Gezerre und übertriebener Streit wahrgenommen wird. In Reaktion auf außen- und sicherheitspolitische Situationen – die häufig genug krisenhafter Natur sind und schnelle Reaktionen erfordern – erscheint die EU fast zwangsläufig als langsam und bürokratisch.
Schritte zur Gemeinsamkeit
Was ist zu tun, um diese Ausgangslage zu verbessern und dazu beizutragen, dass die EU nicht nur mit einer Stimme spricht, sondern auch aus einem Geist denkt und aus einem Guss handelt? Konzeptionell geht es um die weitere Entwicklung einer außen- und sicherheitspolitischen Kultur in der EU, die Fragen der weltwirtschaftlichen Entwicklung ebenso einbezieht wie traditionell entwicklungspolitische Aspekte. Die EU muss auf allen institutionellen Ebenen und in allen gesellschaftlichen Kreisen, die sich für diese Themen interessiert, eine Diskussionskultur entwickeln, die weltfähig ist. Denn nur in der Verknüpfung der diversen Aspekte und Ansätze lassen sich die Herausforderungen, aber auch die Chancen einer globalen Rolle der EU verstehen und angemessene Handlungsstrategien entwickeln.Institutionell muss die EU weiter voranschreiten auf dem Weg zu einer einheitlichen außen –und sicherheitspolitischen Vertretung. Es bedarf eines EU-Außenministers und eines EU-Verteidigungsministers, deren Handeln nicht immer wieder durch ihre nationalen Kollegen unterlaufen oder gebremst werden kann. Das zu erreichen, wird ein langer Weg bleiben. Die EU muss dazu auch die Rahmenbedingungen einer solchen Entwicklung im Auge haben, von den Erfordernissen eines EU- Nachrichtendienstes bis hin zur gemeinsamen Rüstungsgüterproduktion und Rüstungsexportpolitik.
Grenzen der Wirksamkeit
Geistig-strategisch wird die EU sich eingestehen müssen, dass es Grenzen des Exports der europäischen Normen und Standards gibt, wenn dieser freiwillig und in Respekt vor der Andersartigkeit anderer Völker stattfinden soll. Wenngleich die meisten Staaten und Völker der Erde sich vorwärts entwickeln und darin modernisieren wollen, ist die EU auch damit konfrontiert, dass bestimmte Gesellschaften und Staatsführungen offenbar eher zurück zu vertrauten Ursprüngen und Identitäten gehen möchten.Die beste Basis für eine in sich glaubwürdige und überzeugende, langfristig wirkungsvolle und anerkannte Außen- und Sicherheitspolitik besteht in einer starken und bestmöglich integrierten Europäischen Union. Im Innern wird entschieden, was nach außen möglich ist. Die Europäische Union ist in erster Linie stark als ein magnetischer Kern, dessen Freiheit und Wohlergehen Menschen in aller Welt, aber auch ganze Gesellschaften und Staaten anzieht. Denn die EU ist politischer Ausdruck der Idee der Freiheit. Deshalb muss der Gebrauch der Freiheit in der EU so verantwortungsvoll geschehen, dass Glaubwürdigkeit und Strahlkraft des europäischen Gesellschaftsmodells nicht geschwächt werden. Die EU ist nur begrenzt in der Lage, die Bedingungen ihrer inneren Stabilität unmittelbar in alle Welt gleichermaßen zu exportieren. Deshalb wird der Aufbau eines noch so einheitlichen europäischen außen- und sicherheitspolitischen Profils auch immer wieder an die Grenzen der globalen Realpolitik stoßen.
Aus dem gleichen Grund aber auch darf die EU sich nicht dazu provozieren lassen, die rechtswidrigen, freiheitsfeindlichen und friedensgefährdenden Aktivitäten Russlands, die mit so urplötzlicher Macht die Weltpolitik in ihren Bann genommen haben, mit gleicher Münze heimzuzahlen. Denn die EU ist Achtung vor dem Recht. Langfristig geht es um das Bild vom Menschen, das eine bessere Zukunft hat: das Menschenbild der Freiheit oder das Menschenbild des Zynismus. Es kann kein Zweifel bestehen, wer nicht nur im Recht, sondern langfristig auch erfolgreich sein wird.
Prof. Dr. Ludger Kühnhardt ist Direktor am Zentrum für Europäische Ingtegrationsforschung (ZEI) der Universität Bonn. 2010 erschien „Europa: Innere Verfassung und Wende zur Welt. Standortbestimmung der Europäischen Union“ (Nomos).
www.uni-bonn.de
Hintergrund: Frieden und Konfliktprävention
Frieden und Völkerverständigung gehören seit jeher zum Kernanliegen Rotarys.