Titelthema
Das Herz und Hirn von Europa
Immer noch wird das kleine Litauen von vielen Westeuropäern nicht ganz ernst genommen, insbesondere politisch. Das muss sich dringend ändern.
„Litauen? Oder ist das Lettland? Jedenfalls eines dieser winzigen Ex-Sowjet-Länder. Die Sprache? Kauderwelsch. Egal, was wissen wir schon, oder was kümmert es uns? Es muss primitiv sein, arm, exotisch. Paranoid gegenüber Russland. Und antisemitisch, wie all diese östlichen Orte. Kurzum: Schlamm- und Wodka-Land – Volkstanz bis Schoßtanz in einer Generation.“
Dies sind nur einige der Stereotype, mit denen die Litauer in den letzten mehr als 30 Jahren zu kämpfen hatten. Westeuropäer, die niemals respektlos über afrikanische oder lateinamerikanische Länder sprechen oder denken würden, tun sich immer noch schwer damit, sich auf Orte zu konzentrieren, die weniger als eine Tagesfahrt von Berlin entfernt sind. Die Berliner Mauer mag gefallen sein. Aber sie bleibt in den Köpfen vieler Westeuropäer.
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Litauen ist mit nur drei Millionen Einwohnern eines der kleineren Länder Europas. Aber in diplomatischer Hinsicht ist es ein Kraftpaket. Es steht nicht nur an der Spitze der internationalen Reaktion auf die Krise im benachbarten Belarus. Litauen hat auch die Opposition gegen das Teilungs- und Herrschaftsprojekt der Kommunistischen Partei Chinas in Osteuropa angeführt, das sogenannte 17+1-Rahmenabkommen. Als der chinesische Staatschef Xi Jinping die 17 osteuropäischen Mitgliedsländer anwies, Präsidenten oder Premierminister zu seinem Gipfel im Februar zu schicken, sagte Litauen Nein, und fünf andere Länder folgten seinem Beispiel und schickten ebenfalls nur untergeordnete Figuren. Das war eine dramatische und effektive Brüskierung von Xi – der ein Land regiert, das 400-mal größer ist als Litauen. Seitdem hat sich die neue Regierung in Vilnius vollständig aus den 17+1 zurückgezogen. Sie hat auch parlamentarische Anhörungen abgehalten, um die Notlage der Uiguren hervorzuheben, und sagt, sie werde ein Büro in Taiwan eröffnen.
All dies ist nur für jene Außenstehenden überraschend, die mit Litauens jüngster – und weit zurückliegender – Geschichte nicht vertraut sind. Im März 1990 löste Litauens einseitige Entscheidung, die Wiederherstellung seiner Vorkriegsunabhängigkeit zu erklären, eine Lawine aus. Andere Länder unter der Herrschaft des Kremls – Ukrainer, Georgier, Moldawier, sogar Russen – strebten nach Selbstbestimmung. Das führte 18 Monate später zum Zusammenbruch der Sowjetunion.
Offen für belarussische Opposition
1863 erhoben sich Litauer zusammen mit Polen und Weißrussen gegen die brutale, rückständige Herrschaft der russischen Zaren. Dieser Aufstand scheiterte. Aber das Staatsbegräbnis, das die litauischen Behörden 2019 für die neu entdeckten Überreste eines ihrer Anführer, Konstantin Kalinowski, gaben, führte zu einem weiteren Erdbeben. Die Zeremonie katalysierte die belarussische Nostalgie für die verpassten Chancen des Landes in der Vergangenheit und legte den
Grundstein für die prodemokratische Bewegung, die jetzt so brutal vom Regime in Minsk unterdrückt wird. Vilnius ist heute die Heimat der belarussischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja und vieler ihrer engsten Vertrauten.
Die Gastfreundschaft und Sympathie der Litauer für ihre weißrussischen Nachbarn ist geprägt von ihren eigenen Traumata während der nationalsozialistischen und sowjetischen Besatzung. Politiker wie Juozas Olekas, der ehemalige Verteidigungsminister, und Vytenis Andriukaitis, bis vor Kurzem EU-Kommissar, wurden in Sibirien geboren, weil ihre Eltern von Stalin dorthin deportiert wurden. Viele Litauer starben dort oder im verhängnisvollen „Krieg in den Wäldern“ der Nachkriegspartisanen, die bis in die 1960er Jahre Widerstand gegen die sowjetische Besatzung leisteten.
Die Gabe, Russland zu verstehen
Aber die Litauer erinnern sich auch an die glorreichere Vergangenheit ihres Landes: die Ära des Großfürstentums Litauen und der Polnisch-Litauischen Gemeinschaft, die im 13. Jahrhundert begann und erst mit der endgültigen Teilung Polens im Jahr 1795 endete. In seiner Blütezeit reichte dieser bahnbrechende Superstaat von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Sein Erbe: Wenn es um Geopolitik geht, denken die Litauer instinktiv groß und handeln entsprechend.
Litauens Kühnheit fällt umso mehr auf, wenn man das Versagen der Führung in anderen europäischen Ländern bedenkt. Es sollte nicht ungewöhnlich sein, eine stabile Koalitionsregierung mit einer klaren außenpolitischen Vision und einigen wortgewandten, effektiven Leuten zu haben, die sie führen. Aber versuchen Sie einmal, ein anderes europäisches Land zu finden, das diese Kriterien wirklich erfüllt.
Vielleicht noch mehr als die Esten und Letten haben die Litauer ein tiefes Verständnis für ihren großen Nachbarn Russland. Sie haben die Gabe, die Absichten der Kreml-Entscheidungsträger zu lesen, obwohl ihre Ratschläge an westliche Politiker allzu oft ignoriert werden. Vilnius ist eine zweite Heimat für russische Dissidenten im Exil, während ein Zentrum in der zweitgrößten Stadt des Landes, Kaunas, die Bibliothek und das Vermächtnis des großen Andrei Sacharow in Ehren hält. Die Europäische Humanistische Universität in Vilnius bietet denjenigen, die in ihrer Heimat nicht frei studieren können, eine geisteswissenschaftliche Ausbildung in russischer und weißrussischer Sprache.
Das literarische Erbe Litauens umfasst Schriftsteller in Weißrussisch, Polnisch, Jiddisch und Russisch sowie Litauisch – eine der philologisch interessantesten Sprachen Europas, mit Verbindungen zu Sanskrit, Altgriechisch und Latein. Polens zwei führende Dichter, Czesław Miłosz und Adam Mickiewicz, hatten tiefe Bindungen zu Litauen. Das architektonische Erbe in Vilnius (polnischer Barock) und Klaipėda (deutsch, was seine Vergangenheit als Hafenstadt Memel widerspiegelt) ist ebenfalls ein Beispiel für das multikulturelle Erbe des Landes. Heidnische Einflüsse – Litauen war das letzte Land in Europa, das christianisiert wurde – finden sich in der bildenden Kunst wieder. Die Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla gehört zu der neuen Generation von litauischen Musikern, die internationale Anerkennung gefunden hat.
Kulturell gesehen liegt Litauen also mitten im europäischen Mainstream: exotisch nur für die provinziellsten Westeuropäer. Einer der sechs Orte, die für sich in Anspruch nehmen, das geografische Zentrum Europas zu sein, liegt in Litauen (die anderen liegen in Weißrussland, Estland, Ungarn, der Slowakei und der Ukraine).
In geostrategischer Hinsicht ist Litauen jedoch ein Frontstaat. Die Nato legt großen Wert auf die Verteidigung des engen Suwałki-Korridors zu Polen. Die Glaubwürdigkeit der Nato steht in Litauen auf dem Spiel. Die Einheimischen wissen das. Sie hoffen, dass andere Länder das auch wissen.
Gemessen an den turbulenten Ereignissen der jüngeren Geschichte der Region hat Litauen jedoch noch nie stärkere Bündnisse und eine bessere Sicherheit gehabt. Die Litauer betonen lieber die Normalität und das Potenzial ihres Landes als die Risiken, die im Falle einer Ost-West-Krise bestehen. Sie betonen selbstbewusst, dass Litauen nicht nur ein Konsument von Sicherheit ist. Es bietet sie auch an. Andere Länder könnten viel von Litauens hoch entwickeltem System zur Bekämpfung von Desinformation lernen.
Weder winzig noch weit im Osten
Klischees und Stereotype trüben immer noch die Wahrnehmung vieler Menschen im Westen. 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist es höchste Zeit, die veraltete und pejorative Bezeichnung „ex-sowjetisch“ in den Ruhestand zu schicken. Wir bezeichnen auch Spanien oder Portugal nicht als „ex-faschistisch“. Das Etikett „winzig“ ist ebenfalls fehl am Platz. Sri Lanka hat die gleiche Landfläche wie Litauen. Jamaika hat die gleiche Bevölkerungszahl. Wir verspotten sie nicht als Zwerge. Litauen wirkt winzig nur im Vergleich mit Riesen wie Russland oder Deutschland.
Wir könnten uns auch die Mühe machen, litauische Namen richtig auszusprechen und zu buchstabieren. Wir können mit der Premierministerin beginnen. Ihr Name ist Ingrida Šimonytė – ausgesprochen Schi-mon-i-ti, nicht Simon-ite. Die Deutschen mögen es, wenn sich Ausländer ihren Umlaut merken, so wie die Franzosen Wert legen auf ihren Zirkumflex.
Generell sollten wir das Entweder-oder-Denken ablegen, das Länder in die Schubladen West oder Ost, Nord oder Süd steckt. Die faulen Kategorien der Vergangenheit sind keine Wegweiser für die Zukunft. Die Litauer verstehen das. Es ist höchste Zeit, dass andere folgen.
Edward Lucas ist Experte für Energie-, Geheimdienst- und Cybersicherheitsfragen. Er beschäftigt sich seit rund 30 Jahren mit Mittel- und Osteuropa. Er war leitender Redakteur bei The Economist und ist jetzt als Redner, freier Autor und am Center for European Policy Analysis (CEPA) tätig.
© cepa.org
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